Bei dem 2006 ins Leben gerufenen Onlineportal IMSLP (International Music Score Library Project) handelt es sich um eine Art Noten-Wikipedia für Interpret*innen. Über 350.000 Notendateien von über 14.000 Komponist*innen und rund 40.000 Aufnahmen sind derzeit kostenfrei abrufbar, allerdings nur gemeinfreie Musik, also solche von Urheber*innen, die seit mindestens 70 Jahren tot sind. Es hat schon Musikstudent*innen gegeben, die beispielsweise von Richard-Strauss-Liedern behaupteten: »Diese Noten gibt es nicht!« Gemeint war: »Diese Noten gibt es bei IMSLP nicht!« Es scheint selbstverständlich geworden zu sein, für Noten nichts mehr bezahlen zu müssen.Bei dem Bekanntheitsgrad der Webseite ist es erstaunlich, dass es überhaupt keine Berichte, Interviews und Artikel über IMSLP im Netz gibt. VAN hat mit dem Gründer und Erfinder des Projekts, dem US-Amerikaner Edward Guo gesprochen und mit dem Justitiar des Bärenreiter-Verlags Thomas Tietze die Gegenseite beleuchtet.
Gespräch mit Edward Guo, Gründer von IMSLP
VAN: Edward, wie kam es zu dem Projekt IMSLP?
Edward Guo: Angefangen habe ich im Januar 2006. Da studierte ich gerade im zweiten Jahr Komposition am New England Conservatory of Music in Boston. Ich hatte einfach viel Freizeit und wollte etwas Neues machen. Auf die Idee, kostenlose Noten ins Netz zu stellen, kam ich, da ich als Kind in Shanghai immer nach Noten gesucht hatte, aber diese selbst in großen Buchhandlungen nicht finden konnte. Das war 1999. Und schon damals dachte ich, ich müsste etwas tun, das den Leuten dabei hilft, einen leichten Zugang zu Partituren zu bekommen, für welchen Zweck auch immer.
Während meines Studiums hatte ich einen Freund, der Informatik studierte. Ich konnte ihn überzeugen, basierend auf dem Konzept von Wikipedia eine Webseite zu erstellen. Nach ein paar Tagen wurde ihm aber langweilig und er ließ mir eine unfertige Seite zurück. Ich wollte das Projekt aber trotzdem unbedingt weiter verfolgen und lernte dann eben in sehr kurzer Zeit, wie man Internetseiten programmiert. Die erste IMSLP-Version brauchte zwei Wochen bis zur Fertigstellung und ging dann am 16. Februar 2006 online. Diese Versionen waren übrigens sehr hässlich.
In den ersten Tagen lud ich ein paar Noten hoch, die ich auf anderen Seiten gefunden hatte. Gleichzeitig scannte ich selber Noten ein. Zuallererst sämtliche Klaviersonaten Beethovens. Die Datei mit dem Titel »#00001« war also Beethovens erste Klaviersonate, die Sonate f-Moll op. 2 No. 1. Dann setzte ich Links bei Wikipedia, die zu IMSLP führten. Das Projekt wuchs sehr schnell heran, viel schneller als ich gedacht hatte.
Du hast also Komposition studiert. Beherrschst du selber auch Instrumente?
Ja, Klavier und Geige. Beides leider ziemlich schlecht.
Was genau ist deine aktuelle Funktion bei IMSLP?
Meine offizielle Funktion ist die des Geschäftsführers des Unternehmens Project Petrucci LLC, das hinter IMSLP steckt. Momentan kümmere ich mich vor allem um einige Projekte, die wir vorantreiben wollen und schaue, dass alles reibungslos läuft.

Wie viele Leute werden bei IMSLP für ihre Arbeit bezahlt?
Ungefähr 25 Leute.
Und wie viele arbeiten kostenlos?
Das kommt darauf an, was du unter ›arbeiten‹ verstehst. Es gibt etwa 25 Leute zusätzlich, die sich regelmäßig für IMSLP engagieren. Die Webseite funktioniert ja genauso wie Wikipedia, deshalb kann man die genaue Zahl der Beteiligten nicht ganz genau angeben.
Kannst du verstehen, dass manche Menschen euer Projekt kritisch betrachten?
Die größte Skepsis kommt natürlich, was mich nicht überrascht, von den Musikverlagen, die zu Beginn eine komplizierte Beziehung zu IMSLP hatten. Manche Musikverlage wiederum stört IMSLP dagegen nicht. Im Gegenteil, die nutzen IMSLP sogar für eigene Recherchen. Als das Projekt online ging, gab es eine ganze Reihe von Verlagen, die IMSLP am liebsten gleich hätten wieder verschwinden sehen, so beispielsweise die Universal Edition. Aber selbst die, die am Anfang noch kritisch waren, akzeptieren IMSLP inzwischen als einen Teil der klassischen Musikwelt. Wir hatten jetzt seit einiger Zeit keine Beschwerden mehr von Verlagen.
Gibt es bei euch auch Juristen, die sich ausschließlich um die Rechtslage kümmern?
Ja, eben genau wegen des Vorfalls mit der Universal Edition habe ich noch Jura studiert und auch fünf Jahre lang als Anwalt gearbeitet. Außerdem haben wir ein Team im Hintergrund, das alle neu hochgeladenen Noten auf mögliche Copyright-Probleme hin checkt, beaufsichtigt von einem der ersten IMSLP-Mitgestalter, der sich extrem gut in Sachen Urheberrecht auskennt.
Seit etwa zwei Jahren muss man, wenn man keinen bezahlten account hat, 15 Sekunden vor dem Download warten. Was gab es da für Reaktionen?
Da gab es zuerst zwei Meinungslager. Aber dann haben die Leute schnell verstanden, wie wichtig Geld für das Überleben und den Erfolg des Projekts ist. Jetzt, zwei Jahre nach dieser Entscheidung, finde ich diese Umstellung immer noch total richtig. Wir konnten so ein paar Projekte auf den Weg bringen, unter anderem ein komplettes Redesign der Internetseite und einen Zugang zur Naxos Music Library für alle Mitglieder. Darüber hinaus planen wir derzeit weitere neue und aufregende Projekte. All das wäre ohne das Account-Modell undenkbar gewesen.
Hattet ihr also seit der Bezahl-Funktion nicht weniger Zugriffe auf eure Webseite?
Die User schauen jetzt vielleicht etwas genauer, was sie herunterladen wollen. Aber einen großen Einbruch bei den Zugriffszahlen gab es nicht, nein.
Es gibt bei euch ja nicht nur Noten, sondern auch rund 40.000 Aufnahmen, die regelmäßig auf IMSLP hochgeladen werden. Kontrolliert eigentlich jemand die Qualität dieser Aufnahmen?
Ja. Und im Laufe unseres aktuellen Projekts kommt bald noch einmal eine große Anzahl hochqualitativer Aufnahmen dazu. Das ist dann der erste Schritt dahin, dass das Audiofile-Archiv letztlich genauso groß wie das pdf-Archiv wird.

Gespräch mit Thomas Tietze, Justitiar beim Bärenreiter-Verlag
VAN: Herr Tietze, beschreiben Sie doch einmal Ihre Tätigkeit beim Bärenreiter-Verlag.
Thomas Tietze: Ich bin hier Justitiar und Syndikusrechtsanwalt. Ich kümmere mich um sämtliche juristische Belange der Bärenreiter-Verlagsgruppe. Es geht um Verträge, um rechtliche Fragen aller Art, wie etwa die Verfolgung von Rechtsverletzungen.
Anfang 2006 ging das Projekt IMSLP online. Weit über 350.000 Notendateien sind dort frei verfügbar. Wie finden Sie das grundsätzlich?
Tatsächlich ist es so, dass Notenverlage im 21. Jahrhundert angekommen sind. Von den neuen Entwicklungen werden wir also nicht überrascht. Die Digitalisierung von Noten wird sicherlich auch nicht die letzte technische Entwicklung gewesen sein, mit der wir mithalten müssen. Generell ist es so, dass ein Projekt wie IMSLP unser Geschäftsmodell im Grunde nicht untergräbt. Wir bieten gute Noten, wissenschaftliche Ausgaben mit kritischen Berichten an. So gesehen sind das zwei völlig unterschiedliche Geschäftsmodelle, zwei ganz verschiedene Märkte, mit denen wir es zu tun haben. Gerade ein Verlag wie Bärenreiter, der fast ausschließlich wissenschaftliche Editionen erstellt, braucht ein Projekt wie IMSLP nicht zu fürchten. Im Gegenteil. Wir hören auch häufig, dass sich jemand bei IMSLP Noten angeschaut hat, aber dann natürlich eine richtige und aktuelle wissenschaftliche Ausgabe nutzen möchte und nicht eines der alten Reprints, die es ja dort überwiegend gibt.
Ich habe schon von Musikstudent*innen gehört, die von einem Werk behaupten, dass es davon keine Noten gäbe. Gemeint ist: Die betreffenden Noten gibt es nicht bei IMSLP. Wie positionieren sie sich als Verlag, um die Vorzüge von gedruckten, gebundenen und mit einem kritischen Bericht versehenen Noten herauszustellen?
Jeder, der wirklich professionell im Musikbereich arbeitet, sollte wissen, worin der Unterschied liegt zwischen den kostenlosen IMSLP-Noten und denen, die es beispielsweise bei uns gibt. Mit einer Ausgabe von uns bekommen Sie eben den neuesten wissenschaftlichen Stand mitgeliefert. Sie bekommen dazu einen kritischen Bericht und Hintergründe über die Aufführungspraxis und damit ein Paket, für das man auch einen gewissen Preis zahlen muss. Und vor allem haben Sie keine Loseblattsammlung, sondern eine ordentliche Ausgabe mit einem hervorragenden äußeren Erscheinungsbild. Bei Laien mag es manchmal anders sein. Die können auch eine alte Ausgabe aus dem letzten oder vorletzten Jahrhundert verwenden und sich das entsprechend bei IMSLP holen.

Ich habe allerdings schon berühmte Musiker von einem Tablet spielen sehen, so beispielsweise den Geiger Daniel Hope, der bei seiner Interpretation von Edward Elgars Violinkonzert bei einem Auftritt im Konzerthaus Berlin sein iPad verwendete. Und es gibt ja diese Modelle bei Büchern, die man als gedruckte Ausgabe online erwerben kann, dazu aber auch die Ausgabe für ein digitales Endgerät geschickt bekommt. Kommt so etwas nicht auch für Musikverlage infrage?
Ja, solche Überlegungen gibt es. Ob das jetzt mit dieser Dopplung von digitaler und gedruckter Fassung funktioniert, das können wir jetzt noch nicht sagen. Einige Verlage haben inzwischen eigene Apps, auch unser Verlag, aber auch Henle und Schott. Damit können Sie Noten auf Ihr iPad laden. Außerdem gibt es mehrere Start-ups, die sich der Frage des Live-Spielens mit Hilfe digitaler Ausgaben widmen. Da gibt es schon sehr weit entwickelte Software. Es fehlt noch ein wenig an der Hardware, denn der Bildschirm des kleinen iPads ist sicherlich für Konzerte nicht ausreichend. Mag sein, dass es für einen einzelnen Geiger, der das Tablet auf seinem Pult hat, genügt. Von der Größe her muss man jedoch mindestens ein iPad Pro haben, eigentlich sollte es noch größer sein. Für Orchester reicht das einfach nicht aus bisher.
Wenn man in das Suchfeld von IMSLP ›Bärenreiter‹ eintippt, gibt es derzeit 1.111 Ergebnisse. Also sind viele Noten vom Bärenreiter-Verlag dabei. Auch, wenn die Arbeit an diesen gesetzten Partituren schon lange her ist, trotzdem steckt ja doch eine Leistung dahinter…
Ja, schön finden wir das nicht. So geht es allen Verlagen. Es ist aber so, dass IMSLP tatsächlich sehr darauf achtet, die entsprechenden Gesetze zu beachten. Wir haben in Deutschland ja ein Gesetz, nach dem wissenschaftliche Ausgaben bis 25 Jahre nach Erscheinen geschützt sind, unabhängig davon, ob die Komponisten schon 70 Jahre tot sind. IMSLP achtet durchaus darauf, dass diese Ausgaben nicht auf deren Plattform erscheinen. Wenn so etwas passiert, dann nimmt IMSLP diese Noten wieder runter. Allerdings besteht bei älteren Ausgaben von Musik, die nicht mehr urheberrechtlich geschützt ist, ein so genannter wettbewerbsrechtlicher Schutz. Das wird von IMSLP ab und zu leider ignoriert. Manchmal werden solche Noten dann gedruckt, gebunden und verkauft. Da arbeiten wir natürlich gegen und werden entsprechende rechtliche Schritte ergreifen.
Im Oktober 2007 musste die IMSLP-Seite aufgrund einer Unterlassungsaufforderung der Universal Edition Wien offline gehen. Seit Juni 2008 geht es nun ungebrochen weiter. Haben Sie auch schon einmal in Erwägung gezogen, rechtlich gegen das Projekt vorzugehen?
Diesen Schritt sind wir noch nicht gegangen. Wir haben nur einzelne Hinweise gegeben, die aber auch beachtet wurden, was dann zur Folge hatte, dass bestimmte Noten bei IMSLP nicht mehr auftauchten. Wir behalten uns das natürlich vor, falls es einmal nötig sein sollte. Wir können aber natürlich nicht täglich sichten, was dort alles hochgeladen wird, verfolgen das aber letztlich schon genau.
Gab es denn schon einmal die IDee, mit den Leuten von IMSLP zusammenzuarbeiten?
Ich erinnere mich, dass das vor Jahren mal Thema war, aber das ist dann offensichtlich nicht weiter gediehen, sonst hätte ich davon erfahren. Wir versprechen uns davon auch einfach nicht sehr viel. Natürlich hat IMSLP den Vorzug, dass man schnell schauen kann, was es dort gibt. Mögliche Vorteile für Verlage gibt es aber dadurch nicht. ¶