Würde man diese Art von »Rechnung« aufmachen, dann käme Fanny Hensel in der »Rangliste der bekanntesten E-Musik-Komponistinnen aller Zeiten« hinter Clara Schumann und Hildegard von Bingen wahrscheinlich auf den dritten Platz. Am vergangenen Samstag jährte sich ihr Todestag zum 175. Mal. Doch Informationen über Fanny Hensel und Aufführungen ihrer Musik begegnen wir meist nur immer dann, wenn es gilt, in kleinen Konzertsälen, Galerien oder anderen kammermusikadäquaten Behausungen »Konzerte mit Lesung« zu rezipieren: »Fanny und Felix«, »Felix und Fanny«. Auch besagte Clara Schumann erfährt gerne posthum die »Ehre«, in Zitaten aus ihren Briefen an Ehemann Robert aufzutauchen. Fast nie erklingen Werke von Clara Schumann und Fanny Hensel ohne ihre jeweilige »familiäre Zutat«.

Fanny Hensel stammte aus der Verwandtschaftslinie des großen Dessauer Philosophen Moses Mendelssohn (1729–1786): ein Streiter für die gesellschaftliche Gleichberechtigung von Menschen jüdischen Glaubens. Moses Mendelssohns Enkelin Fanny kam am 14. November 1805 in Hamburg auf die Welt. Ihre Geschwister waren Felix (1809–1847), Rebecka (1811–1858) und Paul Mendelssohn (1812–1874). Fannys Eltern – Mutter Lea (1777–1842) und Vater Abraham (1776–1835), ein erfolgreicher Bankier – zogen 1812 nach Berlin. Man wollte in Preußen heimisch werden, obwohl Vater Abraham eigentlich »[…] eine Vorliebe für Frankreich hegte […]«, so Ute Büchter-Römer in ihrer Fanny-Mendelssohn-Hensel-Biographie. 1816 ließ Abraham Mendelssohn seine Kinder protestantisch taufen. Die Ideale der Aufklärung standen bei der Erziehung der Kinder im Vordergrund; man verlangte aber auch Unterordnung und Gehorsam. Fannys Bruder Felix wurde früh als Pianist und Komponist bekannt. Abraham Mendelssohns sah aber nun keineswegs vor, dass die musikalisch begabte Fanny ebenfalls eine solche Laufbahn einschlagen durfte. Fannys Vater schrieb der Fünfzehnjährigen: »Was Du mir über Dein musikalisches Treiben im Verhältnis zu Felix in einem Deiner früheren Briefe geschrieben, war ebenso wohl gedacht als ausgedrückt. Die Musik wird für ihn vielleicht Beruf, während sie für Dich stets nur Zierde, niemals Grundbass Deines Seines und Tuns werden kann und soll.«

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Mutter Lea unterrichtete die Kinder nicht nur in Deutsch, Literatur und Kunst. Bei ihr erfolgten auch die jeweils ersten Unterweisungen im Klavierspiel. Der Berliner-Singakademie-Leiter Carl Friedrich Zelter (1758–1832) unterrichtete die jungen Mendelssohns in Theorie und Komposition und brachte ihnen die Klaviermusik von Beethoven nahe. Mit 13 Jahren konnte Fanny alle 24 Präludien und Fugen des ersten Bandes von Bachs Wohltemperierten Clavier auswendig vortragen. Erstaunlich genug. Später kamen die Kinder auch mit Goethe in persönlichen Kontakt. Goethe mochte Fanny und widmete ihr 1827 ein Gedicht, das diese prompt vertonte. Grundsätzlich war Goethe jedoch sehr auf die Künste von Bruder Felix fixiert. Bei Fanny führte das – ebenfalls erstaunlich – aber keineswegs zu irgendeiner Art von Verbitterung. Die beiden Geschwister Fanny und Felix (Rebecka betätigte sich später als Salonnière, Bruder Paul wurde – wie der Vater – Bankkaufmann) pflegten ein inniges Verhältnis. Auch über die Heirat von Fanny hinaus. (Felix heiratete am 28. März 1837 die Französin Cécile Jeanrenaud.)

1822 begegnete Fanny Mendelssohn dem Mahler Wilhelm Hensel (1794–1861) zum ersten Mal. Fanny war 17, Wilhelm 28. Wilhelm Hensel kam aus der Mark Brandenburg, nahm in den 1810er Jahren an den Freiheitskriegen teil und liebte neben der Malerei auch die Dichtkunst. (Ein paar Gedichte aus seiner Feder vertonte Fanny später.) Beide verliebten sich. Zunächst »schützten« Fannys Eltern das Mädchen noch vor Hensel (aufgrund ihres noch jungen Alters); im Oktober 1828 gestattete man ihr aber schließlich, Wilhelm Hensel zu ehelichen. Hensel erwies sich zu Beginn der Ehejahre als durchaus eifersüchtiger Gatte, während Fanny sich in Briefen an ihn wiederholt für ihre »üblen Launen« entschuldigte. Am 3. Oktober 1829 erfolgte die offizielle Hochzeit. Man zog in die Leipziger Straße 3 in Berlin; in ein schönes, geräumiges Gartenhaus. Nach der Heirat begann Fanny Hensel, ihren Mann bei dessen künstlerischen Unternehmungen zu unterstützen. Am 16. Juni 1830 kam das einzige Kind des Paares zur Welt: Sebastian Hensel (1830–1898) wurde Gutsbesitzer und Landwirt. Fanny Hensel nahm am Berliner Kulturleben weiterhin rege teil, besuchte Ausstellungen und Konzerte. Außerdem reiste sie recht viel. Vor allem die große Italien-Exkursion 1839 (mit Mann und Sohn) blieb dabei in fester Erinnerung. Von Venedig schwärmte sie – und in Rom wurde sie überdies als Pianistin und Komponistin mit einiger Anerkennung bedacht.

Doch, so Autorin Cornelia Bartsch, die Freude über inspirierende Reisen, die sich auch immer wieder kompositorisch fruchtbar niederschlugen, währte nur ein paar Monate: »So erfüllend die Zeit in Italien und insbesondere der mehrmonatige Aufenthalt in Rom für Fanny Hensel war, so ernüchternd war die Rückkehr nach Berlin im September 1840.« Denn Berlin war zu dieser Zeit kulturell weder besonders fortschrittlich noch sonst sonderlich lebendig. Fanny Hensel notierte in diesen Monaten – als »Ergebnis« ihrer Italien-Reise – den wunderschönen Klavierzyklus Das Jahr, der 1841 publiziert wurde. Hensel, die sich »nebenbei« noch als Konzertorganisatorin und Dirigentin hervortat, suchte dabei in kompositionsästhetischen Belangen immer wieder Rat bei ihrem Bruder Felix. Doch so richtig zufrieden war Fanny Hensel mit ihrem künstlerischen Fortkommen nicht. 1843 hegte Bruder Felix den Wunsch, als Generalmusikdirektor in Berlin tätig zu werden. Doch als sich Felix‘ Pläne zerschlugen, verfiel Fanny, so Bartsch, »wieder in Resignation«, denn von diesem Karriereschritt hätte Hensel künstlerisch, netzwerkerisch profitieren können.

Am 14. Mai 1847 erlitt Hensel während der Probe der Kantate Die erste Walpurgisnacht op. 60 ihres Bruders in Berlin einen Schlaganfall – und starb noch am selben Abend. Ihr jüngerer Bruder Felix erlag im selben Jahr – am (für Robert Schumann programmatisch umgesetzten) 4. November 1847 – ebenfalls den Folgen eines Schlaganfalls. Felix wurde 38, Fanny 42 Jahre alt. Ein viel zu kurzes Leben.


Fanny Hensel (1805–1847)
Sonate für Klavier g-Moll (1843)

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Fanny Hensel schrieb viele Lieder, aber auch ein paar Kammermusikwerke, Klavier- und Orgelmusiken, Chorwerke und eine Ouvertüre für Orchester. 1843 kam es zur Niederschrift der Sonate für Klavier g-MollDer erste Satz (Allegro molto agitato) zeitigt dramatische Tremoli auf dem Grundton. Darüber klatschen vornehmlich verminderte Akkorde in die Höhe. Bald steigen zackige Punktierungsoktaven in den Keller; an Robert Schumann gemahnend, doch aufgelockerter, klarer, »reiner« (wenn man so will).

Im zweiten Satz (Scherzo) zeigt sich die ganze Originalität der Komponistin Fanny Hensel. Im – für ein Scherzo durchaus nicht alltäglichen – 6/8-Takt scheinen wir gefangen in einem Raum des Nachdenkens, des Nicht-von-der-Stelle-Kommens. Doch schon bald locken herrlichste Frühlingsklangstremoli in den Mittelstimmen in die Gefilde bebender Liebeserinnerungen der Jugend! Was für eine schöne Musik voller Glanz und reifer Unschuld.

Übergangslos geraten wir in den dritten Satz (Adagio) hinein; improvisatorisch vermittelt. Bald fallen melancholische Gondellied-Klänge herab. Hochromantische Klaviermusik at its best. Auch der vierte Satz (Finale. Presto) wird mit einer Mini-Improvisation eingeführt. Dann erklingt ein kontrapunktisch strukturiertes Thema, das nostalgisch und doch durchgehend von angestachelten 16teln aufgerieben wird. Gelassene Stimmung, amouröse Erinnerungen im Gefühlskontrapunkt mit echter Erregung und Emphase. Großartig! ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.

2 Antworten auf “140/250: Fanny Hensel“

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