Augusta Mary Anne Holmès wurde am 16. Dezember 1847 in Paris geboren, ungefähr sechs Wochen nach dem frühen Tode Felix Mendelssohn Bartholdys. Augustas Mutter Tryphena Anna Constance Augusta Shearer (1811–1858) stammte aus England und arbeitete als Schriftstellerin, Vater Charles William Scott Dalkeith Holmes (1798–1867), Ire, war Kavallerie-Offizier. Augustas Eltern führten noch den ursprünglichen Familiennamen ohne Hinzusetzung des Accent grave, das Augusta anlässlich ihrer französischen Einbürgerung 1871 in ihren Nachnamen aufnahm.
Augusta wuchs in Versailles auf und kam in den Genuss einer umfassenden Bildung; sie lernte unter anderem mehrere Sprachen. Mit zwölf Jahren, so heißt es, habe Augusta fließend Französisch, Englisch, Deutsch und Italienisch gesprochen. Zunächst war ihre durchaus kunstbeflissene Mutter, die in ihrer Freizeit dichtete und malte, skeptisch, was den Zusatz einer musikalischen Ausbildung anbelangte. Lediglich am Pianofort durfte Augusta unterrichtet werden; Klavierunterricht ließ man Mädchen damals gerne angedeihen, um der Familie die Möglichkeit zu geben, bei entsprechendem Talent der Tochter in gepflegten Bildungsbürger:innen-Salons hernach mit dieser Eindruck zu schinden.
Nachdem Mutter Holmès im Mai 1858 gestorben war, konnte Augusta ihre diversen musikalischen Fertigkeiten weitaus unbeschränkter entfesseln. Zu den Unterrichtsstunden am Klavier, zuerst von einer nicht weiter bekannten »Mademoiselle Peyronnet« erteilt, kamen Unterweisungen des Versailles-Organisten Henri Lambert. Von weitaus größerer Bedeutung ist Holmès’ Lehrer im Fach Instrumentation: Hyacinthe Klosé (1808–1880), der das zuvor von Flöten-Interpret und -Bauer Theobald Böhm für die Flöte entwickelte »Böhm-System« zusammen mit dem Instrumentenbauer Louis Auguste Buffet auf die Klarinette übertrug.
Daniel-François-Esprit Auber (1782–1871) leitete damals das berühmt-berüchtigte Pariser Konservatorium (die Arie Amour sacré de la patrie – Die heilige Vaterlandsliebe – aus Aubers Oper La muette de Portici – Die Stumme von Portici – hatte 1830 unmittelbare Unruhen in der Bevölkerung ausgelöst, die letztlich zur belgischen Revolution und zur Unabhängigkeit Belgiens von den Niederlanden führten.) Doch weder in der langen Direktoriumszeit Aubers (1842–1871) noch später war es Holmès erlaubt, dort ein reguläres Musikstudium aufzunehmen, denn als gebürtige Britin war ihr der Zugang zum Konservatorium per Gesetz verwehrt. Daher nahm sie privaten Kompositionsunterricht bei César Franck – und erregte bald, wie zu lesen ist, mit ihrer sonoren Altstimme und der Interpretation ihrer eigenen Lieder die Aufmerksamkeit von Charles Gounod und Camille Saint-Saëns. Von Saint-Saëns ist folgender – einerseits intellektuell degradierender, andererseits künstlerisch seltsam wertschätzender – Satz über die kompositorischen Fähigkeiten von Holmès überliefert: »Frauen haben, ähnlich wie Kinder, keinen Begriff von Grenzen oder Beschränkungen jedweder Art – und ihre Willensstärke überwindet eben jene Grenzen. Holmès ist eine Frau – und eine Extremistin.«
Als Pianistin spielte Holmès in den bedeutenden Salons von Paris und bereiste in dieser Funktion das Ausland. Mit dem oben zitierten – im Grunde doch wieder chauvinistischen – Satz von Saint-Saëns gehen bis heute Spekulationen über Holmès zugeschriebene Liebesaffären mit prominenten Persönlichkeiten wie Franz Liszt und Richard Wagner einher; ein typischer Schachzug der anekdotischen Populär-Musikgeschichtsschreibung: Eine sich durchsetzende Frau, die auf mehr oder weniger rein männlichem Terrain reüssiert, muss gleichzeitig die Geliebte von noch berühmteren Künstlern ihrer Zeit gewesen sein.
Holmès war nach dem Tode ihres Vaters durch dessen reiches Erbe wirtschaftlich abgesichert, weshalb sie auf eine Heirat finanziell nicht angewiesen war. Ab 1869 führte sie eine – nicht eheliche – Beziehung mit dem Dichter Catulle Mendès (1841–1909). Aus der Beziehung mit Mendès gingen in der Zeit von 1870 bis 1881 fünf Kinder hervor, von denen das Letzte (Mathian) jedoch bereits als Säugling verstarb. Zwischenzeitlich hatte sich Holmès im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 als Krankenschwester engagiert; ungefähr seit diesem Zeitpunkt konzentrierte sie sich, wie viele vormalige Interpretinnen, die beispielsweise wegen ihrer Mutterschaft (Holmès’ Kinder wuchsen jedoch mehrheitlich bei ihrem Vater auf) nicht mehr Tourneen unternehmen konnten, auf das Komponieren.
Augusta Holmès starb am 28. Januar 1903 im Alter von 56 Jahren an den Folgen einer Herzerkrankung.
Augusta Holmès (1847–1903)Andromède. Sinfonische Dichtung (1901) für Orchester
Ihre frühen Kompositionen hatte Holmès noch unter dem männlichen Pseudonym »Hermann Zenta« publiziert. Neben fast einem Dutzend Kantaten, wenigen Kammermusik- und Klavierwerken komponierte Holmès vor allem Lieder, Kantaten sowie drei Opern, von denen ihre (damals stilistisch nicht mehr gefragte) »Türkenoper« La Montagne noire 1895 offenbar beim Publikum durchfiel.
Eine ihrer sechs symphonischen Dichtungen – Andromède – entstand im Jahre 1901 und bezieht sich auf die äthiopische Prinzessin Andromeda, welche als Tochter der Kassiopeia, die sich dem Vorwurf der Hybris ausgesetzt sah, geopfert werden soll und – angebunden an einen Meeresfelsen – die amouröse Aufmerksamkeit von Perseus auf sich zieht.
Für ihre symphonische Dichtung schrieb Holmès ihr eigenes – sich in saftig-mythologischen Andromeda-Inbildern ergießendes – Gedicht aus elf jeweils vierzeiligen Strophen. Das Stück selbst hebt bedeutungsvoll mit einem schwerlastenden Motto der Posaunen – allein auf weiter (feuchter) Flur – an. Keine reine Heldinnen-Geschichte, sondern schon früh Verklärung und Brüchigkeit. Der letzte Ton der Posaunen geht über – beziehungsweise unter: in modriges, tief trillerndes Cello-Sumpfwasser. Den Gedichttext setzt Holmès gewissermaßen »1:1« in Musik um: Erst wird die Macht des Orakels – tönend aus den stählernen, ewigen Posaunen – beschworen (»L’Oracle a prononcé.«), dann geht es um den schicksalsträchtigen Urteilsspruch: »Das königliche Opfer, die blasse Andromeda, welche, an den Felsen der Bitterkeit von unbarmherzigen Händen der Meeresnymphen gebunden, dem Monster der Unterwelt als Futter dargeboten wird.« (»La royale victime, la blance Andromèda, liée au roc amer par les cruelles mains des Nymphes de la mer est livrée en pâture au Monstre de l’abime.«) Wieder ertönen die Stelen der Posaunen – doch münden sie dieses Mal in einen Dur-Akkord, der erneut unterspült wird; nicht nur ein bisschen Wagnersches Rheingold sickert genießerisch und hingebungsvoll durch; das Wasser als Bewahrer, als mitunter bedrohlicher Hüter von Schätzen sowie gleichsam zerstörerischer wie wieder reinwaschender Richter.
Nun nimmt die Musik Fahrt auf, ein synkopiertes, viel freundlicheres Hauptthema – das Leitmotiv der reinherzigen Jungfrau – peitscht den Orchesterapparat nach vorne, immer bewegt begleitet von schnellen, aufwärtsdrängenden Begleitketten. Das Motiv staut sich bald an sich selbst auf, wird kurz irre; da erhebt sich auch schon – wie angesichts der Fafnerschen Verteidigung von Tarnhelm, Ring und Geschmeide – ein bassiger Wurm und öffnet sein Maul (analog zum Text).
Holmès komponiert eine profunde, lebendige und abwechslungsreiche Orchestermusik, die in Sachen Instrumentation und Erzählkraft anderen (gläubigen) Post-Wagnerianer:innen in nichts nachsteht. Im Gegenteil. Die Partitur ist erfüllt von leuchtenden und dunklen Farben und dabei meisterinnenhaft dicht gearbeitet. Richtig gute Musik. ¶