Beim Konzert des Bayerischen Staatsorchesters, das zur Münchner Staatsoper gehört wie die Berliner Staatskapelle zur Lindenoper, gibt es vor Strauss’ Alpensinfonie noch zwei weitere Werke. Außerdem einige Minuten festliches Vorgeplänkel, was gar nicht pejorativ gemeint ist. Denn wie unsere Kulturministerin Claudia Roth, die immer ein bissl wirkt, als hätte sie sich gerade eine Fanta zu viel reingesprudelt, zum fünfhundertsten Geburtstag des BSO quirlig plaudert statt staatstragend zu salbadern, macht die einleitende Feierrede entschieden vergnüglicher. Schon im Voraus schwärmt sie, die Allgäuerin, von den zu erwartenden Kuhglocken (die bei Strauss ja auch allgäuhaft irdischer tönen als in einigen Mahlersinfonien, wo sie als kurioses Jenseits-Vehikel fungieren). Das Universale, weltweit Menschenverbindende der Musik allzu wohlfeil und ausgiebig zu lobpreisen, verkneift Roth sich. Das ist angemessen angesichts der allgemeinen Abgedroschenheit dieses Topos und auch angesichts der konkreten Tatsache, dass heute ein derart musikalisches Land wie Russland seinen Nachbarn mit Krieg und Terror überzieht. Angeboten hätte es sich aber doch, einen Bogen zu dem eröffnenden Werk zu ziehen, der dritten Sinfonie White Interment der 1962 geborenen ukrainischen Komponistin Victoria Vita Polevá. Der Dirigent Vladimir Jurowski, geboren in Moskau, programmiert seit über einem Jahr immer wieder ukrainische Werke, bewusst und als klares Statement, ohne dass das auf Kosten der musikalischen Qualität ginge. Überhaupt ist Jurowski ja nicht nur künstlerisch, sondern auch menschlich und politisch einer der stabilsten, aufrechtesten Typen im weiten Rund des Klassikzirkus, wie sich auch gerade beim Festival in Luzern zeigte:

Polevás White Interment beginnt licht und erinnert dann, mit ins Dunkle sinkendem Klang, durchaus an den Anfang der Alpensinfonie. Eine Zeitlang wirkt es wie etwas zwischen Lied von der Erde und Max Richter; aber die Hörwerte zumal im Live-Erlebnis sind eminent, starke Schwell- und Schwebklänge, von denen man sich gern tragen lässt. Im Grunde zelebriert Polevá die pure Potenz von Orchester, das ist lebens- und sinnenbejahend.

Was erst recht für Alban Bergs Violinkonzert gilt: das wahrscheinlich einzige Werk der Zwölftonmusik, bei dem ich regelmäßig flennen muss. Sofern es nicht gerade von einem oberflächlichen Lump abgefiedelt wird. Aber die Norwegerin Vilde Frang ist die unlumpischste Geigerin, die sich denken lässt: umsichtig klug und wundervoll klangzart. Ihr Ton ist innig, doch niemals schmalzig, und die volkstümlichen Anklänge auf dem dodekaphonen Tanzboden lässt sie schwingen, ohne zu biedern. Das ist von vorn bis hinten ergreifend, emotional und intellektuell, von den Gestelztheiten und der Lebensfülle des ersten Satzes bis zu Katastrophe, Verzweiflung, Bach-Trost und unerträglich schmerzvoller Erinnerung des zweiten. Nach einem solchen Werk gibt mensch keine Zugabe, was Frang ergo auch nicht tut. Kein Zweifel für mich, gerade das bedeutendste Violinkonzert des zwanzigsten Jahrhunderts gehört zu haben.

Eins, das den Riesenbumms Alpensinfonie nach der Pause glatt zur Nebensache werden lässt. Oder dann eben doch zur Zugabe, zum High-budget-B-Movie, um zurück in diese Welt zu kommen. Wobei die Alpensinfonie heute Abend sogar doppelt ins Glied zurücktritt: Denn auch die schlussendliche Orchesterzugabe, das unendlich fein gearbeitete Vorspiel zum dritten Aufzug der Meistersinger, küsst die Alpensinfonie einfach fort.

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Was aber nicht heißt, dass das formale Hauptstück an diesem Abend irgendwie unfulminant bliebe. Im Gegenteil, es wird höchstens überleuchtet von der Berg- und der Wagnerkunst dieses Orchesters und seines Dirigenten. Der Straussklang des BSO aber ist gigantisch. Die Alpensinfonie mag zwar, wenn auch nicht so krass wie Also sprach Zarathustra, das Problem haben, dass sie ihren phänomenalsten Höhepunkt gleich zu Beginn verpulvert, den Sonnnenaufgang. Aber an den weiteren Etappen der Bergtour kann der Hörer sich natürlich leichter festhalten als im Zarathustra an den ausgewählten Kapiteln des beliebten Nietzsche-Schmökers. Nur ganz Intellektwillige müssen ja auch die sinfonische Alpintour unbedingt als ebenfalls nietzscheanische Gipfeltour mitdenken. Es geht auch ohne das. Man kann sich ungestraft einfach so erfreuen an Bergführer Straussens behaglicher Todesgefahr, dem Funkeln der Wasserfälle oder – für mich am spannendsten – diesem bannenden Innehalten vor dem Losbrechen des Unwetters.

Vor allem, wenn sich alles so ereignet wie in dieser Aufführung des BSO mit Vladimir Jurowski: ein Muster an Klangbalance. Sensationelle Kohärenz, homogene Stimmgruppen, exquisite Solisten. Das ist alles so frei von jeder musikalischen Ungefährheit, derart koordiniert und austariert, wie man es wirklich nur selten erleben darf.


In diesem direkten Vergleich haben es die Münchner Philharmoniker am folgenden Abend etwas ungerecht schwer, trotz Mahler. Überhaupt scheint dieses stets leicht verbeamtet wirkende Orchester unter einem hartnäckigen Unstern zu stehen. Vor Jahrzehnten gab es die unguten James-Levine-Querelen (die warnenden Grünen galten damals als Nestbeschmutzer), zuletzt Putinfreund Valery Gergiev als Chef, dem dann auch noch der Konzertmeister gen Kreml folgte. Und jetzt auch noch die Deutsche Bahn als saures Sahnehäubchen! Das Konzert beginnt mit Verspätung, weil die Fahrt von Köln nach Berlin geschlagene zehn Stunden dauerte. Dafür kann das arme Orchester nun wirklich nichts. Und übrigens nicht mal die Deutsche Bahn, denn heftige Unwetter (Alpensinfonie auch hier!) verhagelten die Fahrt mit Baumstämmen, Wasser, Gefahr. Nur am Rande sei daher bemerkt, dass die Ursache der ganzen grundsätzlichen DB-Misere ja auch in München sitzt: die fassungslos machende desaströse Bilanz einer schändlichen Unperlenkette von Verkehrs- oder besser Verkehrtministern der CSU.

Dabei sind die Münchner Philharmoniker ein solides Orchester. Nur von der perfekten Klangorganisation des BSO unter Vladimir Jurowski sind sie eben doch ein ganzes Stück entfernt. Die disziplinierte Aufführung der Zweiten von Gustav Mahler, der Auferstehungssinfonie, ist nicht unbedingt was für bekennende Mahler-Heulsusen, eher für Kopfschwärmer. Das vorausgeschickt, nimmt das präzise und elegante Dirigat von Mirga Gražinytė-Tyla durchaus ein. Den gewissen Mangel an Brillanz des Orchesters macht die meisterliche Disposition der Leiterin durchaus wett. Dabei wird es niemals unfrei kleinteilig, im Andante moderato lässt Gražinytė-Tyla das Orchester an loser Leine und mit offenem Atem spielen. Hoch anzurechnen ist ihr auch die zurückhaltende Dosierung der Lautstärken in den ersten Sätzen, ebenso die großartige Architektur im Finale, das hier berauschend gerät, aber eben nicht betäubend. Der Philharmonische Chor München hat nicht nur auf diesem Zenit einen klaren Ton, sondern bereits im eröffnenden Pianissimo, wenn seine Bässe wunderbar sanft durchvibrieren. Nur Gutes lässt sich auch über die beiden Solistinnen sagen, die Sopranistin Talise Trevigne und den Urlicht-Alt von Okka von der Damerau, einer Sängerin, bei der nicht nur alles gut klingt, sondern auch jedes Wort genau zu verstehen ist. »O glaube, mein Herz!«, singt sie, begleitet von der typischen mahlerischen Solo-Trompete, »o glaube: Es geht dir nichts verloren!« Und fast glauben wir das in diesem Moment. Aber nur fast. Möchten es glauben, wie auch Mahler es so gern wollte. Das ist dann nochmal eine andere Ebene von Bumms. ¶

… lebt in Berlin, liebt Musik, schreibt Romane: u.a. ›Beethovn‹ (2020). Zuletzt erschien ›Silence‹. ✉️ KonzertgaengerBerlin@gmail.com

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