Wenn es nicht von jemandem wie Karl Kraus stammte, dürfte man es eigentlich gar nicht mehr zitieren in seiner hochschnaubungsvollen Misogynie. Aber es stammt eben von Karl Kraus, dieses boshafte Zitat: Die Musik des Herrn Richard Strauss ist ein Frauenzimmer, das seine natürlichen Mängel durch eine vollständige Beherrschung des Sanskrit ausgleicht.

Es ist vielleicht kein Alleinstellungsmerkmal, aber doch eine Besonderheit, dass kaum eine Einführung in Werke von Richard Strauss ohne den Verteidigungsmodus auskommt. Machen Sie ruhig mal die Probe aufs Exempel und werfen Sie einen Blick in Ihre letzten Programmhefte oder auch auf Internet-Einführungen zu Konzerten, in denen Strauss gespielt wird. Da heißt es: Schon Zeitgenossen hätten Strauss vorgeworfen, dass … aber das greife zu kurz, denn …, und dann folgt: Auch wenn … Und jetzt ergänzen Sie Anstößigkeiten wie naturalismusreißerische Windmaschinen (Alpensinfonie) oder genieren machende Kaiserreichs-Kleinfamiliengedöns-Nabelschau (Sinfonia Domestica), etc. pp.

Nicht jeder Bedenkenträger geht so weit wie der Werkbeschreiber Hartmut Becker in dem normalerweise sehr tauglichen Rowohlt-Konzertführer, wo sich zu den beiden erwähnten Werken Adjektive finden wie: erschreckend (gleich dreimal), trivial, peinlich, erschütternd, grotesk und sogar allen Ernstes entartet – nämlich »die technische Seite des Komponierens zum Selbstzweck«. Im Vergleich dazu ist die Kraus-Malice mit der Sanskritbeherrschung charmant. Die Defensivstrategie hingegen, die in den meisten Fällen gewählt wird, besteht zum Beispiel darin, das Werk trotz der empfundenen Oberflächlichkeiten mit geschicktem Argument auf eine höhere Ebene zu wuppen.

Aber muss man das überhaupt? Darf das Straussklangding nicht dastehen, wie es scheint: prahlerisch, effekthaschend, diesseitig bis zum Umfallen? Das frage ich mich als ein Konzertgänger, der jahrelang um die Domestica einen weiten Bogen machte und der auf Ein Heldenleben geradezu allergisch reagiert(e).

In seinem wunderbaren Buch The Rest Is Noise über die Musik des zwanzigsten Jahrhunderts beschreibt der New Yorker Kritiker Alex Ross, wie Gustav Mahler sich 1906 im Zug von Graz nach Wien über den riesigen Erfolg der Salome-Uraufführungwunderte, den er gerade miterlebt hatte. Er hielt die neue Oper nämlich für ein Meisterwerk – und begriff nicht, wie die Masse sofort davon begeistert sein konnte. Zum Narrativ der Moderne gehört schließlich die vermaledeite Ignoranz des Publikums. Heutzutage, da die Popularität von Richard Strauss im Konzertbetrieb (auch wenn sie abgenommen haben mag) festes Repertoireschlachtross-Faktum ist, fällt es einem schwer, sich die herausfordernde Avantgarde-Wirkung vorzustellen, die Strauss’ Werke in den ersten beiden Jahrzehnten seines Schaffens auf die Zeitgenossen offenbar hatten – als eine Seite der Medaille zumindest, auf deren anderer die Beliebtheit steht, die nicht nur Mahler verstörte. Thomas Mann lässt seine Hauptfigur Adrian Leverkühn im Roman Doktor Faustus demgemäß über Strauss sinnieren:

Was für ein begabter Kegelbruder! Der Revolutionär als Sonntagskind, keck und konziliant. Nie waren Avantgardismus und Erfolgssicherheit vertrauter beisammen. Affronts und Dissonanzen genug, – und dann das gutmütige Einlenken, den Spießer versöhnend und ihn bedeutend, dass es so schlimm nicht gemeint war …

Diesen Gedanken nahm im Jahr 2005 der Komponist Helmut Lachenmann (Avantgardist der gnadenlosen Schule, die keine Gefangenen macht, wie Alex Ross ihn bezeichnete) auf, als er Salome und Elektra »geniale und folgenlose Schauermärchen für den Bürger« nannte. Aber was verrät uns die seltsame Tatsache, dass ein provozierend, ja dröhnend idyllisches Werk wie die Sinfonia Domestica (die »aufgeklärten« Hörern eher Schauer der Fremdscham über die Rücken scheucht) in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft zur Salome entstehen konnte?

Vielleicht, dass der Strauss-Abgrund gerade in der »Oberflächlichkeit« gähnt. Denn Lachenmanns Zitat steht im Zusammenhang mit einem interessanten Plädoyer nicht gegen, sondern für die Alpensinfonie, jene 1915 uraufgeführte letzte und ausuferndste der großen »Tondichtungen« für Orchester. (Bis zu Strauss’ Tod 1949 folgten noch viele riesige Opern, aber nur noch wenige und kleinformatigere Instrumentalstücke.) Lachenmann unterscheidet im Gespräch mit Max Nyffeler nämlich zwischen ungebrochener und unreflektierter Musik – ersteres sei die Alpensinfonie, zweiteres nicht, im Gegenteil:

Ich glaube, dass Richard Strauss ganz genau gewusst hat, dass es zu Ende ist mit dem Weltbild, das er hier vermittelt hat. Im Mann ohne Eigenschaften sagt Musil über den Zeitgeist des jungen 20. Jahrhunderts einmal sinngemäß: Die einen haben neue Luft gewittert, und andere haben im Wissen, dass sie ausziehen müssen, noch einmal im alten Gebäude so richtig gehaust. Strauss macht das mit einem riesigen Orchesterapparat. Diese Art Abschiedsfeier von einem nur noch scheinbar intakten, zur Attrappe gewordenen Weltbild ist für mich nicht weniger apokalyptisch und hellsichtig erhellend als jene Musik, die den Bruch vollzieht […] – also vor allem Schönberg & Co.

Dass Strauss selbst diesem Gedankengang wohl nicht viel hätte abgewinnen können, ist kein Gegenargument – anders als der Umstand, dass auch Lachenmann doch in einem »alten Gebäude« haust, nämlich im unverdrossenen Fortschrittsbewusstsein, der Gewissheit, dass man »so« zur Zeit des Ersten Weltkriegs eben eigentlich nicht mehr komponieren konnte. Zum Glück haben wir mittlerweile einen viel weiteren Begriff von Möglichkeiten der »Moderne«. So aber wird aus dem orchestralen Prunk der Alpensinfonie eben ein, nochmals Lachenmann: Abschied in gespenstischem Jubel. Ist das nun eher herausgehört aus Strauss oder in ihn hineingehört? Fürs Hören selbst ist das vielleicht gleichgültig.

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Einen anderen Weg der Strausstiefenbohrung wählt der Amerikaner Alex Ross, und dieser Weg führt in die Anfänge des Künstlerlebens. Vielleicht nicht falsch bei einem solchen »Meister der Anfänge« wie Strauss! (Die Weltberühmtheit der Eröffnung von Also sprach Zarathustra bei relativer Unbekanntheit des Folgenden, wenn nicht Enttäuschung darüber, ist wohl nur mit Tschaikowskys b-Moll-Klavierkonzert vergleichbar.) Während in den meisten biographischen Abrissen lediglich betont wird, dass der Vater Franz des 1864 geborenen Richard Strauss ein ästhetisch sehr konservativ eingestellter erster Hornist des Münchner Hoforchesters war (Mozart hui, Wagner pfui), hebt Ross auf Verbitterung, Jähzorn und Gewalttätigkeit des Vaters ab, der die Mutter in den Wahnsinn getrieben habe. Ross’ Schlussfolgerung bezieht sich nicht nur auf Richard Strauss’ Charakter, sondern ließe sich auf das ästhetische Denken und Empfinden übertragen: Ihr Sohn entschloss sich, wie viele Menschen mit schwierigem familiären Hintergrund, immer eine kühle, gefasste Fassade zu wahren, hinter der jedoch eigenwillige Feuer loderten.

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Eine These, bei der man freilich ebenfalls fragen könnte, ob sie aus Strauss heraus- oder in ihn hineingedacht sei. Aber sie verändert doch die Empfindung, mit der man etwa in der betulichen Strauss-Biographie des Wiener Musikwissenschaftlers Günter Brosche liest, wie possierlich der über 80jährige Vater noch kurz vor seinem Tod dem Sohn, immerhin mittlerweile einem langjährigen Erfolgskomponisten ersten Ranges, gute Ratschläge zur schlankeren Instrumentation der Sinfonia Domestica erteilte: Im Hause (Domus) darf man keinen so großen Lärm machen. Der Sohn aber gigantisiert sich mit Mega-Apparat zum symphonischen Übervater und Herrn des Hauses.

Demonstrativer Individualismus und halb-philosophischer Nihilismus, beeinflusst von Nietzsche und dem Anarchisten Max Stirner, zeichnen viele der »Sinfonischen Tondichtungen« aus, die Strauss’ Ruhm begründeten: entstanden zwischen 1888 und 1903 als nahezu geschlossener Werkabschnitt vor den Jahrzehnten des fast ausschließlichen Opernschaffens, beginnend mit Don Juan und endend mit der vielgeschmähten Domestica, die analog zum vorausgegangenen Heldenleben auch Ein Eheleben heißen könnte. Die Alpensinfonie bildete dann des Genres Nachzügler und Höhepunkt (oder Tiefpunkt, wenn man dem Rowohltkonzertführer folgt) vor dem Abgrund des Ersten Weltkriegs.

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Mehrere Jugendwerke gingen allerdings dem Erfolgsreigen voran. Die Tondichtung Macbeth entstand, trotz gegenläufiger Opuszählung, vor dem berühmten Don Juan. Dieses Shakespeare-Stück mag ein wenig der Dämonie und Verzweiflung ermangeln, fast könnte man meinen, man hätte mit dem mächtigen Aufschäumen und Perlen der Musik hier jenes legendäre volllaufende Bierglas vor sich, das komponieren zu können Strauss sich später einmal im Scherz gerühmt haben soll. Höchst reizvoll ist die noch früher komponierte Burleske für Klavier und Orchester, in der spöttische Als-ob-Brahms-Gesten (wie vom virtuosen Daffy Duck gespielt) neben herabgickerndem Till-Eulenspiegel-Gelächter stehen. Diese ironische Maskerade ruft inspirierende kontrafaktische Gedankenspiele hervor, in welche ganz anderen kompositorischen Richtungen es das Riesentalent Strauss noch hätte ziehen können.

Es fasziniert, wie perfekt zwei Jahre nach Burleske und Macbeth jener Strauss da ist, den man so gut zu kennen meint: mit dem Don Juan als Paradebeispiel der auftrumpfenden Individualitätsgestik, vielleicht gar als Ausdruck des Lebensgefühls einer Generation. In der ewig weiterfließenden Harmonik spürt man von fern zwar Wagners Tristan, doch der lakonische, wie plötzlich fertiggelebte Resignationsschluss ist das pure Gegenteil.

Überhaupt ist es interessant, einmal die oft leisen Schlüsse des vielgepriesenen Meisters der Anfänge zu beachten. Wobei Strauss auch hier Praktiker und Theatraliker war: Den feierlichen Bläserschluss von Ein Heldenleben schob er hinterher, nachdem ein Freund zu dem ursprünglich geplanten Ende angemerkt hatte, Strauss schreibe ja nur mehr leise Schlüsse. Der Till Eulenspiegelaber, dessen Hauptfigur Strauss zuerst als Operngestalt erwogen hatte, klingt mit einem eindrucksvollen Hohnlachen aus, bei dem man tatsächlich an Strawinskys Petruschkadenken könnte.

Damit ist man bei einem weiteren reizvollen Gedankenspiel: den interessanten, manchmal schrägen Bezügen und Gleichzeitigkeiten – nicht nur in Strauss’ eigenem Werk, wie mit der erwähnten Nähe von Sinfonia Domestica und Salome. Dass Eine Alpensinfonie eine direkte Zeitgenossin von Le sacre du printempsist, irritiert das Hören und kann es anstacheln. Und im selben Jahr 1896, da Strauss in Also sprach Zarathustra Nietzsche als symbolischen Helden vertonte, fügte Gustav Mahler Verse des Philosophen in seine dritte Symphonie ein: o Mensch …

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Doch weder um Mahler noch um Strauss zu hören, muss man vorher Nietzsche lesen. Manchmal fällt mir zuerst das Thema ein, und ich finde später dazu das poetische Kleid, schrieb Strauss. Nichts spricht dagegen, dass der Hörer es souverän ignoriert und sein ganz eigenes poetisches Kleid findet. Als ein Bilderbuch, das gleiche wie die Kinematografie bezeichnete Claude Debussy Ein Heldenleben, die erste Tondichtung, bei der Strauss sich nicht auf einen fremden literarischen Text bezog (sei es Shakespeare oder Lenau), sondern sich sein eigenes Programm ausdachte. So liegt Strauss’ Musik vor dem Hörer: als ein offenes Bilderbuch.

Auch der Sinfonia Domestica und der Alpensinfonie schadet es nicht, den programmatischen Bezug runterzuschalten. Bei dem ersten Werk könnte man sich wie Alex Ross an Schopenhauer erinnern, der schrieb, dass die Musik den Sturm der Leidenschaften und das Pathos der Empfindungen überall auf gleiche Weise ausdrückt und mit dem selben Pomp ihrer Töne begleitet, mag Agamemnon und Achill, oder der Zwist einer Bürgerfamilie, das Materielle des Stückes liefern. Statt ans Strauss-Baby mag man also ruhig an die Atriden oder Troja denken … Und bei der Alpensinfonie könnte man darüber lächeln, dass der 1790 Meter hohe Heimgarten-Berg, den Strauss bestiegen hatte, heutzutage ziemlich überrannt ist und auf einer Tourismus-Webseite ein Tourbeschreiber mit dem schönen Namen Didi Hackl urteilt: Leichte Bergwanderung, die über breite Forstwege und komfortable Pfade führt.

Dreißig Jahre nach der Alpensinfonie und im Riesenschatten diverser Groß-Opern schuf der greise Strauss schließlich nicht nur das ergreifende Weltabschiedswerk Vier letzte Lieder, sondern auch durchaus weltzugewandte Musik. Neben der relativ bekannten Rosenkavalier-Suite (die möglicherweise gar nicht vom Komponisten eigenhändig zusammengestellt wurde, obwohl sie unter seinem Namen erschien) steht eine weniger bekannte Komprimierung, die kaum gespielte Symphonische Fantasienach der Frau ohne Schatten. Gewiss hatte die Reduktion von Umfang und Besetzung in der Nachkriegszeit auch simple praktische Gründe. Der Komponist Peter Ruzicka fertigte vor einigen Jahren eine Art Rückverdickung nach der Originalbesetzung der Oper an. Ob das überhaupt erstrebenswert ist? Denn auch wenn der schlanke Klang der 1946er Version eingefleischte FroSch-Fans enttäuschen mag: Für mein Ohr ist gerade diese Reduktion entzückend. Natürlich ist das alles ziemlich unzusammenhängend und in seiner taktlosen Schönheit inmitten einer Welt in Trümmern haarsträubend eskapistisch. Aber so befremdlich das hochgradig nostalgische Stück auch anmuten mag, für mich liegt eine ergreifende unbeschreibliche Traurigkeit in dieser deplatzierten Musik. Fast wie ein (um das unverschämte Kraus-Zitat aufzunehmen) Schatten ohne Frau. Sanskrit hin oder her. ¶

...lebt in Berlin, liebt Musik, schreibt Romane: Fliegen (2019) und Beethovn (2020). Und führt nebenher das Blog Hundert11 – Konzertgänger in Berlin. … lebt in Berlin, liebt Musik, schreibt Romane: u.a. ›Fliegen‹ und ›Beethovn‹. Zuletzt erschien ›Luyánta – Das Jahr in der Unselben Welt‹. Nebenher führt Selge das Blog Hundert11 – Konzertgänger in Berlin.