Norman Lebrechts Buch Who Killed Classical Music? erschien 1996 und erzählt unter anderem eine Anekdote über einen Dirigenten, der gewohnheitsmäßig Minderjährige missbrauche, dafür bereits mehrmals verhaftet worden sei, aber von seinem Agenten, von Anwälten und der Führungsriege der Klassikwelt stets geschützt würde. Der Täter trat bei Lebrecht unter einem Pseudonym auf, allerdings machte schnell das Gerücht die Runde, dass es sich dabei um James Levine handelte.
Ein Jahr später, im November 1997, wurden die Gerüchte um Levines kriminelle Vergangenheit Gegenstand einer öffentlich geführten politischen Kontroverse. Die Münchner Philharmoniker suchten einen Nachfolger für ihren im August 1996 verstorbenen legendären Chefdirigenten Sergiu Celibidache. Das Orchester war auf der Suche nach jemandem von ähnlichem Kaliber und glaubte, in James Levine fündig geworden zu sein. Der damals 54-Jährige hatte erst Anfang des Jahres bei den Philharmonikern debütiert, das Orchester aber offensichtlich gleich mitgerissen. Zwar war im Fünferrat, der sich um die Berufung von Celibidaches Nachfolger kümmerte und dem der Vorstand der Münchner Philharmoniker, Vertreter des Stadtrats und der Verwaltung angehörten, Vertraulichkeit vereinbart worden. Um die öffentliche Diskussion aber in Richtung Levine zu lenken und andere mögliche Kandidaten auszubremsen, ließ das Orchester den Namen ihres Favoriten bereits kurz nach Levines Debüt durchsickern. Offensichtlich wollte man schnell Nägel mit Köpfen machen und Kulturausschuss und Stadtrat vor vollendete Tatsachen stellen. »Daß es von Seiten des Orchesters vorschnell in die Öffentlichkeit ging, hat die Position der Stadt aus meiner Sicht erheblich geschwächt«, sagt ein Stadtratsmitglied in einer nicht-öffentlichen Sitzung der Vollversammlung des Münchner Stadtrats am 20. November 1997. »Es hat die Entscheidung des Stadtrates in eine äußerst schwierige Situation gebracht. Nachdem dieser Name genannt war, war es so gut wie unmöglich, überhaupt noch irgendwelche Namen ins Gespräch zu bringen.«

Ursprünglich sollte in der Stadtratssitzung lediglich über den in der Zwischenzeit mit Levine ausgehandelten Vertragsentwurf diskutiert und abgestimmt werden. Auf Antrag der Grünen-Fraktion gesellte sich zum Tagesordnungspunkt »Nachfolge des Generalmusikdirektors« in letzter Minute ein »Antrag zur Dringlichen Behandlung«: »Der Oberbürgermeister wird gebeten, sicherzustellen, daß vor der Beschlußfassung des Vertrages mit James Levine keine Einstellungshindernisse vorliegen, wie zum Beispiel strafrechtliche Ermittlungsverfahren.« Hintergrund des Antrags waren die Gerüchte um sexuellen Missbrauch durch Levine, die nicht erst seit Lebrechts Buch in der Klassikwelt kursierten, und deren Falschheit die Grünen mithilfe eines Leumunds bestätigt sehen wollten.
Nachdem Levine zwanzig Jahre nach der Münchner Debatte, im Dezember 2017, von mehreren Männern in den USA beschuldigt worden war, sie im Teenageralter über einen längeren Zeitraum sexuell missbraucht zu haben, stellte VAN beim Münchner Stadtarchiv einen Antrag auf Schutzfristverkürzung zur Einsicht in das Protokoll der Stadtratssitzung vom 20. November 1997. Die Aufarbeitung des Falls hatte damals gerade erst begonnen, die Vorwürfe gegen Levine standen dem Dementi des Dirigenten gegenüber. Uns interessierte die Frage, was damals bei der Berufung Levines nach München bereits bekannt war, mit welchen Argumenten die Diskussion geführt wurde und auf welcher Informationsbasis die Ratsmitglieder für oder gegen die Berufung Levines abgestimmt hatten.
Anfang März wurde unser Antrag auf Einsicht in das Protokoll genehmigt, unter der Auflage, die Namen der Redner nicht zu veröffentlichen. In der Zwischenzeit hatte eine unabhängige Untersuchung der Metropolitan Opera die Missbrauchsvorwürfe bestätigt. Levine wurde daraufhin gefeuert, wogegen der Dirigent wiederum eine Klage auf Schadensersatz wegen Vertragsbruch und Rufschädigung eingereicht hat. Diese wird es aufgrund der zahlreichen Berichte von Opfern, die sich mittlerweile mit sehr konkreten Anschuldigungen öffentlich zu Wort gemeldet haben (zum Beispiel im Rahmen der Recherche von Malcolm Gay und Kay Lazar vom Boston Globe) vermutlich schwer haben.
Das Protokoll der Stadtratssitzung verdeutlicht die komplexe rechtliche und moralische Situation, in der sich die damaligen Münchner Politiker befanden, und die bis heute die Debatte strukturiert: Wie lässt sich das Dilemma auflösen, als politisches Gremium einerseits die Fürsorgepflicht gegenüber einem Orchester und denen wahrzunehmen, mit denen ein zukünftiger Chefdirigent arbeitet, und sich gleichzeitig nicht der Verletzung der Persönlichkeitsrechte schuldig zu machen? Wie können aus Gerüchten jemals konkrete Verdachtsfälle und Anklagen werden, ohne die rechtstaatliche Unschuldsvermutung zu unterwandern und sich der Diffamierung und des Rufmords schuldig zu machen? Die Gesellschaft blickt heute anders auf sexuelle Übergriffe als vor zwanzig Jahren. Wir ringen aber noch immer mit denselben Grauzonen im Umgang mit Gerüchten. Und damals wie heute begegnet uns hierzulande in der Klassikkultur oftmals eine Haltung des Wegschauens und Beschwichtigens, der Wunsch, es nicht so genau wissen zu wollen, schließlich gehe es doch eigentlich um die hohe Kunst.
Der Antrag der Grünen-Fraktion war zur nicht-öffentlichen Behandlung vorgesehen, allerdings gelangte der Inhalt bereits kurz vor der Ratssitzung an die Öffentlichkeit. Schon zehn Tage vorher schrieb der Spiegel: »Seitdem der Name Levine im Münchner Gerede ist, schnüffeln selbsternannte Sittenwächter unter der Gürtellinie des Dirigenten und streuen ihre unappetitlichen Ondits«; am Tag vor der Versammlung berichteten weitere Medien, darunter die Abendzeitung und die Süddeutsche Zeitung, über die Inhalte des Antrags.

Die protokollierten Wortmeldungen der Ratsmitglieder zeigen, dass am 20. November 1997 eine gereizte Stimmung herrscht. Einige Mitglieder beschuldigen die Grünen, den Inhalt des Antrags vorher absichtlich geleakt zu haben (wenn dem so wäre, ging der Schuss nach hinten los: Die Medien zerfleischen den Antrag ausnahmslos), von Stimmungsmache gegen Levine und »unwürdigem Theater« ist die Rede, die Ratsmitglieder der Grünen müssen sich höhnische Kommentare anhören. Die Grünen-Fraktion selbst ist gespalten, zwei Mitglieder stimmten bereits in der Fraktion gegen den Beschluss des Antrags und distanzieren sich von ihm auch in der Stadtratsversammlung.
Die Befürworter begründen den Antrag mit der Hartnäckigkeit der Gerüchte über die kriminelle Vergangenheit Levines. Seit Beginn der Debatte gebe es ein »sehr breit angelegtes« Gerücht, »welches nicht ein paar anonymen Briefen aus irgendwelchen Schmuddelecken entstammt, (…) sondern das quasi weltumspannend gehandelt wird.« Hinter den Gerüchten seien keine bestimmten Interessen erkennbar, sie kämen nicht nur aus einer Ecke. »Diese Gerüchte kamen von Leuten, von denen ich das nicht erwartet hätte«, versucht ein Antragssteller die Berufung auf Gerüchte und fehlende Beweise zu legitimieren. Mehrmals werden von beiden Seiten Aussagen von »Feuilleton-Journalisten« ins Feld geführt, ohne dass jedoch Namen oder konkrete Quellen genannt würden.
Es gehe nicht um Levines Sexualität oder private Vorlieben, die seien Privatangelegenheit und entzögen sich jeder Beurteilung, sondern um »eine Sache, die zumindest in Deutschland schwer bestraft wird, und zwar zu Recht«. Deshalb sei es die Pflicht des Stadtrats, sich vor einer Vertragsunterzeichnung zu diesen Gerüchten eine Meinung und Haltung zu bilden, zumal die Antworten auf Nachfragen im Vorfeld, »nicht besonders zufriedenstellend« gewesen seien. Ein Grünen-Mitglied fasst das Dilemma des Rates im Umgang mit den Gerüchten treffend zusammen: »Es gibt die Möglichkeit der totalen Nichtbefassung und es gibt die Möglichkeit, das auszuräumen. Wir sind der Meinung, daß das ausgeräumt werden sollte.«

Aus mehreren Wortmeldungen wird ersichtlich, dass bereits vor der Sitzung von Seiten der Verwaltung und Politik Erkundigungen über Levines Vergangenheit eingeholt worden waren. Ein Ratsmitglied erwähnt, der Oberbürgermeister [Christian Ude, SPD] habe im Kulturausschuss davon gesprochen, bei Feuilletonjournalisten immer wieder nachgefragt zu haben, ob sie etwas herausgefunden hätten. »Wenn diese Frage von der Stadtspitze verfolgt wird, kann es nicht falsch sein, wenn ein Stadtrat in einer Sitzung, die von derartiger Bedeutung ist, diese Frage auch stellt«. Es müsse gestattet sein zu fragen, »wie die Überprüfung ausgegangen sei und ob man sagen könne, daß es keine Beweise für diese Vorwürfe gibt, damit der Stadtrat guten Gewissens dem Vertrag zustimmen kann, sofern er dies aus anderen Gründen wünscht.« An anderer Stelle wird erwähnt, der Kulturreferent Siegfried Hummel selbst habe Levines Agenten, Ronald A. Wilford, mit der Drohung konfrontiert, »daß der Vertrag bei strafbaren Handlungen nichtig sein kann.« Tatsächlich wurde wohl, auch wegen der umherschwirrenden Gerüchte, ein Passus in Levines Vertrag aufgenommen, der nach Paragraph 626 BGB eine fristlose Kündigung aus wichtigem Grund ermöglicht. Ein SPD-Mitglied sagt dazu, er sei den Vertragspartnern dankbar, diesen Absatz aufgenommen zu haben, um dem Rufmord das Wasser abzugraben, obwohl es »über die Schmerzgrenze« im Umgang mit Künstlern von Weltrang hinausgehe, einen solchen Paragraphen aufzunehmen und ausdrücklich dazu zu sagen, dass dieser auch für den in den Gerüchten verbreiteten Strafbestand gelte.
Die Mehrheit der Stadtratsmitglieder äußert Kritik am Antrag. Hinter den Argumenten der Kritik lassen sich jedoch zwei unterschiedliche Haltungen ausmachen.
Es gibt jene, die – so scheint es – grundsätzlich ablehnen, überhaupt über ein Thema wie sexuellen Missbrauch im Zusammenhang mit klassischer Musik zu sprechen. Es gehe schließlich um die Zukunft der Münchner Philharmoniker, »das ist unsere Aufgabe«, da dürfe man sich nicht auf die Ebene des Klatsches begeben. Ein CSU-Ratsmitglied findet »die ganze Sache so unglaublich schmierig« und eine »unanständige Geschichte«: »Der Stadtrat der Landeshauptstadt redet dann nicht über die Philharmoniker, über die Musik, über Dirigenten und über Programme, sondern geraume Zeit über ungeheuerliche Verbrechen, von denen kein Mensch seriös behauptet hat, daß sie hierher gehören.« Nicht zufällig scheinen diese kritischen Wortmeldungen von vornherein mehr um den eigenen Ruf und die Außenwahrnehmung Münchens besorgt zu sein, als um die Vorwürfe gegenüber Levine. »Das, was da jetzt passiert ist, ist die größte Peinlichkeit, die ich, seit ich in diesem Stadtrat sitze, erlebt habe!«, so ein CSU-Mitglied. »Wir haben eine große Verantwortung gegenüber der in den letzten Tagen verlorengegangenen Würde dieses Stadtrates. (…) Wir haben dank solcher widerlichen Dinge, die da jetzt z.B. in Forum eines Antrages auf den Tisch gekommen sind, eine Presse erfahren, die ist dermaßen widerlich. (…) Momentan spricht man immer nur von dem Stadtrat, der sich so etwas leistet, der sich lächerlich macht vor der ganzen Welt. Wir von der CSU gehören nicht zu diesem Teil des Stadtrates, der sich vor der Welt lächerlich gemacht hat. (…) Wir werden jedenfalls verantwortungsvoll abstimmen und versuchen, daß man das wieder gerade hinstellt, was in den letzten Wochen auf ganz ordinäre Art umgerempelt worden ist.« Kein Zufall, dass in diesen Wortmeldungen Ausdrücke wie »schmutzig«, »widerlich« und »ordinär« fallen. Es verdeutlicht das angenommene kulturelle und moralische Gefälle zwischen der Welt, auf die man nichts kommen lassen will, und denjenigen, die diese scheinbar besudeln wollen. Man möchte das Thema vom Tisch räumen, indem man die beschimpft, die es angesprochen haben. Die Sorge um den eigenen Ruf, auch um die Medienschelte, scheint größer als die Sorge, einen potentiellen Straftäter unhinterfragt eingestellt zu haben.
Demgegenüber stehen jene Kritiker, die betonen, dass ein Tatbestand wie »sexueller Missbrauch« zwar unbedingt im Stadtrat behandelt werden müsse, aber nur, wenn dafür eine belastbare Beweislage zugrunde liege. Solange dies nicht der Fall sei, gelte auch für Levine die Unschuldsvermutung. Es sei grundsätzlich problematisch, eine Debatte im Stadtrat auf der Basis von Gerüchten zu führen. »Wenn wir es mit einer erwiesenen Straftat zu tun hätten, dann hätte das Thema für mich Gewicht«, sagt ein Politiker. »Dann würde ich nicht sagen, das ist wie bei Michael Jackson, das macht man halt so, sondern dann würde ich sagen, ein Repräsentant der Kulturstadt München kann nicht in derartige Schuld verstrickt sein, mag er künstlerisch so genial sein wie er will.« Keine Seite habe aber jemals konkrete Quellen oder Beweise genannt, obwohl es an vielen Stellen möglich gewesen sei, diese einzubringen. Auch die Nachforschungen hätten nichts ergeben. »Wir haben dieses Thema auch bei den verschiedenen Diskussionen angesprochen und es wäre möglich gewesen, tatsächlich irgendetwas vorzutragen, was vorhanden gewesen wäre, seien es Anschuldigungen, die bekannt sind, oder seien es irgendwelche Beweise, die vorzubringen sind. Seit einem Dreivierteljahr wurde dem nicht nachgekommen. Sie hätten Zeit gehabt, diese Bedenken ganz klar offenzulegen. Ich wäre auch der/die letzte gewesen, wenn wirklich etwas dran ist, das beweisbar ist und zu einer Verurteilung geführt hätte, dem nicht nachzugehen. Ich denke, wir leben in einem Rechtsstaat und keinem von uns kommt es zu, eine Vorverurteilung auf Gerüchte hin vorzunehmen«. Ein SPD-Mitglied sagt, es habe »aus wohlverstandenem Eigeninteresse alle Erkenntnismöglichkeiten, die es in einer treuen Gesellschaft zwischen Behörden, mit Presseagenturen und mit Korrespondenten im Ausland gibt, ausgeschöpft« und sei »nicht auf den Hauch einer Anschuldigung gekommen«.
Ein Mitglied der Rosa Liste München, die damals wie heute mit den Grünen eine Fraktionsgemeinschaft im Stadtrat bilden, ergänzt, dass Schmutzkampagnen über Pädophilie eine bewährte Taktik seien, um schwule Männer im öffentlichen Leben zu diskreditieren. »Wenn ich mir vorstelle, hier würde mir irgend jemand dieses Gerücht anhängen, ich wäre in einem Teufelskreis der Gerüchte,(…) Ich wäre politisch und öffentlich tot.« (Ben Miller schreibt zu diesem Thema in seinem VAN-Essay aus heutiger Perspektive: »Wie viele queere Menschen, besonders solche mit einem politischen und kulturellen Interesse an der Verteidigung von nicht-normativem, einvernehmlichen Sexualverhalten zwischen Erwachsenen, habe ich Angst vor moralischer Panik und ihren Konsequenzen. Levine fütterte diese Ängste auf zynische Weise, wenn er in Interviews auf seine Privatsphäre hinwies und beteuerte, dass er ›gut‹ sei. ›Ich bin zu gut, um wahr zu sein‹, sagte er einmal der New York Times, als er auf die ›Gerüchte‹ angesprochen wurde, die sein Privatleben umkreisten. ›Schauen Sie, ich bin kein Doktor, der verheiratet mit seinen drei Kindern in der Vorstadt lebt. Ich lebe mein Leben offen; stellen Sie bitte keine Behauptungen über irgendetwas auf. Es geschieht nichts im Unsichtbaren.‹ Ich akzeptierte das, weil ich wusste, wie schnell aus den untoten und gefährlichen Lügen der politischen Rechten Angriffe auf die sexuelle Freiheit und die Privatsphäre werden können. Heute bin ich auch deswegen traurig, weil meine damals gut gemeinten Gefühle verdreht wurden, um den Missbrauch von Vertrauen und Macht zu verdecken.«)
Am Ende der Debatte wird Levines Vertrag dank der Stimmen der oppositionellen CSU und FDP mit einer Mehrheit von 44 zu 30 Stimmen beschlossen. Die Mehrheit der rot-grünen Koalität stimmt gegen den Wunschkandidaten des SPD-Oberbürgermeisters Ude. Ausschlaggebend für die Gegenstimmen waren allerdings andere Gründe als die Missbrauchsvorwürfe (man wollte einen jüngeren, innovativeren, weniger divenhaften, wohl auch günstigeren Dirigenten). Levine werden im Vertrag ab seinem Dienstantritt im September 1999 neben den 500 000 Mark Grundgehalt 60 000 Mark für jeden der 24 vereinbarten Auftritte zugesichert. Dazu kommen Sonderhonorare für Tourneen, Spesen, Reisekosten. Mit fast 2 Millionen Mark brutto im Jahr und seinem Gehalt als Künstlerischer Leiter der New Yorker Metropolitan Opera wird Levine zu einem der bestbezahlten Dirigenten der Welt.
Es sollte noch weitere 20 Jahre vergehen, bis seine Opfer an die Öffentlichkeit treten. Die Argumente derjenigen, in Medien wie in Politik, die nichts sehen und hören wollten, die die Vorwürfe bagatellisierten und Missbrauch als Kavaliersdelikt oder gar Ausdrucksform großer Künstler abtaten, waren für das Klima mitverantwortlich, das Missbrauchsopfer lange entmutigte, an die Öffentlichkeit zu gehen. Im Münchner Stadtrat scheint das Wegdrücken auch der Hilflosigkeit und Überforderung im Umgang mit etwas geschuldet, für das es damals kaum Erfahrungswerte oder Präzedenzfälle gab. Eine Hilflosigkeit, die übrigens auch an anderen Stellen zum Vorschein kommt, wenn es um die künstlerischen Bewertung Levines und der Einordnung des Vertragsentwurfs und der dort festgeschriebenen Gehaltssummen geht.
Kaum vorstellbar, dass heute, nach den Fällen wie Wedel, Spacey und Weinstein, eine Diskussion noch mit demselben auftrumpfendem Gehabe und parteipolitischem Krawall geführt werden könnte wie am 20. November 1997. Eine, die damals als Ratsmitglied für die Grünen dabei war, schreibt Anfang Dezember 2017 nach Bekanntwerden der Vorwürfe gegenüber Levine auf ihrer Facebook-Seite: »Als ich bei der Einstellung von Levine durch den Münchner Stadtrat auf diese Probleme in einer nicht öffentlichen Sitzung aufmerksam gemacht hatte, ergoß sich Abscheu und Ekel nicht über ihn, sondern über mich, so etwas zu unterstellen. Ich hatte diese Information aus höchsten Musiktheaterkreisen, wo das alles bekannt war.« Die Frage, die in den nächsten Wochen und Monaten zu beantworten sein wird: Was war wirklich bekannt, und wer in diesen »höchsten Kreisen« wusste etwas und hat geschwiegen? ¶
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