Diese Euphorie möchte man keinesfalls knicken. Und das nicht etwa, weil »Berlins erste Chefdirigentin« Schutz bräuchte, sondern einfach, weil der Enthusiasmus von Orchester, Dirigentin und sich drängendem Publikum derart ansteckend ist. Selbst die Philharmonie, wo das Konzerthausorchester im Rahmen des Musikfests Berlin ein Gastspiel gibt, ist knallvoll. Das ist auch absolut berechtigt: nicht nur, weil es nach den mindestens 869 Jahren, die die existierenden großen Berliner Orchester zusammengerechnet alt sind (Berliner Philharmoniker 141 Jahre, Deutsches Symphonie-Orchester 77, Rundfunk-Sinfonieorchester 100, Konzerthausorchester 98, Staatskapelle 453 oder mehr) erstmals eine Frau an einer Spitze gibt. Sondern weil die aus Nürnberg gekommene Joana Mallwitz keine Musikverwalterin ist, sondern eine große Mitreißerin.

Zum Antritt steigert Mallwitz die Euphorie noch, indem sie erstmal einen Knaller nach dem anderen abfeuert: letzte Woche Mahlers Erste, nächste Woche Strawinskys Sacre du printemps, und dazwischen in diesem Konzert Beethovens Siebte, von der irgendwer (war’s Gielen? Janowski?) mal sagte, nach der Siebten würde eigentlich immer gejubelt. Wie weiland über den antizipierten Untergang Napoleons.

Aber erstmal gibt es einen interessanten ersten Programmteil. Wobei Benjamin Brittens Four Sea Interludes aus der Oper Peter Grimes nicht mein Konzertfavorit sind: nett anzuhören, aber stets etwas unbefriedigend. Denn die vier kurzen Stücke wirken auf mich, als sei dem Komponisten einiges wirklich Schöne eingefallen, aber er hätte keine Zeit oder keine Lust gehabt, etwas daraus zu komponieren. Eher Muster als Miniaturen, keine Skizzen, sondern Arbeitsproben. In gewissem Sinn kommt mir diese Musik in ihrer Verweigerung von Weite und Entfaltung sogar anti-maritim vor.

Die Blechbläser des Konzerthausorchesters aber entfalten sich prächtig, das zu hören ist eine Lust. Im zweiten Stück Sunday Morning wünschte ich mir dann regelrecht einen John Adams, der diese schönen Anklänge jetzt mal richtig fließen lassen würde, zwanzig Minuten oder so. In der Nummer 4, Storm, gehen die Streicher ein wenig unter, aber immerhin ist das mal ein richtiger Sturm, jawohl. Vielleicht ist es die Skurrilität meines eigenen Kopfes, dass ich sogar an James-Bond-Musik denken muss; jedenfalls ist es mir ganz lieb, dass es über die Britten-Tusche hinauskracht.

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Donnacha Dennehys hörenswertes Violinkonzert, in deutscher Erstaufführung, hat spürbar jene Entfaltung, die ich bei Brittens Stücken vermisse. Das Stück nimmt schon dadurch ein, dass der Solist (der hochbegabte August Hadelich, der hiermit seine Saison als Artist in Residence des Konzerthauses eröffnet) einfach ohne wichtigtuerische Materialprüfungen oder kritische Korpuskratzereien munterst drauflosfiedeln darf. Das Orchester trägt ihn durch feine Flitzereien und durch Blechschübe von sanfter Tiefenkraft vorwärts. Aggressionsfreie Motorik, die lieber gekonnt einlullt als zu irritieren. Auch Dennehys rare Dissonanzen sind von wohliger Wolkigkeit. Und der beeindruckende Hadelich ist noch in seiner flotten Zugabe (keine Ahnung, was das ist) famos virtuos, aber dabei allem Protzig-Diabolischen abhold, vielmehr von quietschfidel-fiddeliger Spiellaune. Itzhak-Perlman-reiner Ton selbst bei Tempo 450. Da würde auch der ZDF-Fernsehgarten brennen, aber in der Philharmonie macht es ebenso unwiderstehlichen Spaß.

Mallwitz beim Dirigieren zuzusehen, begeistert die einen (vom »Ausdruckstanz« jubelte Maria Ossowski im RBB), andere mögen leicht reserviert bleiben. Ihr Stil ist hoch engagiert, etwas spitz, etwas eckig, nicht frei von einer gewissen Neigung zum Überdirigieren. Bei Beethovens Siebter schließe ich die Augen. Aber das ist kein beleidigtes Verdikt, denn normalerweise schließe ich ja im Konzert fast immer die Augen; die Ausnahme für mich bestand vielmehr darin, sie diesmal im ersten Teil offen zu lassen.

Der Beethoven, den ich blind höre, ist bei aller Forciertheit oft tänzerisch elegant statt ekstatisch. Am besten funktionieren für mich die Rahmenteile des Scherzos. Großartig auch die eröffnenden markanten Bässe im zweiten Satz, aus deren Crescendo ein früher Sog entsteht. Freilich führt im ganzen Symphonieverlauf die Dichte von schnellen Höhepunkten auch zu einem gewissen dramaturgischen Defizit. Die Magie der musikalischen Umschlagpunkte im zweiten Satz scheint mir versäumt, und im Finale tanzt die Musik über die Momente der Bedrohung, die einem sonst den Atem stocken lassen könnten, einfach hinweg.

Wie kann man das nennen, was ich mir noch erhoffen würde von Mallwitz beim Konzerthausorchester? Vielleicht eben das: Atem statt Takt. Musikalisch konkreter wäre anzumerken, dass die Balance der Orchestergruppen mitunter noch durchaus heikel ist. Man wünscht der Dirigentin und ihrem Orchester Zeit und Ruhe, um nach dem Rausch des Beginns miteinander zu arbeiten, ohne den Zwang, jeden Termin zu einem Spektakel werden lassen zu müssen. Spannend wird es werden, wenn der Wellenritt des Anfangs vorüber ist. Wobei, wie gesagt, das Glück dieses Ritts zu gönnen ist und auch in diesem Konzert allseits bejubelt wird. Trotzdem ist es für mich kein Höhepunkt, sondern ein Anfang. Ich bleibe gespannt, was sich da entfalten wird. ¶

… lebt in Berlin, liebt Musik, schreibt Romane: u.a. ›Beethovn‹ (2020). Zuletzt erschien ›Silence‹. ✉️ KonzertgaengerBerlin@gmail.com

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