Richard Strauss’ Oper Die Frau ohne Schatten (Libretto: Hugo von Hofmannsthal, uraufgeführt 1919) ist ein ziemlicher Brocken, in sämtlicher Hinsicht: Die schwer nachvollziehbare Handlung ist gespickt von Magie, Mordfantasien, Naturgewalten und Nicht-Kommunikation innerhalb von Beziehungen, die Besetzung im Orchester ist nicht nur gewaltig, sondern auch noch ergänzt durch Exoten wie Celesta, Glasharmonika und allerlei Schlagwerk, das Ganze dauert deutlich über drei Stunden. Und auch die Moral von der Geschicht kleistern Hofmannsthal und Strauss allzu üppig über die eigentlich komplexe Ausgangslage intimer Paar-Dynamiken: Eine Frau ist nur Mensch, wenn sie Mutter sein kann – und will. So erlangt die Kaiserin, Tochter des Geisterfürsten Keikobad, durch magische Prüfungen schließlich einen Schatten und damit die Gebärfähigkeit (und rettet so ihren geliebten Kaiser), die Färberin lässt ihre Skepsis gegenüber der Mutterrolle recht unverhofft links liegen und will plötzlich nichts lieber als mit dem Färber Barak, der sie zuvor wieder und wieder vergeblich mit seinem Kinderwunsch genervt und mit dem Tode bedroht hat, Nachwuchs in die Welt zu setzen. 
All das klingt nicht nach einem Stoff für die Neuköllner Oper, die sich eigentlich dem zeitgenössischen Musiktheater verschrieben hat. Regisseurin Ulrike Schwab dampft hier zusammen mit Tobias Schwencke (Arrangement und musikalische Leitung) die Frau ohne Schatten ordentlich ein – auf 100 Minuten mit 10 Musiker:innen, fünf Sänger:innen und einer Schauspielerin. Faszinierend ist dabei nicht nur die überzeugende Spiel- und Gesangsleistung des Ensembles (allen voran wunderbar lyrisch und unendlich zart Hrund Ósk Árnadóttir als Kaiserin), sondern auch die Tatsache, dass es Schwab gelingt, durch sehr unterschiedliche Blickweisen auf Fragen rund ums Eltern-Sein und -Werden in Hofmannsthals Story-Wirrwarr das Vorgehen einer jeden Figur nachvollziehbar zu machen. Dass sie dabei die Aussage von Strauss und Hofmannsthal faktisch auf den Kopf stellt, fällt kaum auf, so plausibel wirkt die neu geschaffene Handlung.  
Am Telefon erklärt mir Ulrike Schwab, wie so eine Umdeutung funktionieren kann – inhaltlich wie musikalisch.

Ulrike Schwab • Foto © Dornhege Reyes

VAN: Als du die Frau ohne Schatten zum ersten Mal gesehen hast, hat sie dich gelangweilt. Warum?

Ulrike Schwab: Ich glaube, ich war sehr erschlagen und habe gar nicht verstanden, was auf der Bühne verhandelt wird. Dabei bin ich niemand, der ins Theater gehen und im eigentlichen Sinne unbedingt etwas verstehen will. Manchmal reichen mir auch schon kleine Fährten: dass man neugierig ist auf eine Figur oder eine Metapher, emotional berührt wird. In Die Frau ohne Schatten konnte ich damals niemandem folgen, habe keinen Kern erfasst und die ganze Aufregung gar nicht verstanden, die Wucht der Musik und die Art zu singen: sehr dramatisch, sehr laut. Da war ich völlig verloren. Und wenn einem etwas zu viel ist, reagiert man ja oft mit Langeweile oder Müdigkeit, lustigerweise.

Verrätst du, welche Inszenierung das war? 

Nein [lacht]. Aber es ist viele Jahre her. 

Was hat dann doch dein Interesse geweckt? 

Dass ich erst gar keinen Zugang gefunden habe, hat mich angestachelt. Ich habe das ein bisschen als Challenge begriffen. Und als ich angefangen habe, mich mit dem Stück zu befassen, hat es dann relativ schnell einen großen Sog entwickelt. Gerade weil es so überdimensioniert ist, so ein Monstrum, hatte ich Lust, das in einer ganz anderen Form in der Neuköllner Oper zu versuchen. Die Musik ist wirklich wunderschön – das habe ich an diesem einen besagten Opernabend alles gar nicht wahrgenommen.

Das Ensembel der Neukölnner Frau ohne Schatten, Tobias Schwencke dirigiert.

Wenn du sagst, die Oper ist monströs – meinst du dann vor allem die riesige Besetzung? 

Ja. Das ist eines der fettesten Orchester, die du haben kannst. Aber auch die Art des Gesangs, wie Strauss das für die Sänger und die großen Häuser geschrieben hat. Gerade die Partie der Färberin ist so extrem geschrieben, dass ich zu ihr gar keinen Zugang bekomme. Das ist schade, weil sie als Figur so unglaublich vielschichtig ist.

Aber auch alle anderen Partien sind hochdramatisch und wahnsinnig schwer. Das erfordert in den meisten Fällen einfach eine bestimmte Art von Sängern, die man in der Neuköllner Oper gar nicht bezahlen kann [lacht]. Ich glaube: Wenn Leute Oper nicht kennen und denken, sie würden sie eh nicht mögen, dann weil sie bestimmte Klischees im Kopf haben. Da ist Die Frau ohne Schatten ein Werk, das alle diese Klischees oft erfüllt: Man versteht nicht richtig, worum es geht. Es wird die ganze Zeit rumgekeift. Es dauert viel zu lange … Ich wollte dieses negative Bild von Oper nicht akzeptieren [lacht].

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Welche Aspekte haben dich besonders fasziniert oder inspiriert?

Thematisch absolut Elternschaft, Mutterschaft. Ich habe mich immer gefragt, warum man das – zumindest nach dem, was ich mitbekommen habe – nie so rausgeschält hat. Man kann dieses Thema mit der Frau ohne Schatten extrem vielschichtig verhandeln. Nicht nur mit Blick auf die Frauenfiguren. Allein so eine Figur wie der Barak: ein Mann, der sich nichts sehnlicher wünscht als Papa zu werden. Das finde ich für eine Oper eigentlich super interessant, dass es nicht immer die Frau ist mit dem Kinderwunsch. 

Joa Helgesson als Färber Barak

Und natürlich die Titelfigur, die keine Kinder bekommen kann, oder die Färberin, die keine will. Ich hatte das Gefühl, es wird immer etwas darüber hinweggegangen: ›Jaja, der Schatten steht für die Fruchtbarkeit. Die Kaiserin kann halt keine Kinder kriegen und jetzt muss sie sich einen Schatten besorgen.‹ Die emotionale Wucht, die allein in diesen zwei Sätzen steckt, hat mich total angerührt. Das Thema ist wahnsinnig intim und persönlich. Irgendwann im Leben beschäftigen sich ja alle Menschen mit diesen Fragen.

Die Musik dazu ist zum Teil wahnsinnig kitschig. Aber auch sehr seelenvoll, sehr berührend. Und hat eine unglaubliche Wucht.

Wie verstehst du Hofmannsthals und Strauss’ Blick auf Elternschaft?

Am Schluss kann man das am besten sehen: Bei den beiden endet die Oper in einer großen Kinderglückseligkeit. Die zwei Paare sind vereint, die Frauen haben verstanden, dass das größte Glück der Erde darin besteht, Mutter zu werden. Alle sind sich einig darin. Das ist verrückt, weil man eine dreieinhalbstündige Seelenreise hinter sich hat, und die Conclusio aus diesem riesen Ding bei Strauss und Hofmannsthal ist: Glück bedeutet Mutter zu sein. Da denkt man sich: What?! Vorher klingen so viele andere Sichtweisen an, es ist ja eben gerade nicht schwarz-weiß.

Man ringt natürlich immer mit den Autoren eines Stückes und bei so einem besonders. Aber bei diesem Ende verstehe ich wirklich gar nicht, was die beiden sich dabei gedacht haben.

Wir haben Hofmannsthal und Strauss weibliche Stimmen zur Seite gestellt, die sich auch mit diesem Thema auseinandersetzen, von 1900 bis heute. Wir versuchen so, einen vielseitigen Blick auf das Thema Mutterschaft zu werfen. Nicht nur von einer Frau mit einer bestimmten Haltung, sondern von vielen verschiedenen Träumen, Wünschen, Traurigkeiten oder Sehnsüchten.

»Der Mütterlichkeit muss die Speckschicht der Idealität, die man ihr angeredet hat, genommen werden. Die Mutterschaft auf ihr vernünftiges Maß zurückzuführen, ist eine Aufgabe der Zukunft.«

Ausschnitt aus der Neuköllner Frau ohne Schatten, Hedwig Dohm, Frauenrechtlerin, um 1900

Ohne zu sehr zu spoilern: Was macht ihr mit dem Ende von Hofmannsthal und Strauss?

Bei uns entscheidet sich eine Frau, ihren Mann zu verlassen, obwohl sie ihn wirklich liebt, weil er einen anderen Lebensentwurf hat. Sie entscheidet sich für ihre Bedürfnisse und gegen Kinder und damit gegen das, was sie vom System und ihrer Familie her erfüllen soll.

Bei Strauss steht am Schluss der Chor der ungeborenen Kinder, die sich überglücklich darüber freuen, dass sie endlich Mama und Papa mit ihrer Präsenz beehren dürfen und alle stimmen ein in einen Jubelgesang darüber, dass jetzt alle fruchtbar sind und sich 100 Kinder pro Paar schon auf den Weg machen. Alles, was vorher war, ist getilgt, als wäre es ein Hirngespinst gewesen. 

Da war uns klar: Die Szene, die Strauss und Hofmannsthal da hingepackt haben, wollen wir nicht verwenden. Darum habe ich den Chor vom Ende des ersten Akts als Schluss gewählt, der es uns möglich macht, die Liebe als viel weiteren Begriff zu verstehen und in dem nicht alles so schwarz-weiß ist.

Wie geht ihr bei so einer Umdeutung mit der Musik um? Strauss macht ja sehr klar, wann Aufruhr herrscht, wann Verzweiflung, wann Glückseligkeit …

Allein durch die Form der Durchkomposition waren wir manchmal weniger frei. Bei Händel wäre es auf jeden Fall reibungsloser, hier eine berührende Melodie zu nehmen und da was Lustiges und dann kann man sich das alles einfacher zusammenbauen. Bei Strauss geht das nicht. Aber gerade diese Reibung ist hier ja auch so spannend! Wenn diese Musik einmal losgeht, hat sie so eine Kraft, dass man mit einer anderen Theaterform manchmal nicht weiterkommt. Ich finde aber, dass die Ambivalenz unserer anderen Sichtweisen auch unbedingt in der Musik ist. Zum Beispiel bei Färber und Färberin: Auch musikalisch sind die beiden in einem totalen Findungsprozess.

Franziska Junge als Färberin und Joa Helgesson als Färber Barak

Auch der Färber? Ich höre den Findungsprozess nur bei der Färberin.

Das stimmt. Beim Färber ist es immer extrem schön und sehr getragen. Aber ich finde: Manchmal, wenn etwas immer zu schön ist – seine Frau konfrontiert ihn mit ihren existentiellen Fragen und er deckt das wieder nur zu mit diesen schönen Melodien –, dann hat das auch eine Aussage.

»Manchmal spaziere ich abends durch die Straßen und stelle mir vor, wie in einem der Häuser eine große Familie am Tisch sitzt, zusammen isst, lacht und fröhlich ist. Mittendrin steht die Mutter, die ich einmal sein werde. Die Mutter, die ich einmal sein werde, kümmert sich. Die Mutter, die ich einmal sein werde, liebkost ihre Kinder, fragt sie, wie es in der Schule war, wie ihr Tag war und ob sie glücklich sind. So wird sie sein, die Mutter, die ich einmal sein werde. 

Irgendwann merke ich, dass ich niemals diese Mutter sein werde, dass ich diese gar nicht sein will. Ich möchte eins der Kinder sein. Was ich hinter den Häuserfassaden sehe, ist nicht meine Zukunft. Sondern meine Vergangenheit, die es so nie gab.«

Ausschnitt aus der Neuköllner Frau ohne Schatten, Marion Meyer, Dramaturgin an der Neuköllner Oper, 2023

Wie klingt bei euch der Findungsprozess der Färberin? 

Es ist ja schon völlig verrückt, dass sie bei Hofmannsthal eigentlich nur die Rollenbezeichnung ›Frau‹ hat: ›Barak und seine Frau‹. Ich finde die ›Frau‹ toll, weil man am Anfang nicht sagen kann: ›Sie will das und das will sie nicht.‹ Das ist eine wahnsinnig große Identifizierungsmöglichkeit. Gerade bei der Frage um Elternschaft ändert sich die Sicht ja auch. Man wird älter, erlebt Dinge, Prioritäten ändern sich, man kriegt neue Einflüsse, trifft neue Leute, liest neue Bücher. In meinem Bekanntenkreis zum Beispiel haben viele erzählt, dass das Buch Mutterschaft von Sheila Heti ihre Sicht auf das Thema total verändert hat.

Die ›Frau‹, die Färberin, sucht sich, probiert aus: Sie bemüht sich zu kommunizieren. Dieses Gefühl, dass man versucht, einem Menschen zu sagen, was man sich wünscht, und das Gegenüber versteht einen einfach nicht – auch das kennt man doch gut, dass man mit Worten nicht weiterkommt, weil der andere einen einfach nicht hört.

Diese Andersartigkeit wollten wir musikalisch herausheben, indem wir die Frau mit einer Schauspielerin besetzt haben. Sie spricht eine andere Sprache und wird nicht verstanden. Sie versucht zwar, auch seine Sprache zu benutzen, zu singen, bemüht sich, und trotzdem sind sie zu weit voneinander entfernt. Der Text bietet gesprochen nochmal mehr Identifikationsmöglichkeit, einfach, weil man ihn viel besser versteht. Bei Strauss hat die ›Frau‹ zum Teil furchtbar spröde Melodielinien, ständige Intervallsprünge, sie keift die ganze Zeit rum. Das finde ich fast gemein, auf jeden Fall aber undifferenziert. Damit kann man sich nicht identifizieren. Ich wollte aber, dass man ihr zuhört. Es ist ok, in einer Beziehung etwas nicht zu wollen und sich etwas anderes zu wünschen.

Bei euch gibt es in der Oper noch ein drittes Paar, anders als im Original: die Amme, die Begleiterin der Kaiserin, die zur Geisterwelt Keikobads gehört, und der Geisterfürsten Keikobad. Wie ist es dazu gekommen?

Ich wollte nicht nur den Wunsch, Eltern zu sein, beleuchten, sondern auch fragen: Wie ist es denn, wenn man Elternteil ist? Die Abnabelung der Kaiserin von der Amme und auch vom Vater ist im Original ja drin. Mich hat die Frage interessiert: Was ist, wenn die Elternschaft gar nicht das ersehnte Glück ist, auch für eine Partnerschaft? Wenn man als Paar trotz Kind gar nicht mehr funktioniert oder nur noch über das Kind funktioniert – was passiert dann mit dem Paar, wenn das Kind sich abnabelt?

Catrin Kirchner als Amme und Mutter der Kaiserin

Allein ein Satz wie: ›Vater, bist du’s? Drohest du mir aus dem Dunkel her?‹ Es ist eigentlich unglaublich, wie viel Gewalt im Originaltext drin ist und auch wie schnell die Figuren gewaltvoll reagieren. Der Bote, also im Endeffekt der Geisterfürst, verflucht die Amme und schmeißt sie aus der Geisterwelt und sagt: ›Wir vernichten dich, aber dir widerfährt nach dem Gesetz, du brauchst dich also gar nicht zu beschweren.‹

Die Amme hat eigentlich nichts außer diesem Kind, der Kaiserin. Darum will sie deren Verbindung mit dem Kaiser eigentlich nicht. Und darum sagt sie zur Kaiserin auch so traurige Sachen wie: ›Ich bleibe die Dienerin, ich bleibe die Hündin in deinem Hause.‹ Das passt für mich schon zu Lebenswegen unserer Großelterngeneration, die oft auch von extremer Abhängigkeit und Lieblosigkeit geprägt waren. Ich wollte damit auch zeigen, was der Ausgangspunkt ist, wo wir herkommen.


Noch bis zum 24. September ist die Frau ohne Schatten an der Neuköllner Oper zu erleben. Im Vorfeld der Vorstellung findet am 17. September zudem die Gesprächsreihe MUSIKTHEATER VERNETZT zum Thema Gleichstellung statt.

... machte in Köln eine Ausbildung zur Tontechnikerin und arbeitete unter anderem für WDR3 und die Sendung mit der Maus. Es folgten ein Schulmusik- und Geschichtsstudium in Berlin und Bukarest. Heute lehrt sie Musikwissenschaft an der Universität der Künste Berlin und ist Redakteurin bei VAN. merle@van-verlag.com