Nach zwei bajuwarischen Riesengaudis kehrt nun zweimal belgo-berlinische Strenge und Ernsthaftigkeit in die Philharmonie zurück. Denn Gaudis waren es ja, dieses tiefenbedürftige Auferstehungsspektakel Mahler Zwo und jener straussige Riesennietzschejux Alpensinfonie, die Anfang der Woche von Münchner Spitzenorchestern dargeboten wurden. (Dass in einem der Konzerte Alban Berg immerhin einen ins Innerliche wandernden Kontrast zur Alpensinfonie bot, reizt zu Kalauern, die derart naheliegen, dass man sie sich besser verkniffe; aber zu spät, jetzt ist er raus.) 

Doch nicht nur postbergsche Seriosität ist im dieswöchigen Programm der Berliner Philharmoniker zu finden, sondern, wenn man’s genau nimmt, nochmal eine Menge Münchnertum. Nicht nur, weil der Chefdirigent Kirill Petrenko ja zuvor GMD an der Bayerischen Staatsoper war, sondern auch, weil mit Karl Amadeus Hartmann ein waschechter Münchner Weltmensch auf dem Programmzettel steht. Und den Bariton Christian Gerhaher, der Hartmann singt, darf man auch München zuschlagen. 

Gerhaher deklamiert in der endzeitlichen Gesangsszene von 1963, dem durch Komponistentod unvollendet gebliebenen letzten Werk von Hartmann, aufs Allerdeutlichste. Auch in starken Eruptionen immer mit einem Rest stimmlichen Samtes und habitueller Vornehmheit. Sodom und Gomorrha presst er durch die Zähne, wie’s sich gehört: Bericht aus einer Schreckenswelt, nach Theatertext von Jean Giraudoux. Man ist froh über die – obgleich ebenfalls wenig idyllischen – kunstvollen Flötenpassagen von Sébastian Jacot zu Beginn und in einem Intermezzo dieser äußerst düsteren Szene. Die nicht existierende Moloch-Oper aber, die daraus einst (wenn Hartmann älter als 58 geworden wäre) hätte entstehen können: Die hätte mich doch mehr interessiert als, sagen wir mal, Jörg Widmanns arki-abubu-aufgeblasenes Babylon, das vor einigen Jahren seinen Weg von München nach Berlin fand. 

Hartmanns Gesangsszene ist Teil eines, man muss schon sagen, geharnischten Programms, das in Summe durchaus was von harter Watschn für den gediegenen Philharmoniker-Abonnenten darstellt. Wobei Petrenkos Kompromisslosigkeit, die trotz guter Besuchernachfrage durchaus philharmonische Geschäftsschädigungsbedenken hervorrufen könnte, Bewunderung abnötigt. Dieses Programm passt übrigens vorzüglich zum »Monat der zeitgenössischen Musik«, der auch gerade stattfindet: immer eine missliche Überschneidung mit dem Musikfest. Einschlägige und leicht erkennbare Neue-Musik-Größen wie Enno Poppe sieht man darum an diesem Abend im Philharmoniefoyer herumscharwenzeln. 

Mutig ist das Programm aber nicht nur, weil Hartmanns Gesangsszene mit dem Entstehungsjahr 1962/63 das älteste ist und die weiteren Stücke von 1977, 1994 und 2023 stammen: kein Daphnis-et-Chloé-Trost also oder dergleichen nach durchsessener Zeitgenössik, sondern strikte Stange. Mutig ist es auch, weil es Werke mit großteils recht harschen Texturen bietet, statt beispielsweise abkühlungshalber minimalistische Softeis-Inseln zu integrieren. Und nicht zuletzt mutig, weil keins der Werke einen englischen Titel trägt! Das wäre bei Neue-Musik-Festivals heutzutage undenkbar, dort fallen einem ja neben den Gema-optimierten Stücklängen stets die global optimierten Titel auf. Hier aber: Gesangsszene. Jonchaies. Lég-szín-tér. Und Stele.

Klangspektakel sind das aber auch, wenngleich auf andere Weise als Mahler und Strauss. Vor allem Iannis Xenakis natürlich, dessen Musik in mathematisch fundierter, zugleich archaisch tönender Strenge binnen Sekunden einen ungeheuren Sog entwickelt, oder Schub, whatever, jedenfalls etwas, das nicht seinesgleichen hat. Ungebändigte Titanen des nichtgeglätteten Mythos treffen auf Sirenen, aber keine homerischen, sondern des modernen Luftkriegs. Um die vielfach geteilten Streicher von Jonchaies zum Ausbruch zu bringen, sind die Berliner Philharmoniker genau die richtigen.

Und die Uraufführung Lég-szín-tér des 1975 geborenen ungarischen Komponisten Márton Illés würde zu den starken Stücken gehören auch bei Ultraschall oder einem anderen Neue-Musik-Festival, wo die Jörg Widmanns dieser Musikwelt Fremdscham auslösen [note to self: nicht ständig über Widmann lästern]. Illés’ kunstvolles Stück setzt luftiger ein als Xenakis, aber entfesselt dann ebenfalls gewaltige Kräfte, um nach einem gewaltigen Höhepunkt zurück auf sanfte Luftbewegung zu finden. 

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Doch wie gesagt, harnisch-watschig ist das alles schon so als abendliches Gesamtdurchlebnis. Dankbar hört man daher schließlich György Kurtágs Trauermusik Stele, vor dreißig Jahren als Auftragswerk unter dem damaligen Philharmoniker-Chefdirigenten Claudio Abbado entstanden. Dieses Stück hat nun wahrlich auch seine Dringlichkeiten, aber es ist vor allem ein derart verdichtetes, enorm reiches und dabei subtiles Orchesterwerk, dass man es beim einmaligen Hören nicht im Entferntesten ausschöpfen kann. Der hypnotische Schlussteil erscheint mir als eins der faszinierendsten, betörendsten Klanggebilde der Gegenwartsmusik überhaupt. Molto sostenuto als Weltzustand. Eine Entrückung nicht nur von Kurtágs hochkomprimiertem Zwölfminüter, sondern des ganzen Abends.

Man will das immer wieder hören. Und die Berliner Philharmoniker gibt es (Mahler hin, Strauss her, Widmann hin und her), damit sie so etwas spielen, wie kaum ein anderes Orchester es kann. »Aus Neu mach Alt« könnte das Motto dieses ganzen Konzerts sein, im positiven Sinn: das Unerhörte allmählich in Klassiker verwandeln. 

Um es irgendwann dereinst wieder ins Unerhörte-Neue rückzuverwandeln. Einer der führenden, junggebliebenen Köpfe der Alten Musik ist nämlich auch beim Musikfest zu Gast, einen Tag vor den Philharmonikern unter Petrenko: Philippe Herreweghe führt mit seinem Collegium Vocale Gent die h-Moll-Messe von Bach auf. Und er leitet sein Ensemble auch wirklich selbst (anders als letzte Woche der entgleiste John Eliot Gardiner seine Monteverdi-Truppe bei Berlioz’ Les Troyens). 

Wobei man das ja, mit allem Respekt, nicht wirklich »dirigieren« nennen möchte, so rein armbewegungsmäßig und überhaupt. Aber angenehm schnörkellos ist Herreweghe, unweihevoll, auch die Publikums-Ergriffenheit ganz am Ende wird er sachlich abverwalten, alles Fanatische ist diesem Mann fern. Herreweghes Arbeit findet nicht im Bühnenmoment statt, man hat gearbeitet und führt nun auf. Und die h-Moll-Messe auf solchem Niveau zu hören, ist ein großes Glück, trotz des zweiten, gewichtigeren Wobei: wobei der Große Saal der Philharmonie nämlich eben das ist, groß. Zu groß. Hat immer was von Zuhören von draußen vorm Kirchen- oder Himmelsportal. Wir ahnen drei exquisite Holzbläser. Oft eher Darstellung als Vollzug. Mit Pause zudem, zwischen Gloria und Credo. Und wenn einmal ein wirklich arg knarzendes Horn und ein wenig profilierter Basssolist zusammenkommen, muss man als Hörer »historisch« schon wirklich wollen.Trotzdem ist da einiges, was eben doch immer wieder Vollzug und Präsenz schafft: Die Instrumentalsoli der Geigerin Christine Busch und des Flötisten Patrick Beuckels, der sich sehr aktiv dem Publikum zuwendet. Die unter den Sängersolisten herausragende Sopranistin Dorothee Mields. Vor allem aber ist da dieser helltönende Chor, im Credo die Essenz von Glauben vermittelnd, im Incarnatus die mystische Raffinesse der schwebenden Reibungen auskostend. Im einzigartigen Sanctus aber gelingt dem nur achtzehnkehligen Chor das Gespinst einer sängerischen Hundertschaft, ein überirdisches Artefakt. Und schließlich ist da höchste Vergegenwärtigung anderer Art, wenn der Hörer im ergreifenden Agnus Dei all seine Traurigkeiten, Leiden, Ängste und Verluste des eigenen Lebens einer fernnahen Instanz aufladen darf. Uralt, allerneuest. ¶

… lebt in Berlin, liebt Musik, schreibt Romane: u.a. ›Beethovn‹ (2020). Zuletzt erschien ›Silence‹. ✉️ KonzertgaengerBerlin@gmail.com

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