In Amsterdam schüttet es. Über dem Vordach des Bahnhofs Centraal haben sich die Wolken so finster zusammengebraut, als würde jeden Moment der Blitz einschlagen. Okka von der Damerau steht lässig im Parka vor der dramatischen Kulisse. »Als Deern aus dem Norden geht das für mich höchstens als erhöhte Luftfeuchtigkeit durch«, sagt sie, blickt gen Himmel, schüttelt die Tropfen von ihrer Jacke und lacht. Ihre großen blauen Augen leuchten unter der dunklen Kapuze und versprechen wie selbstverständlich Aufklärung und besseres Wetter. Einen Schirm trage sie nie bei sich – viel zu umständlich, findet sie.
Derzeit gastiert die Mezzosopranistin an der Nationale Opera als Fricka – in der letzten Walküre-Wiederaufnahme der legendären Inszenierung von Pierre Audi aus dem Jahr 1998. Freundlicherweise hat sie mich noch vor ihrer Vorstellung vom Bahnhof abgeholt. Wir stolpern durch die verregnete Altstadt, vorbei am Rotlichtviertel und engen Grachten. Fünf Gehminuten von der Oper entfernt hat sie sich eine Wohnung mit geräumiger Küche gemietet. Postkartenausblick, vor dem Haus ein Kahn, auf dem der Wolkenbruch die aufgehängte Wäsche zu triefenden Fetzen gepeitscht hat. Für die Dauer eines Gastengagements ist es Okka von der Damerau wichtig, dass ihre Familie sie jederzeit besuchen kann – ein Teil ihrer Gage fließe daher immer in extra Quadratmeter. Vier Wochen lang liefen die Wiederaufnahmeproben. Eine davon waren ihr Mann und die beiden Söhne bei ihr. Die Proben gingen so oftmals in die Organisation von Museums– und Cafébesuchen über, erzählt sie. Zeit, um auszuruhen, die künstlerischen Akkus zu füllen, ist in von der Dameraus umtriebigem Leben rar. »Ein Spagat«, sagt sie, »aber einer, den ich liebend gerne bereit bin auszuhalten.« Der aber auch nur mit Hilfe ihres Mannes gelinge, betont sie. Seit ihres ersten längeren Aufenthalts in Chicago, der sie 2016 drei Monate von der Familie trennte, hat er seinen Job auf Eis gelegt und kümmert sich um die Kinder, solange sie unterwegs ist. Dass ein Elternteil durchgängig zu Hause ist, sei beiden wichtig.

In zwei Stunden muss Okka von der Damerau bereits in der Maske sein, sich in Wotans herrische Gattin Fricka verwandeln. Trotzdem nimmt sie sich noch Zeit für ein Gespräch. »Zuhören ist für mich elementar. Nicht von ungefähr wird das Ohr auch Fenster zur Seele genannt«, sagt sie und zieht die rechte Augenbraue hoch – mit einer Prise Selbstironie dämpft sie das leichte Pathos ihres Satzes. Okka von der Damerau ist eine poetische Pragmatikerin. Eine Künstlerin, die sich nicht gerne als solche bezeichnet. »Arbeiterin passt besser«, meint sie. Denn letztlich gehe es ums Handwerk, darum, wie präzise man dieses einsetze, wie weit man bereit sei zu gehen. So feile sie so lange an Tönen, bis diese in einem bewussten Verhältnis zu den Worten ihrer Rolle stünden.
Wer Okka von der Damerau auf der Bühne erlebt, ist überrascht von der Natürlichkeit ihrer Diktion, ihrem reichen warmen Timbre und der Mühelosigkeit ihrer Darstellung, die sie aus wenigen Gesten entstehen lässt. Ein Ergebnis, das ohne hohe künstlerische Intuition kaum vorstellbar ist – »aber auch niemals ohne harte Arbeit«, ergänzt sie trocken und schickt ein ansteckendes Lachen hinterher.
Von der Dameraus Weg auf die großen Bühnen war nicht unbedingt vorgezeichnet. Als Kind eines Arztes und einer Designerin sollte sie in die väterliche Praxis einsteigen. »Aber zur Enttäuschung meines Vaters habe ich mich kurz vor dem Abitur dagegen entschieden.« Innerhalb der Familie gehören klassische Musik und Jazz zum guten Ton – die Schwester lernt Flöte, der Bruder Saxophon, sie selbst Klavier – aber an eine Gesangsausbildung denkt niemand. Das ändert sich erst im Gymnasium. Ein aufmerksamer Chorleiter erkennt ihre schöne Stimme, ein engagierter Orchesterdirigent ermutigt sie zu ersten Gesangstunden. Der Wunsch, Gesang zu studieren, reift mit den Vorbereitungen zum Abitur. Doch die ersten Aufnahmeprüfungen scheitern grandios: »Ich hatte einfach keine Ahnung vom Repertoire und wusste nicht, was in dieser Anfangsphase am besten zu meiner Stimme passt.« Aber auch die Mitglieder in den Prüfungskommissionen scheinen hilflos, wo sie ihre große und umfangreiche Stimme einordnen sollen.
Bis es schließlich an der Hochschule für Musik und Theater Rostock klappt, kassiert sie ein halbes Dutzend Absagen. In Lübeck rät man ihr gar, ihren Berufswunsch aufzugeben – mit dem Gesang werde es sicher nie etwas. Über Okka von der Dameraus Gesicht huscht ein Lächeln. Denn mittlerweile wird sie von den Hochschulen umworben. Die Einladungen, sich um eine Gesangsprofessur zu bewerben, schlug sie aber bislang immer aus: »Weil es überhaupt nicht mit meinen anderen Verpflichtungen vereinbar ist«, sagt sie. Viel zu häufig sei sie unterwegs. »Und noch eine Professorin, die nie für ihre Studenten da ist?« Okka von der Damerau runzelt die Stirn.

Angesichts ihres heutigen Erfolgs von Glück zu sprechen, lässt sie nicht gelten: »Das Entscheidende ist, dass ich immer weitergegangen bin. Auch in Situationen, in denen ich mich im Nachhinein selbst wundere, wie ich das tun konnte.« Das habe vielmehr mit großer Hartnäckigkeit, einem gewissen Grad an Leidensfähigkeit und Mut zu tun.
Sie erzählt, wie sie sich nach ihrer ersten Prüfungsschlappe zu einer Lehre entschlossen hat. Um die Zeit sinnvoll zu überbrücken – aber auch um Geld zu verdienen. Bei der Suche nach einem Last-Minute-Ausbildungsplatz rät ihr ein Freund, sich im Berufsinformationszentrum (BIZ) beraten zu lassen. »Ich habe damals ganze Ordner mit Listen durchgeblättert – und bin bei H wie Hörgeräteakustiker hängengeblieben.« Innerhalb eines Monats hat sie gleich zwei Ausbildungsangebote in der Tasche. »Der Bedarf war schon damals groß, aber Hörgeräte galten – und gelten ja bis heute – als nicht besonders sexy, obwohl der Beruf hochspannend ist und sich, genauso wie die Computerbranche, ständig weiterentwickelt.« Ihre Zeit als Akustikerin sieht sie jenseits genauer Schallmessungen und diffiziler Phräsarbeiten vor allem als große Menschenschule. »Akustiker müssen empathische Menschen sein. Denn Hören hängt von Gewohnheiten und Geschmack ab. Lösungsansätze bei Hörverlust sind daher virtuose psychologische Meisterleistungen.« Noch heute hält sie den Kontakt zu früheren Arbeitskolleg*innen. Und die Kunden von damals seien ihr als Publikum treu geblieben, setzt sie augenzwinkernd hinzu. Nein, im Ernst, manchmal ärgere sie sich über das Generationen-Bashing, das der Opern- und Konzertbetrieb anstrenge. Nichts gegen die Bemühungen um neue und junge Zuhörer. Aber die erfahrenen Älteren schätze sie ebenso.
Wir haben vergessen auf die Uhr zu schauen – Okka von der Damerau ist spät dran, in zwanzig Minuten beginnt ihre Maskenzeit. Trotzdem bleibt sie freundlich. Durch ihre beiden Jungs habe sie gelernt, keine großen Extras einzufordern und Allüren erst gar nicht aufkommen zu lassen. Als Warm-up reiche ein Stimm-Stretching von circa 10 Minuten, anschließend würde sie die Partie nochmals in Gedanken durchgehen. Das könne sie aber auch in der Maske erledigen – sofern sie dort nicht auch noch mit Fragen gelöchert werde, setzt sie schmunzelnd hinzu.

Als Fricka feiert Okka von der Damerau in Amsterdam ihr Debüt. Das Stück kennt sie gut – in Inszenierungen von Frank Castorf und Andreas Kriegenburg sang sie schon früher eine der Walküren. An diesem Abend klingt Wotans Gattin wie für sie komponiert. Sie belebt das abstrakte Bühnenbild George Tsypins, das wie ein mächtiger Jahresring Orchester und Publikum umschließt mit einer feinen Mischung aus Eleganz und Witz. Der inzwischen statisch wirkenden Inszenierung nimmt sie damit viel von ihrem heiligen Ernst – ohne ihn zu zerstören. Im weißen fließenden Gewand zieht sie alle Blicke auf sich. Jede Bewegung, jeder Blick sitzt. Und wie sie Wotan ins Gewissen redet, bleibt im Ohr: frisch pointiert, mit einer Farbigkeit und Differenziertheit wie man sie in dieser Rolle selten hört.

Dabei sei die Liebe zu Wagner eine auf den zweiten Blick, sagt sie nach der Vorstellung im Café. Ein Korrepetitor in Rostock schlug ihr nach der Zwischenprüfung erstmals vor, die Erda zu probieren. Und am Ende ihres Studiums in Freiburg habe sie der Vorsitzende des dortigen Wagnerverbandes gefragt, ob sie nicht am Wettbewerb »Junge Wagnerstimmen« teilnehmen wolle. Sie selbst blieb anfangs skeptisch: »Da spukten noch die oft üblichen Vorbehalte in meinem Kopf – Wagner, der Antisemit – und Lieblingskomponist Hitlers. Aber als ich mich in dieses Repertoire vertiefte, hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, mich nicht bremsen zu müssen – weder stimmlich noch musikalisch.« Unmittelbar nach der Opernschule in Stuttgart gewinnt sie 2006 den Sonderpreis des Wagner-Wettbewerbs. Ihr erstes Festengagement in Hannover folgt. Doch das dramatische Fach bleibt vorerst im Hintergrund. Sie singt Mozarts dritte Dame, Suzuki, Hänsel, auch zeitgenössische Musik. Selbst als sie 2010 an die Bayerische Staatsoper wechselt, ändert sich das zunächst nicht. Weiterhin wird sie in kleineren und mittleren Rollen besetzt. Eine Situation, aus der sie das beste macht – denn ihre Stimme kann sich in Ruhe weiterentwickeln. Von der Flexibilität, die sie durch die lyrischen Partien trainiert, profitieren die dramatischeren Rollen. Erste Kostproben gibt sie 2011 und 2012 als Floßhilde und Grimgerde am Haus. Dann fragt Bayreuth an – für den Ring mit Frank Castorf und Kirill Petrenko. Rückblickend ein Schlüsselerlebnis ihrer künstlerischen Entwicklung. »Mit zwei so unterschiedlichen Persönlichkeiten zusammenzuarbeiten, war eine riesige Herausforderung – aber auch ein großes Glück.« Während Petrenko im Graben äußerste Präzision fordert, verlangt Castorf auf der Bühne wilde Grenzüberschreitungen. »Mit Castorf verstand ich mich auf Anhieb. Er ist ein Regisseur, der meine Eigenwilligkeit schätzt und mir enormen Freiraum in der Darstellung bot, aber auch einforderte, diesen zu nutzen. Ich fühlte mich in den Proben unglaublich wohl.« Mit ihren Rheintöchter-Kolleginnen taucht sie im pinken Abendkleid für Unterwasseraufnahmen im Bayreuther Hallenbad, watet bei sportlichen Temperaturen in der Dämmerung in den Fichtelsee – während sich Castorf freut, derart experimentierfreudige Sängerinnen gefunden zu haben. »Er war einfach erstaunt, dass wir so vorbehaltlos mitspielten.« Kichernd erinnert sie sich, wie sie einen Bayreuther Nacktschwimmer aufscheuchten. »Wir posierten im Schlauchboot mit diesen wahnsinnig langen blonden Kunsthaarperücken – und er traute sich nicht mehr aus dem Wasser.«

Mit Castorf verbindet Okka von der Damerau seither eine enge künstlerische Freundschaft und Petrenko, der kurz nach seinem Bayreuth-Debüt Generalmusikdirektor in München wird, bleibt ein entscheidender Wegbegleiter.
Über ihr Festengagement in München sei sie sehr glücklich, sagt sie. Auch als Nordpflanze fühle sie sich hier mittlerweile heimisch. Was nicht nur an den Kolleg*innen liege, die mit ihr auf der Bühne stünden, sondern insbesondere an jenen, die hinter den Kulissen die künstlerische Arbeit erst ermöglichten. Sie schätzt die professionelle, vertraute Atmosphäre und ist dankbar, in derselben Stadt arbeiten zu können, in der ihre Familie lebt.
Und – München verbindet sie mit Zubin Metha. 2014 singt sie ihm für die bevorstehende Maskenball-Produktion am Haus Ulrica vor. »Er sollte den Daumen heben oder senken« – erinnert sie sich. Metha streckt beide Daumen empor – und ist überzeugt, in ihr nicht nur die richtige Ulrica gefunden zu haben, sondern auch seine künftige Altistin für Mahler und Schönberg.
Noch vor der Maskenball-Premiere engagiert er sie als Solistin in Schönbergs Gurre-Liedern. Von der Damerau ist überrascht, dass der Dirigent sich nur von seinem Ohr und seiner Erfahrung leiten ließ. »Das empfinde ich als echte Nachwuchsförderung.« Denn Entscheidungen, die rein nach musikalischen und künstlerischen Kriterien gefällt würden, seien inzwischen rar. »Meistens wird im Business erst einmal Bestätigung gesammelt, man versucht sich abzusichern. Das entspricht auch unserer Zeit, die merkwürdig profilarm geworden ist«, sagt sie. »Aber Zubin Mehta hat mir immens viel Vertrauen geschenkt – ohne mich lange zu kennen. Dabei bin ich ein riesiges Stück gewachsen.« Im Oktober 2019 hat sie in seinem letzten Konzert als Chefdirigent des Israel Philharmonic in Tel Aviv gesungen: »Ein hochemotionaler Moment! Und ich bin sehr froh, dass ich ihn teilen durfte. Weil ich hier in der Musik und um die Musik herum eine Verbindung spürte, die diesen Beruf tatsächlich zu etwas besonderem macht.«
Zubin Mehta und Ulrica sind das Sprungbrett an die Spitze ihrer Zunft. Sie arbeitet seitdem mit Daniel Barenboim, Yannick Nézet-Séguin, Simone Young, Antonio Pappano, Franz Welser-Möst – in Berlin, Stuttgart, Dresden, Wien, Mailand, Madrid, Chicago und wird in der kommenden Spielzeit an der Met debütieren. Kein Grund abzuheben, findet von der Damerau, grinst und erzählt von ihrem Vater, der sie vor kurzem extra in Amsterdam besuchte, um mit ihr Kaffee zu trinken. Aber in den Zug vor ihrer Vorstellung stieg – weil er, wie auch der Rest ihrer Familie, für Oper einfach kein offenes Ohr habe.
Okka von der Damerau, die große, vielseitige Sängerin bleibt jenseits der Bühne lieber eine genaue Zuhörerin als die Ton-Angeberin – trotz ihrer Schlagfertigkeit und ihres trockenen Humors. Sieht sie sich als Künstlerin nicht auch als Botschafterin? »Botschafterin ist ein zu großes Wort«, sagt sie. Klar, als öffentliche Person sei man im Fokus – und übernehme damit auch mehr Verantwortung. Sie sei politisch und gesellschaftlich interessiert. Für eine freie Gesellschaft einzutreten, in der sich unterschiedliche Kulturen, Altersgruppen und Geschlechter entfalten könnten, bedeute ihr viel. Aber ihr Engagement spiele sich meist jenseits des Rampenlichts ab – und »keinesfalls für ein Gutmenschen-Image«, betont sie. »Nur so viel«, fügt sie hinzu: »Mir ist sehr bewusst, dass unsere Freiheit auf der Bühne und im Alltag heute keine Selbstverständlichkeiten mehr sind – und es wäre immens wichtig, dass das Theater an dieser Stelle mutiger würde.«
Inzwischen stehen wir wieder auf der Straße. Der Regen hat aufgehört und der Himmel seine Rembrandt-Dramatik verloren. Nach all dem Feuer, Donner und Rauch auf der Bühne, mit denen Pierre Audi seinem Publikum Wagners Mystik einst ganz nahebringen wollte, wirken die bunten Lichterketten, die sich draußen um Kähne und Giebel winden wie ein erlösendes Nachspiel. Oder nicht? Okka von der Damerau lächelt, schüttelt ihre Locken und schaut prüfend in den glitzernden Nachthimmel. ¶
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