Es gibt Menschen in »führenden Positionen« des Musikleben Deutschlands, die Zwölftonmusik nach eigenen Angaben »hassen«. Man kann jetzt gefühlig fragen: »Woher eigentlich dieser Hass?« Man kann aber auch einfach kurz sagen, warum es Zwölftonmusik überhaupt gibt und wie sie funktioniert.

Eine mir bekannte (echte) Prinzessin – eine Malerin – hatte auf ihrer Gästetoilette ein Spruchbild hängen: »In der Kunst gibt es genauso wenig einen Fortschritt wie in der Sexualität.« Quelle: Weiß ich nicht mehr, ist auch egal. Wichtig ist: Der Ausspruch stimmt für mein Empfinden nicht. Es ist jeweils einfach kein »technischer« Fortschritt gemeint. Großer Irrtum.

Kurz gesagt: Die (primär mitteleuropäische) Kunstmusik des 19. Jahrhunderts entwickelte sich dergestalt, dass »heimatlich« und »natürlich« klingende Harmonie-Konstellationen immer mehr »verschleiert« wurden. Weder gab es bei Richard Wagner und vielen anderen irgendwann ein gefühltes harmonisches »Zuhause«, in dem man länger wohlig verweilen konnte, ja: Es gab noch nicht einmal mehr »Schlüsse« (halt nur ganz am Schluss der jeweiligen Akte von Wagners Musikdramen). Zumindest echt selten.

Die entsprechende Harmonik des 19. Jahrhunderts sappschte also immer freier von Klang zu Klang – und wurde immer wieder durch sehr enge Tonschritte (Chromatik) verbunden. Der »Tristan-Akkord« (Uraufführung von Wagners Tristan und Isolde: 1865) erwuchs zum gut vermarktbaren – weil den Beginn eines prominenten Werkes bildenden – »Ausgangspunkt für die Auflösung der Tonalität«.

Mit dem freien Umgang in der überkommenen traditionellen dur-moll-tonalen Harmonik ging zunehmend ein gewisses Gefallen an Dissonanzen einher. Dazu kamen (grauenvolle) geschichtliche Ereignisse – und ein bedeutender Musikphilosoph. Aber das führt hier zu weit. Vor genau 100 Jahren schrieb der Komponist Arnold Schönberg (1874–1951) an seinen Schüler Josef Rufer (1893–1985): »Ich habe eine Entdeckung gemacht, durch welche die Vorherrschaft der deutschen Musik für die nächsten hundert Jahre gesichert ist.«

Diese »Entdeckung« machten andere zu dieser Zeit auch, aber Schönberg war der Big Player im Dodekaphonie-Game. Es braucht offenbar »große Namen«, um Dinge prominent erscheinen zu lassen. Fest steht dabei: Gott sei Dank sicherte niemand »uns« so etwas wie »Vorherrschaft«, wozu die Geschichte selbst beitragen sollte… Und im Grunde müsste, würde sich die »Vorherrschaft der deutschen Musik« tatsächlich ausgehend von Schönbergs »Entdeckung« der »Zwölftontechnik« denken lassen, diese heute, in diesem Jahr, jetzt (2021) beendet sein. 

Schönberg suchte nach einer Art des Komponierens, die dem dur-moll-tonalen System etwas Neues entgegensetzen und das »Alte« (Beethoven, Wagner und so…) doch im Hinterkopf behalten konnte. Sehr kurz (ja, wirklich: verkürzend!) gesagt: Die tonliche Engschrittigkeit Wagners veranlasste Schönberg, alle Halbtöne (also beispielsweise alle zwölf hintereinander aufgereihten schwarzen und weißen Tasten auf der Klaviatur) als »gleichberechtigt« zu verstehen. Keine der (nun einmal »naturgemäß« zwölf) Töne sollte wiederholt werden, bevor nicht die anderen erklungen sind. Ein neues System halt. Systeme, ja: Wir brauchen sie, sie nerven aber auch schnell. Und engen uns ein.

Ummodelungen, Spiegelungen und so weiter von diesen eher nicht memorierbaren Zwölftonreihen waren aber erlaubt bis gewünscht. Man will ja wahnsinnig intellektuell sein – und irgendwie am besten auch gleich an Johann Sebastian Bach anknüpfen (der als Spät-Fugist seiner Zeit alles umkehrte, verlängerte, was nicht bei der dritten Zählzeit auf den Bäumen war.)

So kommt es, dass in dem bekanntesten zwölftönigen Klavierwerk von Schönberg-Schüler Anton Webern (1883–1945) – den Variationen für Klavier op. 27 (1936) – viele Tonwiederholungen vorkommen. Denn Tonwiederholungen sind (meistens) cool – und halt in Zwölftönigkeit erlaubt. Bringen Pep und Witz. Denken wir uns also eine Tonreihe (erst einmal egal, aus welchen unterschiedlichen Tönen bestehend) – und stellen uns gleichzeitig vor, dass wir diese Tonreihe vor einen Spiegel halten und die Tonreihe, so wie im Spiegel jetzt erspäht, neben der Original-Reihe verwenden wollen, dann ist ja klar, dass Wiederholungen entstehen. Oder anders: Wir stellen uns vor einen Spiegel und machen mit den Händen jeweils eine Faust. Die eine Faust halten wir uns vor die Brust, die andere weit von uns weg an den Spiegel. Die Faust direkt vor dem Spiegel repräsentiert den letzten Ton einer Reihe. Dieser letzte Reihenton muss aber als erster Ton ertönen, wenn wir mit einer Spiegelung in unserer Komposition arbeiten. Völlig logisch.

Im Falle von Weberns Variationen op. 27 erklingt das »Thema« niemals in »Reinform«. »Themen« sind in der zwölftönigen Musik keine gut pfeifbaren Melodien (geht aber auch!), sondern halt: Tonreihen. Häufig (absichtlich) »krumm und schief«, von hier nach dort gehend. (Man will ja nicht tonal klingen – und somit ins »alte System« zurückfallen.) Was variiert Webern also in seinen Variationen op. 27? Er variiert eine Zwölftonreihe! Diese tritt aber nicht hübsch brav ganz zu Beginn der Variationen op. 27 auf. Nein, die Reihe wird von Anfang an variiert – und vor allem in Gestalt gerade auf dem Klavier von einer Hand noch gut greifbarer Doppelgriffe. Alles ist hier schon Verarbeitung, in sich vergruschtelt – und ein bisschen intellektuell. Keine Musik zum Frühstück, sondern ein (sinnliches!) Kopfvergnügen, das man am besten live erlebt. 

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1. Sehr mäßig

Diese Musik will – vielleicht unerwartet seitens der Rezipierenden – sinnlich gespielt werden. Nicht überverkopft! Warum denn auch? Das ist ein bisschen »ausgerechnete Musik«. Na und? Das sind aber vor allem Gesten, die wie gesprochene Sätze daherkommen. 

Bereits die ersten vier gestischen Gestalten des Beginns (Sehr mäßig) bilden eine Variation, wobei die dritte und vierte Gestalt die gespiegelte Variante der ersten beiden darstellen. Die Spiegelungen sind aber nicht nur rein theoretisch – also nur durch die Analyse des Werkes – erfahrbar. In seinem 1936 komponierten und 1937 uraufgeführten Opus 27 schafft es Webern, die Spiegelungen der thematischen Zwölftonreihe durch sich öffnende und wieder schließende Bewegungen der musikalischen Gestalten greifbar zu machen. Obwohl dieses Stück ein Stück weit mit zum kompositionsgeschichtlichen Ausgangspunkt der seriellen Musik wurde, der Musik also, die die Musik – so Dynamik, Rhythmus und Melodik – »mathematisch« durchzuorganisieren sich anschickte, ist es selbst alles andere als vom Ausdruck her kühl und unpersönlich.

Am 26. Oktober 1927 fand die Uraufführung des Werkes durch Peter Stadlen (1910–1996) statt. Dabei ist überliefert, dass Webern dem Pianisten Anweisungen wie »enthusiastisch pathetisch« oder »nachdenklich« in die Noten schrieb. Die frühe Zwölftonmusik erscheint unter diesem Gesichtspunkt hier keineswegs als entseelt. Oder hatte Webern nur Angst, dass seine neue Musik tatsächlich als »nur kalt« verstanden wird? Nein. Für ihn war es immer noch »schöne Musik« – irgendwie aus dem Geiste der Romantik erfunden. Im Sinne von: »Nur, weil ich manchmal rätselhaft daherrede, bin ich dennoch liebenswert!«

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Yvonne Loriod (1961)

Die zum Zeitpunkt der Einspielung (1961) 37-jährige Yvonne Loriod (1924–2010) schließt die Gesten jeweils mit einem – vom Komponisten ausdrücklich nicht verzeichneten – Staccato ab. Die mündlich überlieferte Spielanweisung Weberns »Verhaltener Klageruf« zu Beginn geht: hopps. Das muss nicht falsch sein. Gerade hierzulande jagen wir in der Musikwissenschaft häufig der bis heute überlebt habenden – Wahnsinn eigentlich –»Frage nach der Komponistenintention« hinterher. Als hätte es den »Tod des Autors« in den 1970er Jahren nicht gegeben.

Gleichwohl: Die Gesten Loriods wirken liebevoll, aber mehr wie ein leise geflüsterter Kinder-Joke. Dafür groovt das Ganze irgendwie merkwürdig anhörenswert. Die Ritardandi tätscheln ein wenig aufgesagt ins Ohr. Und der kuriose Mittelteil – ganz klar vernehmen wir eine »A-B-A-Form«, wie schön! – kommt hier störrisch und furztrocken daher. Da könnte man doch mit Pedal-Überraschungen mehr draus zaubern. 

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Charles Rosen (1969)

Mit 42 Jahren war Charles Rosen (1927–2012) zum Zeitpunkt seiner im Studio aufgenommenen Webern-Interpretation etwas älter als Loriod. Viel langsamer und abwartender klingt das nun. Mit mehr Pedal. An- und abgehoben. Desillusionierend. Und mit vielleicht ein bisschen zu wenig Spannung im Mittelteil, der auch etwas fülliger als bei Loriod ertönt. Begeistert mich (noch) nicht.

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Glenn Gould (1974)

Glenn Gould (1932–1982, damals – 1974 – ebenfalls exakt 42 Jahre alt) galt ein wenig als Spezialist für verkopfte Musik. Absolut elitär und dem (verachteten) Publikum gegenüber herablassend in seiner (überhaupt nicht guten) Musikvermittlung. (Man schaue die vielen Gouldschen »Erklär-Videos« auf YouTube an. Furchtbar, auch musikalisch.)

Gould spielt diese Musik sehr ähnlich wie Loriod und Rosen. Am Ende etwas zu zopfig abphrasiert. Der Mittelteil gelingt ihm besser, fülliger – und lustvoller. Überhaupt gibt es bei Webern sonst zu viel Spaßbefreitheit bei den Spielenden! Warum sollte diese Musik nicht auch lustig sein dürfen? Bisher die mit Abstand beste Interpretation. Trotz Glenn Gould. (Nein, er konnte natürlich wunderbar lyrisch, wenn er wollte. Und dieser Eindruck stellt sich im Verlauf seiner Webern-Interpretation ebenfalls ein.) Hier ist er Poet, nicht nur Konstrukteur. Er hat Freude an der Musik. Das Ganze klingt durchwirkt, bewusst und doch spontan. Schöne Figuren, kleine Krassheiten, doch nicht forciert.

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Maurizio Pollini (1978)

Maurizio Pollini (*1942, zum Zeitpunkt der Einspielung im Jahr 1978 gerade einmal 36) bringt die Spiegelungen zwar etwas »aufgesagt« zu Gehör, aber endlich spürt man die Mini-Konstruktionen Weberns einmal! Pollini hört sich zu, beschönigt – ganz Neue-Musik-erfahren – nichts und kann sogar Pianissimo. Mit kühlem und dennoch nicht entseeltem Blick voran. Sehr gut.

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Sviatoslav Richter (1989)

Sviatoslav Richter (1915–1997, damals 74 Jahre) spielte am 19. Februar 1989 live in Wien im Yamaha Center ein Programm mit Prokofjew, Strawinsky, Schostakowitsch, Bartók, Szymanowski, Hindemith – und eben Webern, wohl als Verbindung von »russischer Klavierschule« und »Zweiter Wiener Schule« (mit dem übrigbleibenden Verweis auf Webern – und leichtem Wink zu Hindemith). Ein Programm, passend zu dieser Zeit der letzten Zuckungen des Eisernen Vorhangs.

Richter gibt viel mehr Klang als die anderen. Kein Staccato an den jeweiligen Phrasenenden, sondern Pedal-Nachbrütungen. Wunderbar, wie er sich in Takt 18 romantisch verfängt – und in den anschließenden Tonwiederholungsspielungsneckereien voll aufgeht. Das ist verdammt lebendig – und einfach (wie fast immer bei Richter) groß und hervorragend.

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Mitsuko Uchida (2000)

Mitsuko Uchida (* 1948, im Jahr 2000 52 Jahre alt) kriecht am langsamsten durch Weberns erste Variation. Ganz bedächtig und mit dem konstruktivistischen Gestus des Schildkrötigen. Die leisen Gestalten gelingen dabei sehr fein. Und die Überraschung des lospolternden Mittelteils geht sich aus. Vor allem sind es die dynamischen Konsequentheiten in den Umkehrungs-Tonwiederholungs-Momenten, die aufhören lassen. Trotzdem scheint mir das Tempo zu kaugummiartig gewählt.

Liebe Freunde, es wird immer ärger auf der Welt, vor allem auf dem Gebiete der Künste. Und unsere Aufgabe wird immer größer und größer.

(Webern an seine Vertraute Hildegard Jone, deren Texte er mehrfach vertonte, 27. September 1930)

2. Sehr schnell

Der zweite Satz bildet gewissermaßen (trotz des 2/4-Taktes) das »Scherzo«. Hohe und tiefe Töne erklingen ein wenig hurzmäßig über die Klaviatur verstreut. Als sei ein Haydn- oder Beethoven-Sonaten-Scherzo verrückt geworden. Und tatsächlich: Den Zusammenhang dieser Takte zu Beethovens Musik finde ich eklatant. Es gibt diese Stellen im ersten Satz von Beethovens letzter Klaviersonate c-Moll op. 111 (Interpretationsvergleich: hier), dieser Tonsprung von f“‘ zu Des… Als sei hier das Bonmot Weberns – anlässlich eines Hinweises an den Uraufführungsdirigenten seiner Symphonie op. 21 (1927–1928), Otto Klemperer – schon früh anwendbar gewesen: »Ein hoher Ton, ein tiefer Ton, ein Ton in der Mitten – wie die Musik eines Wahnsinnigen!«

Variation II bei Webern besteht gewissermaßen nur aus – teilweise stante pede gespiegelten – Großsprüngen, die allerdings viel gelassener über die Tastatur getupft und ge(s)tanzt werden als in Beethovens Takt 48. (Die neue Gelassenheit Weberns beruhte auf dem Vertrauen in das neue Zwölfton-System. Weberns erste zwölftönige Werke waren simpler als die viel aufregenderen, expressiveren, tonreicheren Super-Spätromantik-Momente der Werke zuvor! Als müsste Webern, weil er noch kein neues »System« hatte, durch Tonreichtum und Dichte etwas kompensieren.)

Überhaupt: Beethoven und Webern: Letzterer verordnete seinen Schülern regelmäßig Beethoven-Analysen als Hausaufgabe. Beethovens Werke wurde gegen Ende seines Lebens immer länger. Die von Webern immer kürzer. Und Webern knüpft in seinen Streichquartetten quasi unmittelbar an die Zerbrechlichkeit der späten Streichquartette Beethovens an. 

Doch Weberns Musik ist hier – im sehr kurzen zweiten Satz – seiner Variationen noch gestalterischer, was die irgendwie auch ziemlich witzige (»Scherzo« halt) Erfahrung körperlicher Gestalterfühlung musikalischer Ideen angeht. Die musikalische Idee ist an dieser Stelle: eine spezielle Umkehrungs-, Spiegelungswut (»Die Wut über den umgedrehten Groschen«). Das geht soweit, dass er den Interpretinnen und Interpreten des Stückes abverlangt, dass sie sich – vermeintlich ohne Not – verrenken.

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Yvonne Loriod (1961)

Ganz nah dran ist das Mikrofon bei der Aufnahme von Yvonne Loriod. Das ist trocken, das ist konsequent. Da kam man eigentlich nicht viel sagen. So wird das in der Regel gespielt. Und das ist nicht schlecht.

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Glenn Gould (1974)

»Verrenkung?« Wie ist das gemeint? In den Takten 12 und 13 soll in der linken Hand in schneller Abfolge ein tiefer Ton (H) und in der rechten Hand ein hoher Ton (g’’’) erklingen. Dann folgt der gestische Spiegel, auch körperlich! Der hohe Ton soll nun übergreifend mit Links, der tiefe Ton mit Rechts gespielt werden. Das geht gerne mal schief – und man sollte diese Takte keinesfalls vereinfachen. Doch genau in diese Falle tappt Glenn Gould, der so unklug war, sich dabei filmen zu lassen! 

Ich bin zur Zeit wieder sehr von meiner Arbeit abgehalten. Aber ich glaube einen guten Grund zu etwas Neuem (für Orchester) gelegt zu haben. Ich habe eine »Reihe« (das sind die 12 Töne) gefunden, die an sich schon sehr weitgehende Beziehungen (der 12 Töne unter sich) aufweist.

(Webern an Jone, 11. März 1931)

Gould geht dabei recht hektisch zu Werke, gewinnt gleichsam dadurch mehr Spannung als Loriod. Auch der Schluss-Joke gelingt. Nur der Fauxpas der vereinfachten Übergreif-Stelle wiegt schwer. 

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Charles Rosen (1969)

Charles Rosen nimmt ein ganz leichtes, flinkes Tempo – und auch seine Haltung ist locker, befreit und scherzoartig. Das fluppt und boingt – und macht richtig viel Spaß! Vergleichsweise hier am überzeugendsten.

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Maurizio Pollini (1978)

Ähnlich flugs spielt Pollini die zweite Variation. Nur krasser, serieller in der Dynamik. Das ist ja im Grunde früher Boulez – und also ist Pollini völlig zuhause. Schon toll.

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Sviatoslav Richter (1989)

Richter langt herrlich zu. Bei ihm wird Webern zu Rachmaninow. Wie unpassend – und lecker! Die Töne sind einfach viel schwergewichtiger. Und dennoch entsteht faszinierende Musik, wiewohl die dynamischen Differenzierungen ein wenig unter den gedeckten Zwölftontisch fallen.

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Mitsuko Uchida (2000)

Ein mittleres Tempo nimmt Uchida für das »Scherzo«. Doch leider zu langweilig. Weder in Tempo noch im Ausdruck noch in der Dynamik radikal. Und dadurch einfach unwitzig. Und das kann angesichts dieser wenigen Sekunden Zwölfton-Spiegelungs-Spaß aus Weberns Händen einfach nicht sein!

3. Ruhig fließend

Der letzte Satz von Weberns – übrigens vergleichsweise häufig gespielten, weil technisch recht simpel zu realisierenden – Variationen gibt die längste Strecke des Werkes vor. Besinnung, ausgeknipste Lichter, leichte Erregungen, Stockungen, wütende Einzel-Ton-Stampfer. Am Ende wieder ähnliche Sprech-Sprach-Gesten wie ganz zu Beginn des Stücks. Der Kreis schließt sich. Klang gegen Gegenklang. Wunderschön. Poetisch. 

Liebe Freunde – ich bin »eingezogen« worden: zur Luftschutz-Polizei: ich musste diesen Montag, d. 17. IV., einrücken. D. h. ich bin »kaserniert«, kann nicht zu Hause wohnen und so meiner Arbeit völlig entrissen!!! (…) Ich bin müde, abgekämpft!

(Webern an Jone und Humplik, 29. April 1944)
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Yvonne Loriod (1961)

Mit jetzt schon gewohnter Trockenheit und aufnahmetechnischer Nähe: Yvonne Loriod. Ein wenig unlyrisch. Ihr Pianissimo ist dabei konsequent und differenziert. Doch diese neutönerische Trockenheit: fast schon klischeehaft exerziert. 

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Charles Rosen (1969) 

Charakterstärker klingt das Ganze bei Charles Rosen. Irgendwie schon fast leicht genervt. Also gut. Die kurz tänzerischen Pianissimo-Tupfer tönen sehr leise und milde. Sensitiv und dennoch nicht falsch romantisch. Ich kann sehr gut damit leben.

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Glenn Gould (1974)

In der Luft mit der linken Hand rudernd dirigiert sich Glenn Gould selbst. Als gälte es, hier einen Preis in der Kategorie »Irgendwie bescheuerte Elite-Nerd-Klassik« zu gewinnen. Dabei gibt es sogar schöne akkordische Mittel-Klaviatur-Momente zu erleben. Hier und dort einen bisschen »Tristan«. Nicht schlecht. Gould droppt immer mal wieder Tonwiederholungsspielungsspielchen völlig fluppig weg. Lustig. Aber trotzdem längst keine Referenzeinspielung (mehr).

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Maurizio Pollini (1978) 

Wieder beweist Pollini seine schon damals exorbitante Erfahrung mit pointilistischer Musik. Jeder Ton erscheint dort, wo er erscheinen soll. In der richtigen Dynamik und an der rhythmisch korrekten Stelle. Nur passiert hier etwas, was dann doch zu häufig bei Pollini geschieht: Es lässt auf Dauer kalt. Mich jedenfalls.

Die Aufregungen der letzten Tage sind ungeheuer und werden es immer mehr. Es ist kaum möglich, einen Gedanken zu fassen. (…) Und jetzt wieder – Frau Jone! Geschützdonner, Maschinengewehrgeknatter. Ich will nur Ihre Worte anführen: »Dass wir auf Erden nicht allein, hat nur das Licht getan.«

(Webern an Jone zur Zeit der Februarkämpfe 1934 in Wien, 14. Februar 1934. Webern wurde am 15. September 1945 in Mittersill bei Zell am See von einem Soldaten der US-Armee unter tragischen Umständen versehentlich erschossen: Man durchsuchte sein Haus, weil sein eigener Schwiegersohn des Schwarzmarkthandels verdächtig wurde. Webern drängte es, sich in dieser unangenehmen Situation vor der Haustür eine Zigarre anzustecken. Im Flur begegnet er unerwartet einem der versammelten US-Soldaten. Der Soldat erschrickt sich, glaubt vielleicht an einen Angriff. Jedenfalls gerät er in Panik und schießt drei Mal auf Webern. Dieser taumelt zurück in das Innere des Hauses – und stirbt im Alter von 61 Jahren.)
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Mitsuko Uchida (2000)

Die beste Variation Uchidas. Sie kostet die Pausen schön aus. Wirklich »nachdenklich« ertönt zum Beispiel das cis’’ in Takt 8, über das Webern tatsächlich einst »nachdenklich« schrieb. Nur die anschließend vom Komponisten verlangte Exaltiertheit geht in der überkorrekten Spitzfingrigkeit Uchidas ein wenig flöten. 

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Sviatoslav Richter (1989)

Richter verlangsamt krass. Mit Abstand die radikalste Interpretation! Die Töne: romantisch wie bei einem späten Brahms! Über jeden Ton wird sinniert. Die Gefahr des Auseinanderfallens. Doch zusammengehalten in Richters Hände Kraft! Unsere Reise durch eine Zwölftonreihe. Liebevoll – und einfach ganz fantastisch. Meine Empfehlung!

Überhaupt macht Zwölftonmusik am meisten Spaß, wenn man – wie heute geschehen – den jeweiligen Vergleich bemüht, und nicht so tut, als sei diese Musik irgendwie »kalt« oder »unmenschlich«. Je mehr Menschlichkeit desto mehr Spaß! ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.

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