Eine Fotografie von Richard Wagner steht, nicht zu übersehen, auf dem Grand Piano im Salon, als sich Augusta Holmès zum ersten und wahrscheinlich auch letzten Mal in ihrer Wohnung in der Rue Juliette Lambert 30 porträtieren lässt (nachzusehen und nachzulesen in einem Aufsatz von Karen Henson). Holmès selbst steht an den Tasten ihres Arbeitsgeräts, senkrecht wie ein Soldat, bereit zum Gruß. Ein zweites Bild, aus der gleichen Serie, aufgenommen von Henri Mairet am 15. Dezember 1894, zeigt sie am Schreibtisch. Wiederum kerzengerade sitzt sie da, mit der Feder in der Hand. Sie arbeitet gerade an einer großformatigen Orchesterpartitur. Seitlich an der Wand hängt wiederum ein Wagnerbild. 

Diese Selbstinszenierung einer Komponistin am Ende des neunzehnten Jahrhunderts widerspricht, wie Karen Henson im Cambridge Opera Journal anno 1997 bemerkte, in jeder Hinsicht dem, was komponierende Frauen zu diesem Zeitpunkt noch über sich selbst und andere über sie zu sagen wußten: »Ein Frauenzimmer muß nicht komponieren wollen, es konnte es noch keine…« 

Auf diese Formel der Selbstzweifel hatte es sechzig Jahre vor Holmès noch Clara Schumann, verheiratet, sieben Kinder, gebracht. Holmès wollte und konnte. Sie war finanziell unabhängig, blieb unverheiratet, hatte drei Töchter und zog die Sache durch, wie ein Mann. Ja, klar, sie komponierte, wie andere Frauen auch, kleine lyrische Sachen fürs traute Heim, Klavierstücke und Lieder. Aber vor allem schrieb sie stark besetzte Orchestermusik für die Öffentlichkeit, dramatische Kantaten wie Les Argonautes, für die sie sich die Texte selber dichtete, symphonische Dichtungen wie Androméde und vier Opern, ebenfalls nach eigenen Libretti und klassischen Stoffen: Lancelot du Lac, Astarté, Héro et Léandre und, zuletzt: La Montagne Noire – zu deutsch: Der Schwarze Berg.

Nur für das letzte Werk, das einen dem Tannhäuser verwandten historischen Stoff aus dem spätmittelalterlichen Montenegro aufbereitet, konnte Holmès eine Aufführung an der Pariser Oper und einen Achtungserfolg erkämpfen. Jetzt hat das Opernhaus in Dortmund, 128 Jahre später, das Stück erneut zur Diskussion gestellt. Einerseits mit Hilfe der Stiftung Palazzetto Bru Zane, die sich seit 2009 mit der Ausgrabung vergessener französischer Musik befasst. Sie recherchierte und restaurierte das Aufführungsmaterial und brachte 2023 die Partitur neu heraus. Mitgeholfen hat andererseits auch, das muss ab und zu erwähnt werden, die gegen alle Widerstände beharrlich betriebene musikwissenschaftliche Genderforschung der letzten vierzig Jahre. Von Aufsätzen, wie Henson sie einst schrieb bis zur Dissertation von Nicole K. Strohmann (Studien zur Dichterkomponistin Augusta Holmès, Olms 2012) war es ein weiter, anfangs noch viel belächelter Weg. Aber das ist der Humus, auf dem Premieren wie diese erst möglich und zu einem Triumph werden können.

Anna Sohn als Héléna, Alisa Kolosova als Dara und der Opernchor Theater Dortmund • Foto © Björn Hickmann

Zu Beginn des Abends – im Orchestergraben ist es noch dunkel – erscheint eine blinde Bardin im Nachthemd vor geschlossenem Vorhang, hereingeführt von einer Regieassistentin. Sie kommt tief aus der Vergangenheit. Eine Gusla-Spielerin: Heißt Bojana Peković und singt, nach alter Balkantradition sich selbst auf dieser einsaitigen Schalenhalslaute begleitend, das serbische Volkslied vom Tod des Marko Kraljević, der mit seinem Pferd sprach. Er konnte von niemandem besiegt werden, außer von sich selbst. Ein Heldenepos, zugleich die Vorwegnahme der Opernhandlung, die vom Hass zwischen Muslimen und Christen, von einer starken Frau, schwachen Männern, Krieg und Brudermord sowie Verrat und falschen Schwüren berichtet. »Die Stille dröhnt«, so kommentiert Peković diesen Prolog und ergänzt, mit halbem Lächeln: »Das verkauft sich gut in diesen Zeiten.« Wobei offen bleibt, ob Frauenfragen oder Kriegslügen gemeint sind. Wahrscheinlich beides.

Dann hebt der erste Kapellmeister Motonori Kobayashi den Stab. Schon blökt das blechgepanzerte Schwurmotiv los, Kanonenschläge folgen. Buntes Volk strömt in den schiefergetäfelten Bühnenkasten, der fast aus den Nähten platzt und den martialischen Chorklang machtvoll vervielfacht ins Publikum projiziert. Glanzvoll musiziert, solistisch besetzt mit besten Kräften des Hauses und von der jungen Regisseurin Emily Hehl pittoresk bebildert, in einer betont tableauhaften, konventionellen Personenführung: So wird hier eine Fußnote der Musikwissenschaft ins pralle Bühnenleben katapultiert. Und die stolze, schöne Holmès, in die, wie ihr Kollege Camille Saint-Saëns einmal schrieb, »wir alle verliebt waren«, wird mitsamt ihrer unerhörten Musik abermals zu einer Provokation, einem Ausnahme- und Streitfall. 

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Man kann diese Dortmunder Darbietung zu laut finden oder zu folkloristisch, zu naiv oder zu bizarr, zu unoriginell, zu eigensinnig, zu fett instrumentiert, zu schwer zu singen, zu dicht an Wagner oder zu weit von Wagner entfernt – was auch immer. Aber eines wird wohl niemand behaupten: Man habe sich in diesen dreieinhalb Stunden auch nur für eine Sekunde gelangweilt. In diesem Schwarzen Berg ist etwas los, das bis heute noch nicht abgegolten scheint. Noch fünfmal wird La Montagne Noire gespielt, bis Mitte Mai. Dann feiert er vorerst Dernière, als Teil des fünften Dortmunder »Wagner-Kosmos« – der neben einer  Rheingold-Premiere, inszeniert von Peter Konwitschny, auch noch Fin de Partie von György Kurtág zeigt, inszeniert von Ingo Kerkhof. Also: Nichts wie hin.

Freilich ist das Stichwort »Wagner« ein womöglich irreführender Link. Holmès war zwar Wagnerianerin der ersten Stunde, wie auch andere französische Komponisten ihrer Zeit. Aber sie folgte Wagner nicht nach, auf dem Weg zur Auflösung der Tonalität. Ihre Orchestersprache bleibt frühromantisch, vergleichsweise statisch, harmonisch blockhaft. Immer wieder kommen Phrasen zurück zur Tonika. Auch die signalhaft wiederkehrenden Leitmotive in La Montagne Noire entwickeln kein unheimlich-heimliches, von den Orchesterfarben illuminiertes Eigenleben. Sie werden quasi »sichtbar« aufgeklebt, ähnlich wie die »Idée fixe« bei Héctor Berlioz

Es sind nur einzelne Rollen-Konstellationen, die an Wagner erinnern. Auch andere Opernkonventionen spielen mit hinein. In die Blutsbrüderschaft zum Beispiel, die gleich im ersten Bild rituell vom Dorf-Popen vollzogen wird. Sie kettet die beiden aus der Schlacht gegen die Türken siegreich heimgekehrten Helden Mirko und Aslan schicksalhaft im Schwur aneinander, auf Leben und Tod. Die beiden singen ein gewaltiges Unisono-Arioso, schon ist klar: Das kann nicht gut ausgehen. Mirko (er ist besagter »Marko« aus dem Gusla-Volkslied), wird metallisch hoch, trompetenhaft strahlend von dem russischen Tenor Sergey Radchenko verkörpert. Sein Kumpel Aslar dagegen findet in der farbenreich volltönenden Bariton-Stimme von Mandla Mndebele hinreißend affektgeladenen Ausdruck. Kurz darauf streitet sich die brave Héléna (mit leuchtendem Sopran: Anna Sohn) mit der  verführerischen Yamina (überragend, durch alle Register, Höhen und Tiefen: Mezzosopranistin Aude Extrémo) um den wankelmütigen Mirko – wie Elisabeth und Venus um den Tannhäuser oder wie Michaela und Carmen um den tumben José. Nur Aslar bleibt, fast bis zum Schluss, voll Empathie und Mitleid – ein anderer Wolfram. Dann straft und schlachtet er, als guter Freund, den Blutsbruder, und geht selbst in den Tod.

Yamina (Aude Extrémo)singt Je songe, hélas! A mon pays perdu!

Musikalisch, aber auch in Instrumentation und Dramaturgie orientiert sich Holmès folglich eher an Giacomo Meyerbeer. Ganz in der Tradition der französischen Grande Opéra verortet sie einen individuellen Konflikt in einem historisch-politischen Kontext, der wiederum katastrophisch endet. Das Private ermöglicht sängerische Höhenflüge, einprägsame Romanzen und Duette, große Solonummern. Das Politische verlangt spektakuläre Showeffekte, plakative Ensemble-Tableaus und große Chornummern. Letztere prägen die ersten ersten beiden Akte von La Montagne Noire mit einer Wucht, die von dem geschlossenen Bühnenbild (Frank Philipp Schlößmann) schier ins Extrem gezwungen wird. Nach der Pause, im dritten und vierten Akt, kippt die Handlung ins Intime, zugleich öffnet sich der Bühnenraum. Im Hintergrund prangt in hellem Licht ein Baum, als ein Stück Natur. Im Vordergrund, auf einem Bett oder vielmehr einer schiefergrauen Grabplatte blühen die herrlichsten Melodien auf, wird eine  schicksalhaft verbotene Liebe gefeiert. In ihrer frei schweifenden Intensität hat diese Liebesnacht etwas Tristaneskes. Held Mirko ringt mit sich und der geliebten Feindin. Er hatte Yamina, die als muslimische Spionin im Dorf der Montenegriner entdeckt und fast gelyncht worden war, zunächst gerettet, ist alsdann ihrer »exotischen« Schönheit verfallen und gemeinsam mit ihr zum Feind übergelaufen. Yamina indes ist mindestens so verführerisch und falsch wie Mata Hari, sie macht sich lustig über die Männertölpel. Eine Glanznummer ihre große Arie, in der sie die Freiheit der Frauen und der freien Liebe besingt. Sie ist auch die einzige, die am Ende übrig bleibt.

Es ist dies eine originelle Holmès-Schlußpointe. Sie widerspricht aller männlich konnotierten Operntradition. Die femme fatale überlebt, sie wird nicht abgestraft. Dazu hat Holmès noch ein kurzes Nachspiel erfunden, in dem Pope und Montenegriner wieder auftauchen und die gescheiterten falschen Helden beide heilig sprechen. Der politische Konflikt wird begradigt. Der Mythos als Geschichtsfälschung getarnt.

1895 in Paris wurde dieses verstörend offene Ende weggelassen. In der Druckfassung hat Holmès ausdrücklich darauf bestanden. So hat nun das Dortmunder Opernhaus sogar ein paar Takte Uraufführung feiern können. ¶

… lernte Geige und Klavier, studierte Musik-, Literatur- und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin, promovierte über frühe Beethoven-Rezeption. Von 1994 bis 1997 Musikredakteurin der Zeit, von 1997 bis 2018 bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Seither wieder freelance unterwegs. Seit 2011 ist Büning Vorsitzende der Jury des Preises der deutschen Schallplattenkritik.

Eine Antwort auf “Frau überlebt.”

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