Augusta Holmès’ Werke wurden, wie auch die Kompositionen von Zeitgenossinnen im 19. Jahrhundert, in erster Linie unter Gender-Aspekten denn als wirkliche künstlerische Leistungen bewertet. »Das Erstaunlichste an ihrem musikalischen Talent ist ihre absolut virile Qualität«, schwärmte der Dichter Auguste Villiers de l’Isle-Adam. »Ihre Musik hat eine Kraft, eine Virilität, einen Enthusiasmus, die mehr verdienen als das banale Lob, das man gewöhnlich Komponistinnen zuteilwerden lässt«, hieß es in La Liberté. Um 1900 jedoch wurden Holmès’ Ruhm, ihre sexuelle Freiheit und ihre klangvollen Blechbläser-Choräle der Komponistin mehr und mehr zum Verhängnis. »Diese Musik erweckt den Eindruck, ein Transvestit zu sein«, schrieb ein Kritiker des Le Courrier Musical in jenem Jahr. »Oh, meine Damen, seid Mütter, seid Liebende, seid Jungfrauen… aber versucht nicht, Männer zu sein. Es wird euch nicht gelingen, uns zu ersetzen, nicht ganz.« 

Aber da war es schon zu spät. Augusta Holmès hatte längst bewiesen, dass »Männlichkeit« ebenso wie künstlerische Höchstleistungen in der Musik auch von Komponierenden weiblichen Geschlechts erreicht werden können. »Ich habe die Seele eines Mannes im Körper einer Frau«, erklärte Holmès einmal. Geboren wurde sie 1847 in Versailles als Tochter eines irischen Militärs. Die Autodidaktin (Frauen war der Zugang zu den Kompositionsklassen am Pariser Konservatorium damals noch verwehrt) erlangte schnell die Anerkennung von Wagner und Liszt, von Saint-Saëns, Gounod, Massenet, Franck, D’Indy und anderen wurde die Komponistin, die sowohl Kunstlieder (auf eigene Texte) als auch monumentale Werke schuf, regelrecht umworben. 

Aber nicht nur Holmès’ Kompositionen waren »männlich«, auch ihr Lebenswandel stand in dieser Hinsicht selbst dem eines Ernest Hemingway in nichts nach: Sie hatte vier bis fünf Kinder aus einer Affäre (die genaue Anzahlen ist nicht ganz klar, Holmès lebte allein in ihrer Pariser Junggesellinnenbude), war im Deutsch-Französischen Krieg Teil des Sanitätskorps und posierte nackt für Ölgemälde. Später studierte sie bei César Franck, der zum Leidwesen seiner Frau ein fast pornografisches Klavierquintett für sie schrieb. Als Anhängerin gleich zweier Nationen, die fünf Sprachen sprach, komponierte Holmès einen Hit nach dem anderen für Frankreich, Irland, Polen und Italien. Wie Saint-Saëns es ausdrückte: »Sie war mächtig – vielleicht zu mächtig.«

Natürlich gibt es keine Analysekriterien für »Männlichkeit« in klassischen Werken. Ich habe darum eine eigene Untersuchungsmethode kreiert, die im Wesentlichen auf einer kunstvollen Kombination von kalten Duschen, Werkanalyse nach Schenker und CrossFit fußt. Als relevante Parameter haben sich Dauer, Lautstärke und Tempo sowie die Größe der Besetzung, der intellektuelle Überbau der Form, die Rezeption und die Länge des Hauphaars des schaffenden Genies erwiesen. Hier mein Ergebnis, Platz 15 bis 1.

15. Trois anges sont venus ce soir (1887)

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Holmès’ größter Hit, aber Weihnachten (unbefleckte Empfängnis?) ist an sich kein besonders »männliches« Thema. Darum nur 3/10 Punkte.

14. La Montagne Noire (1895)

La Montagne Noire war die erste Oper einer Komponistin, die in Paris aufgeführt wurde, stand jedoch nur kurz auf dem Spielplan – wahrscheinlich wegen der Nähe zu Wagner und der (ebenfalls wagneresken) Länge des Werkes. Bemerkenswert übrigens: Die Femme Fatale wird hier nicht mit dem Tod bestraft, sondern bekommt den Mann, den sie begehrt, und Geld noch dazu – es läuft für sie. 

Holmès hatte nicht so viel Glück. »Wir wollen die Türen unserer Theater und Opernhäuser nicht für Autorinnen und Komponistinnen öffnen«, meinte ein Kritiker. Der Franck-Biograf Laurence Davies schrieb über die Oper: »Es war Augustas Schwäche, dass sie der Versuchung nicht widerstehen konnte, virile, explosive Klänge zu schreiben, wie es keine andere Komponistin gewagt hätte.«

»Sie haben mich an einen Pfahl gebunden und Pfeile und Schmutz auf mich regnen lassen«, schrieb Holmès selbst später in einem Brief an Saint-Saëns. (Und das klingt fast nach einer anderen virilen französischen Heldin: Jeanne d’Arc.) 5/10 Punkten auf der »Männlichkeits«-Skala.

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13. Les Argonautes (1880)

Ein Kritiker bemängelte die »übermäßige Virilität des Stücks – ein häufiger Fehler bei Komponistinnen«. Ein anderer hingegen lobte, Les Argonautes habe »nichts Weibliches an sich«.

5/10. »Übermäßige Virilität« ist nie gut, es sei denn, man ist ein deutscher Komponist, dessen Nachname mit »B« beginnt.

12. Astarté (1871)

Man höre auf Liszt, der hierzu meinte, im Vergleich zur Astarté seien die Werke der kühnsten Komponisten nicht mehr als kleine Kunststückchen aus dem Mädcheninternat.

6/10 Punkte, weil: unveröffentlicht, was leider nicht besonders »männlich« ist. 

11. Ouverture pour un comédie (1870)

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Es war für Frauen bekanntermaßen schwierig, Opern auf die Bühne zu bringen. Holmès war darum so schlau, ihre Ouvertüren wie Singles auszukoppeln. Reiner, ungeschliffener, »männlicher« Einfallsreichtum.

Leider wurde dieses frühe Werk nie veröffentlicht, und die Harfe klingt hier eher engelsgleich als furios, darum nur 6/10 »Männlichkeits«-Punkte.

10. Molto lento and Fantaisie in c-Moll für Klarinette und Klavier (1900) 

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Holmès hatte eine besondere Vorliebe für dieses lange, hölzerne Instrument und spielte es sogar selbst. Das Molto lento prickelt, aber eigentlich warten alle nur drauf, Holmès’ dampfende Fantaisie zu hören. (Mein persönlicher Favorit – sehr lebendig.) 7.5/10

9. Le ruban rose (1899)

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In diesem fruchtbaren kleinen Kunstlied, einem von über 100, für die Holmès sowohl Text als auch Musik schrieb, vergnügt sich eine Marquise mit ihrem Pagen im Wald. Als ein vorbeikommender Prinz mit einsteigen will, bricht Chaos aus. 7.5/10

8. La princesse sans coeur (1889)

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Das Einzige, was noch »männlicher« ist als eine Prinzessin ohne Herz, ist die Art und Weise, wie dieses Lied am Rande der chromatischen Apokalypse vorbeischliddert, um das Publikum dann ganz lässig weiter zu verführen. 7.5/10

7. La guerrière (1892)

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Holmès war bekannt für ihren geradezu unmenschlichen Stimmumfang, den sie in dieser dramatischen Ode an eine getötete Kriegerin zur Schau stellte. Das Lied endet mit einer dissonanten Überraschung, hätte aber formal noch unergründlicher sein können. Die Moral von der Geschichte: Vertraue deinem Bruder nicht.

7.5/10 Punkten.

6. Pologne (1883)

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Diese symphonische Dichtung ist herrlich martialisch und steigert sich zu einer musikalischen Schlachtszene, die zurückgeht auf einen Aufstand in Polen im Jahr 1861, der in einem Massaker durch russische Soldaten endete. Auf der Partitur steht auf Französisch geschrieben: »Ihr werdet beten, ihr werdet lachen, ihr werdet tanzen, und die Kugeln des Feindes werden eure Feiern durchkreuzen. Ihr werdet den Märtyrertod sterben, triumphierend im Gesang.« Habe ich schon erwähnt, dass Holmès’ Sternzeichen Schütze war?

Pologne geht raus an alle, die sich ihren Unterdrückern widersetzen. Serviervorschlag: Zu genießen mit den Subwoofern eines 1.000 PS starken Camaro Exorcist. 8.5/10

5. Ludus pro patria (1888)

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»In diesem Werk herrscht ein viriler und kraftvoller Geist, der bei einer Frau erstaunlich ist. Und damit ich nicht missverstanden werde: Es geht hier nicht um die nachgeahmte Männlichkeit, die Frauen allzu oft in ihren künstlerischen Produktionen an den Tag legen.« – Le Figaro. 8.5/10.

4. Rolande furieux (1867)

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»Männlichkeit« hat bei Holmès zwei Gesichter: ein heroisches und ein sinnliches. Beiden begegnet man beim reichhaltigen Paleo-Festmahl Rolande furieux. Basierend auf Ludovico Ariostos epischem Gedicht Orlando Furioso aus dem 16. Jahrhundert setzt dieses symphonische Abenteuer Liebesspiele im Wald, weite Strecken im Galopp auf dem Pferderücken und Eifersuchtsanfälle, die so rasend sind, dass sie einen zum Mond katapultieren, in Töne. »Männlichkeits«-Punkte: 8.5/10.  

3. Irlande (1882)

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Dieses symphonische Gedicht wurde 20 Jahre vor seiner rauf und runter gespielten Cousine, Sibelius‘ Finlandia, geschrieben und rüttelt einen derart auf, dass man gleich mitkämpfen will für die irische Unabhängigkeit.

Ich habe jedes Stück dieser Playlist als Soundtrack zum Gewichte-Stemmen getestet. Irlande macht sich extrem gut beim Stirndrücken und zu Squats. Man greife sich eine Hantel und heben sie langsam im Takt des verführerischen Klarinettensolos. Dabei stelle man sich die Befreiung des irischen Volkes vor und die Stärke, die die Zukunft bringen wird (Irland und einem selbst). Beim folgenden tänzelnden Allegro vivace kann man das Auf und Ab über die grünen Hügel kniebeugend nachempfinden. Die häufigste dynamische Markierung in diesem Abschnitt ist natürlich das dreifache Forte. 

Irlande war ein Lieblingsstück der irischen Revolutionär:innen Maud Gonne und W.B. Yeats. Letzterer wandte sich an Holmès und bat sie, eine Oper zu einem seiner Texte zu schreiben. Sie war allerdings beschäftigt und hatte keine Zeit für solche Sperenzien. 9/10

2. Andromède (1883)

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Lionel Salter schrieb 1994 in der Gramophone: »Es gibt nicht das geringste ›Weibliche‹ (wenn man dieses Wort in diesen politisch korrekten Zeiten verwenden darf) an der Kampfansage der Blechbläser zu Beginn der Andromède

Andromède landet auf Platz 2, aber nur, weil diese symphonische Dichtung nicht ganz so lang ist – dafür aber unbestreitbar »männlich«. Eine monumentale Bläsereröffnung, die die Winde des Schicksals zu einem herüberwehen lässt. Streicher, die sich zu einem Tornado steigern, bis sie verwehen. Bei Minute vier gibt es eine Feuerpause, doch als wahrhaft virile Komponistin sorgt Holmès bald wieder für Aktion und lässt den Helden Perseus sein geflügeltes Pferd besteigen, um die nackt an einen Felsen gekettete Prinzessin zu befreien. 10/10

1. L’Ode trionfale (1889)

Holmès’ Ode trionfale ist so kraftstrotzend, dass sie noch nie aufgenommen wurde. Das für ein 300-köpfiges Orchester und 11 Chöre komponierte Werk wurde auf der Pariser Weltausstellung anlässlich der Enthüllung des größten Phallus Frankreichs, des Eiffelturms, uraufgeführt.

Wir können uns nur ansatzweise vorstellen, wie viril das auf die 15.000 Menschen wirkte, die 1889 in den Palais de l’Industrie kamen, um eine verschleierte, gefesselte Frau auf der verdunkelten Bühne erscheinen zu sehen, die dann plötzlich befreit wurde von Fanfaren, die La République feierten. Holmès hatte bei allem ihre Finger im Spiel: Sie probte mit den Chören, leitete die Dirigenten an, entwarf die Bühnenbilder und bestand darauf, dass der Eintritt für die dritte Aufführung kostenfrei sein sollte. Ganze 1.200 Musiker:innen waren involviert – ein Rekord (Mahler, ein Fan, hat sich daran offensichtlich ein Beispiel genommen). Nach der Aufführung strömte das Publikum auf die Bühne und der Londoner Musical Courier berichtete, dass Holmès feierlich auf Händen durch die Straßen getragen wurde.

Das sprengt jede »Männlichkeits«-Skala. ¶