Feurig blitzende Augen, hypnotischer Hüftschwung und wallende Lockenpracht – Kaum eine Opernheldin wird mit so vielen Stereotypen in Verbindung gebracht wie Georges Bizets Carmen. In einer Inszenierung am Mecklenburgischen Staatstheater treibt Regisseurin Anna Weber das Vorurteil auf die Spitze: Carmen ist bei ihr keine normale Frau, sondern eine Vampirin. Ich treffe sie in Berlin zu einem Gespräch über den Mythos der femme fatale.

Anna Weber  •  Foto © Nicola Fegg

VAN: Carmen verkörpert den Archetyp der sogenannten femme fatale – eine sexuell befreite Frau, die mit ihrer Verführungskraft Männer ins Verderben stürzt. Was war dein erstes Bauchgefühl, als das Angebot kam? Hast du dich gefreut? 

Anna Weber: Was ich an dem Stück gleich mochte, war seine Verspieltheit und Leichtigkeit. Da ist so ein Augenzwinkern, das daran erinnert, dass man vielleicht nicht jede Situation zu 180 Prozent ernst nehmen muss. Nicht umsonst sind die beiden Librettisten dieselben, die auch Offenbachs Operetten getextet haben. Ich hatte auch Lust auf diese Frauenfigur, immerhin ist Carmen eine Oper, bei der das Schicksal einer Frau im Zentrum steht. Trotzdem gibt es viele Situationen, in denen ihre Geschichte ausschließlich aus der Perspektive eines Mannes erzählt wird. Deshalb hatte ich natürlich so meine Zweifel, als der Anruf kam.

Würdest sagen, Carmen ist erst durch den männlichen Blick zu einer femme fatale geworden?

Auf jeden Fall. Carmen ist eine der meistgespielten Opern der Welt. Dementsprechend gibt es die Figur auch in zigfacher Ausführung. Schon allein diese ständige Wiederholung hat diesen Mythos der femme fatale hervorgebracht, den man glaubt, in dieser Figur wiederzufinden. Wer Carmen ursprünglich war, ist schwer zu sagen. Letztendlich begegnen wir ja schon in der literarischen Vorlage von Prosper Mérimée einer sehr romantisierten männlichen Perspektive auf eine Frau, die dann durch den Blick des Zuschauers in den letzten zwei Jahrhunderten noch zusätzlich verstärkt wurde. Ich persönlich sehe auf jeden Fall das emanzipatorische, das freiheitskämpferische Moment in der Figur der Carmen. 

Du hast noch einen weiteren Mythos über die Geschichte gelegt. Carmen ist bei dir ein Vampir. Wie ist dir der Einfall zu diesem mythischen Crossover gekommen?

Mir war von Anfang an klar, dass ich den Stoff nicht im Spanien des 19. Jahrhunderts ansiedeln will, aber eben auch nicht im 21. Jahrhundert. Ich sehe zwar eine große politische Aktualität in diesem Stück, aber ich finde, ich kann das genauso gut oder vielleicht noch viel besser erzählen, wenn ich die Gesichte in einer Art utopischen Fantasiewelt erzähle, weil Frauenfiguren in der Realität unweigerlich an gesellschaftliche Grenzen stoßen. In einer Fantasiewelt konnte ich Carmen aber ganz bewusst Superkräfte verleihen.

Ensemble • Foto © Silke Winkler

Gewissermaßen ist der Vampir ja eine groteske Überzeichnungen der femme fatale, also eine im wahrsten Sinne des Wortes blutsaugende, tödliche Frau.

Genau! Und ich glaube, das emanzipatorische Element dieser Übertreibung liegt darin, dass sie spielerisch Klischees aufzeigt und dadurch den Leuten klarmacht, wie viele Vorurteile sie nicht nur mit dem Vampir verbinden, sondern eben auch mit der Figur der Carmen, der angeblichen femme fatale. 

Wir brauchen das übertriebene Bild des Vampirs, um zu verstehen, wie lächerlich diese Vorstellung der femme fatale eigentlich ist? 

Ja. Zusätzlich würde ich aber sagen – und das habe ich versucht mit dieser Inszenierung – darf man eben diese Vorurteile nicht einlösen. Man muss sie erst mal aufzeigen und kann sie dann anders weiterspinnen. Camen ist in meiner Inszenierung eben nicht diejenige, die sich die ganze Zeit nach männlichem Blut sehnt. Sie hat überhaupt nicht so viel Interesse an Männern, weil es eben auch noch andere Komponenten in ihrem Leben gibt. Es gibt ihre Freundinnen, es gibt ihren Job. Der Mann ist auch ein Teil ihres Leben, aber eben nicht alles.

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Die Vampir-Welt, die man bei dir auf der Bühne sieht, ist nicht fahl und düster, wie man vielleicht erwarten würde, sondern sie ist überraschend bunt. Dort wird gefeiert, getrunken und mit kuscheligen Werwölfen getanzt. Man könnte fast sagen: Es herrschen Festival-Vibes. Warum?

Uns war von Anfang an relativ klar, dass wir uns in zwei Welten befinden. Auf der einen Seite ist Carmens Welt voller Fantasie und Fabelwesen – irgendwie auch eine queere Welt. Eine Welt, in der alle Spaß haben und dabei sie selbst sein dürfen. Eine Welt der Freude und Akzeptanz. Wie in manchen Subkulturen oder zum Teil auch in der Clubkultur. 

Ensemble • Foto © Silke Winkler

Dann gibt es die Welt der Menschen, die eher trist und einfältig ist, geschützt von einer großen Stadtmauer, die alles Fremde draußen halten soll. In der Menschenwelt leben die Soldaten und Fabrikarbeiterinnen. Die Zigarrenfabrik aus dem Original haben wir in eine Fabrik übersetzt, in der eine Droge aus grünem Rauch hergestellt wird, mit der die Menschen für kurze Zeit ihrem Alltag entfliehen können. Auch da muss ich wieder sagen: Es ist absurd, wie krass das Original diese Fabrikarbeiterinnen fetischisiert. Da warten die Soldaten ja nur darauf, dass die sexy Arbeiterinnen endlich aus der Fabrik rauskommen und ihre Zigarren rauchen. 

Dabei sah nach acht Stunden Fabrikarbeit wahrscheinlich niemand besonders sexy aus.

Vor allem weil das in Wirklichkeit eher 14 Stunden gewesen sind, kann man alles nachlesen. In diesen Fabriken wurden die billigsten Arbeitskräfte eingesetzt, die es gab und das waren eben Frauen. Die haben dort von morgens bis abends im Schichtbetrieb geschuftet. Vor diesem Hintergrund war es mir wichtig, mal ein anderes Bild zu zeigen als eine romantisierte Version der Arbeiterinnen, die da irgendwie lasziv eine Zigarette in der Hand halten

… und dann nach Dienstschluss auch noch für die Soldaten tanzen müssen.

Genau. Ich habe einfach versucht zu vermeiden, dass bestimmte Bilder immer wieder aufs neue eingelöst werden.

Du hast für deine Inszenierung eine eigene Dialogfassung geschrieben. Wo bist du da vom Urtext abgewichen? Und warum?

Ich habe vor allem versucht, eine Sprache zu finden, die in dieser Vampirwelt irgendwie Sinn macht. Es gibt diese ganzen Blut-Referenzen bei uns in der Geschichte und die kommen natürlich auch im Text vor. Und wenn Carmen und Escamillo sich wiedersehen, reden sie darüber, dass sie vor 200 Jahren schon einmal verheiratet waren. Da habe ich mich ein bisschen inspirieren lassen von Only Lovers Left Alive. Eine andere wichtige Inspirationsquelle war für mich übrigens What they do in the shadows – ein Mockumentary über vier Vampire, die zusammen in einer WG leben.

v.l.n.r. Morgane Heyse, Gala El Hadidi, Martha-Luise Urbanek, Sebastian Köppl, Marius Pallesen • Foto © Silke Winkler

Dir war also von Anfang an klar, dass Vampire auch lustig sein können? 

Warum auch nicht? Humor finde ich im Umgang mit Klischees total wichtig. Im Übrigen können ja auch Frauen lustig sein, habe ich mal gehört. 

An Sängerinnen, die die Carmen-Arien für ein Vorsingen anbieten, werden oft bestimmte Erwartungen gestellt. Sie sollen extrem sinnlich und weiblich auftreten und diese Erotik auch in ihren Bewegungen und in Mimik und Gestik zum Ausdruck bringen. Was sagst du: Muss eine Carmen sexy sein?

Darüber habe ich mit der Sängerin [Mezzosopranistin Gala El Hadidi] auch lange und oft geredet. Ich glaube, die Anziehungskraft der Figur lässt sich über viele Wege herstellen. Sie kann in den Zuschauenden ein Feuer entfachen, indem sie zum Beispiel vor Neugierde oder Lebensfreude sprudelt und das über ihren Gesang und ihre Darstellung transportiert. Dafür müssen nicht unbedingt stereotype Bilder von Erotik herhalten, wo zum 180sten Mal eine Sängerin auf der Bühne ihren Po schwingen muss. Also mich interessieren die jedenfalls nicht so. Aber natürlich stellt sich die Frage, was man mit der Szene macht, in der Carmen für Don-José tanzt und eine Art Striptease hinlegt. Da geht es natürlich schon darum, dass sich eine Frau verletzlich macht und etwas sehr persönliches von sich teilt. Wir haben das dann so gesetzt, dass Carmen mit Don José durch den Nachthimmel fliegt, weil Fliegen eben das Allergrößte für sie ist. So zeigt sie ihm ihre Welt.

Die Schlussszenen des klassischen Opernrepertoire sind voll von toten Frauen. Viele von ihnen werden am Ende der Oper für ihre sexuellen Freiheitsdrang bestraft oder schon allein dafür, dass sie in ihrem Gegenüber Begehrlichkeiten wecken. Carmen wird von einem eifersüchtigen Ex-Lover erdolcht. Die eigentliche Pointe deiner Inszenierung ist, dass Carmen den Femizid überlebt, weil sie als Vampir ja nicht sterben kann. Nun kann man ja nicht in jeder Inszenierung die Sopranistin für unsterblich erklären, oder?

Also erstmal muss ich dazu sagen, dass es für mich in der Musiktheaterregie ganz klar darum geht, Utopien und Perspektiven aufzuzeigen. Ich weiß schon, dass man sich als Frau nicht einfach aussuchen kann: Jetzt werde ich eine Vampirin und dann sterbe ich nicht. Trotzdem war es mir wichtig, dass Carmen im 21. Jahrhundert nicht mehr so grausam bestraft wird, auch wenn sowas leider auch heute noch immer wieder und überall passiert.

Es gibt eine Statistik von 2019, der zufolge in Deutschland jeden dritten Tag eine Frau von ihrem Partner oder Expartner getötet wird. 

Genau deshalb stellt sich ja für mich die Frage: Wie viel Raum geben wir auf der Bühne den Charakteren, die solche Taten begehen? Mein Problem mit vielen Stoffen ist ja nicht nur, dass die Frau vor unseren Augen umgebracht wird, sondern die Täter auch ein Stück weit gerechtfertigt werden. Und genauso ist es mit Carmen. Carmen wird einfach abgemurkst, und das ist aber nicht das Ende der Oper, sondern erst muss der Tenor noch minutenlang darüber singen, warum er seine angebetete Frau töten musste. Da denke ich: Du hast sie doch nicht mehr alle! Der Typ sitzt da heulend auf der Bühne und wir als Publikum sollen uns mit seinem Leid identifizieren, dabei hat er gerade vor unseren Augen eine Frau umgebracht. Ich habe natürlich auch darüber nachgedacht, ob am Ende nicht Carmen Don José die Kehle durchschneiden müsste. Aber dann dachte ich: Ich darf nicht wieder in die Fall tappen, die Geschichte von diesem Mann zu Ende erzählen zu müssen. Es geht ja um Carmen. Genau deshalb beendet Carmen bei uns den Abend, in dem sie einfach wieder aufsteht und sagt ›Carmen stirbt nie.‹ Und irgendwie stimmt es ja auch: Die Figur der Carmen ist schon so oft auf der Bühne gestorben und trotzdem nie gestorben.

Gala El Hadidi und Jason Kim • Foto © Silke Winkler

Wie würdest du mit dem Bühnentod der Heldin umgehen, wenn du zum Beispiel mal La Traviata oder La Bohème inszenieren würdest?

Violetta und Mimi sterben ja nicht durch einen Femizid. Das ist ja schon mal ein Unterschied. Ich würde auch da wahrscheinlich trotzdem versuchen zu zeigen, an welchen gesellschaftlichen Realitäten diese Frauen kaputt gegangen sind und nicht einfach nur sagen: Mensch, die Arme hustet jetzt aber schon eine Stunde lang und jetzt stirbt sie eben. 

Du hast bisher sowohl in der freien Szene als auch in der staatlichen Theaterlandschaft gearbeitet. Wo siehst du deine Zukunft?

In der freien Szene kann man frei und kreativ arbeiten, aber man ist total abhängig davon, Gelder zu bekommen, um überhaupt irgendwas produzieren zu können. Man macht zu ganz wenig Prozent den Job, für den man eigentlich ausgebildet worden ist. Man ist gleichzeitig Produzentin, Managerin, Assistentin, Technikerin, Fahrerin. Aber man hat sein festes Team, seine Familie. In die Institutionen komme ich jedes Mal als Fremdkörper rein, weil ich ja nicht fest angestellt bin. Ich treffe jedes Mal auf neue Strukturen und neue zwischenmenschliche Dynamiken. Dafür gibt es da die Gewerke, in denen Spezialist:innen Hand in Hand arbeiten, um am Ende eine tolle Produktion auf die Bühne zu bringen. Das ist natürlich eine riesige Hilfe und ein großes Geschenk.

Hast du das Gefühl, dass du in den Institutionen mehr mit Vorurteilen gegen dich als Regisseurin zu tun hast?

Das ist auf jeden Fall so. In diesen Institutionen gibt es extrem hierarchische Strukturen, viel stärker sogar als in manchen Wirtschaftsunternehmen. Das Paradox dabei ist: Wir wollen eigentlich super woke Themen auf der Bühne verhandeln, aber hinter der Bühne ist oft ein absoluter Dinosaurierbetrieb, in dem man runtergewirtschaftet wird, wenn man nicht aufpasst. Aber das wussten wir ja schon seit der Ausbildung. Deswegen das Handtuch zu schmeißen, ist für mich aber keine Lösung. Ich kenne persönlich viele tolle Künstler:innen mit Visionen, wie man es anders machen kann. Wenn diese Menschen nicht in die Institutionen gehen, überlassen wir das Spielfeld eigentlich den Falschen. Und das kann ja nicht die Zukunft sein. ¶


… lebt in Berlin und arbeitet als freischaffende Sängerin und Musikjournalistin (u.a. für Opernwelt, Crescendo, TAZ).

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