Sie leben in Edinburgh, in einer ruhigen Straße aus dem 18. Jahrhundert. Im Wohnzimmer hängt an der Wand über zwei gewaltigen Rechnern ein Porträt des jungen Hector Berlioz – der Komponist, dem Monir Tayeb und Michel Austin seit 20 Jahren ihr Leben widmen. 1997 starteten die beiden, jetzt Anfang 70, die Website hberlioz.com, die mittlerweile mehr als 13.000 Dateien von teils singulärem Informationswert umfasst. Es gibt keine vergleichbare zentralisierte Quelle zu Berlioz, und sie ist gefragt: Allein im April wurde sie mehr als 100.000 Mal angesteuert. Austin, ein emeritierter Historiker, der fließend französisch und englisch spricht, bestreitet den größeren Teil des Gesprächs, bei dem wir uns mit, natürlich, schottischem shortbread stärken.

VAN: Wie kamen Sie zu Hector Berlioz?

Michel Austin: Ich begann mich für Musik zu interessieren, als meine Familie in Frankreich lebte, in der Nähe von Paris. Wir zogen nach dem Krieg dorthin. Mein Mutter war Französin, mein Vater kam aus Australien, wo ich auch geboren wurde, und er liebte die Musik, mit einer großen Leidenschaft für Wagner. Das war in den Fünfzigern. Ich wurde 1843 geboren… 1943! (Gelächter) Ja, und Monir kam im Iran im Jahr der Damnation de Faust zur Welt …

… also 1846 plus hundert …

Michel Austin: Die Damnation war das erste, was ich in einem richtigen Orchesterkonzert hörte, also die üblichen drei Auszüge aus der Oper. Ein Onkel ging mit mir und meinen zwei Brüdern dorthin und mäkelte hinterher, ça manquait de nuance, da fehlte es an den Feinheiten. Ich kann mich nur erinnern, wie sich der Dirigent verbeugte. Mein Vater besaß einen Klavierauszug der Damnation. Ich fing an, darin herumzustöbern, plong, plong, auf unserem alten Klavier, das kaum noch zu gebrauchen war.

War das schon die Initialzündung?

Michel Austin: Nein, zuerst hörte ich vor allem Wagner. Jeden Sommer lauschte mein Vater mit religiöser Andacht den Bayreuther Festspielen im Radio. Mein Interesse an Berlioz kam erst richtig in Gang, als wir 1956 nach Manchester zogen. Als Schuljunge bekam ich billige Karten für das Hallé-Orchester, es gab eine Bibliothek mit Partituren, wo ich dauernd hinging, und sehr schnell wurde Berlioz einer der Großen für mich, zusammen mit … ja, ich diskutierte ernsthaft mit mir selbst, welcher der Größte war: Bach oder Beethoven oder Berlioz? Peter Cornelius hatte sie als die drei großen B´s genannt, in einem Aufsatz in den 1850ern, das wurde von Bülow entstellt zu Bach, Beethoven, Brahms.

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Michel Austins erste Berliozplatten waren die Fassungen vom Dirigenten Igor Markevitch. Hier seine Interpretation von La Damnation de Faust

Monir Tayeb: Michel hat Glück, dass er in einer so musikalischen Familie aufwuchs. Ich ging in Teheran zu einer Bibliothek, in der man sich Platten vorspielen lassen konnte, vor allem Mozart und Beethoven. Berlioz kannte ich gar nicht, bis ich Michel kennenlernte und Berlioz’ Memoiren las, zuerst auf Englisch. Da dachte ich, wer so schreibt, muss faszinierend sein. So kam ich zu seiner Musik. Später habe ich Französisch gelernt, um alles lesen zu können. Wenn man seine Kritiken liest und sie mit denen von heute vergleicht … Umwerfend!

Michel Austin: Und seine Briefe! Das sind Juwelen. Er hatte ein Naturtalent, er war der geborene Künstler. Artiste, das ist in seinem Wortschatz ein Begriff höchster Anerkennung. Er ist immer direkt und aufrichtig. Ich habe den Verdacht, dass das ein Grund für seine begrenzte Popularität ist. Er ist auch in seiner Musik nicht wirklich bequem, er bietet keine Sicherheit. Er konfrontiert einen gleichzeitig mit der Realität und einer enormen Vorstellung von dem, was sein könnte.

Monir Tayeb: In seiner Musik erwartet er, dass Leute intelligent genug sind, um zu verstehen, was er sagt.

Michel Austin: Er respektiert seine Hörer. Er sagt: ›Folgt mir, wenn ihr wollt, ich dränge euch nichts auf.‹ Anders als Wagner, der seine Hörer wirklich überwältigen will, sie sollen bewundernd zu seinen Füßen knien.

Dabei war Wagner selbst überwältigt, als er 1839 in Paris Roméo et Juliette hörte, unter Berlioz’ Leitung.

Michel Austin: ›Schülerhaft klein‹ (er zitiert es auf deutsch) hat sich Wagner gefühlt, wie ein Schuljunge. Es ist eine komplexe Beziehung. Oh, wir schweifen ganz schön ab. Mögen Sie einen Tee?

Auch Paganini warf sich Berlioz zu Füßen, hier nach dem Hören von Berlioz’ Sinfonie Harold en Italie.
Auch Paganini warf sich Berlioz zu Füßen, hier nach dem Hören von Berlioz’ Sinfonie Harold en Italie.

Sie scheinen alles über Berlioz zu wissen, obwohl keiner von Ihnen Musiker oder Musikwissenschaftlerin ist!

Michel Austin: Wir haben leider viele Defizite …

Monir Tayeb: Aber wir kommen aus akademischen Disziplinen. Wir achten darauf, dass alles absolut korrekt ist.

Michel Austin: Ich studierte in Cambridge alte Sprachen, Latein und Griechisch, und spezialisierte mich auf alte griechische Geschichte. Ich bekam dann einen Job als Dozent in St. Andrews, fünzig Meilen von hier. Das war 1968 und blieb so bis 2000, als ich mich glücklicherweise vorzeitig pensionieren ließ. Denn in all der Zeit war ich in Wirklichkeit ein Kryptoberliozianer, der sich als Historiker ausgab. (lacht)

Monir Tayeb: Mein Thema war internationale Wirtschaft, cross culture studies of management. Ich begann mit meinem Studium der Wirtschaftswissenschaften in Teheran und setzte es 1976 in Oxford fort. Dann kam ich über Sussex an die Heriot-Watt University in Edinburgh, als senior academic.

Wie kamen Sie beide zusammen, ein gebürtiger Australier und eine Frau aus Teheran, aus so verschiedenen Wissensbereichen?

Michel Austin: Hier am Bahnhof.

Monir Tayeb: An der Waverley Station, passenderweise. Es gibt ja von Berlioz die Waverley-Ouvertüre, sein Opus 1 zum ersten Roman von Walter Scott…

… der in Edinburgh zur Welt kam.

Michel Austin: 1989 haben wir uns getroffen, ein großes Jahr in der Geschichte Europas! (Er lacht) Ja, und dann begann die Berliozpest zu wüten. Wir mussten aber noch ein paar Jahre warten, bis das Internet in Gang kam.

Monir Tayeb: 1997 fingen wir an. Warum tun wir nicht etwas für Berlioz, haben wir uns gefragt, und ich begann eine Website mit sehr primitiven Mitteln, einfach nur eine Seite mit Hinweisen auf Konzerte, CDs und Publikationen.

Michel Austin: Die erste größere Baustelle entstand 1998, als wir nach La Côte-Saint-André reisten, den Geburtsort von Berlioz, und eine Seite mit unseren eigenen Fotos kreierten. Dann fing ich an, mit dem Programm Sibelius Partituren auf die Seite zu stellen, denn das International Music Score Library Project gab es noch nicht. Sämtliche Orchesterpartituren, das dauerte zwei Jahre. Dann dachte ich, warum nicht auch die Texte von Berlioz? Das Wunderbare ist ja, dass er so viel schrieb, perfektes Material für eine Website!

Mittlerweile findet man bei Ihnen sogar sämtliche Beiträge, die er für das Journal des Débats verfasst hat, fast 400 Texte, mit eigener Suchmaschine.

Michel Austin: Das war möglich, weil die Bibliothèque Nationale das komplette Journal online gestellt hat.

Aber das sind Fotografien der alten Zeitungsausgaben. Sie mussten also alles abschreiben?

Michel Austin: Ja. Das war harte Arbeit, aber sie war es wert, weil man nun alle seine Feuilletons mit einer Suchmaschine beisammen hat. Aber vor gar nicht langer Zeit stießen wir auf ein technisches Problem. Wir hatten angefangen mit Microsoft FrontPage. Wegen seiner frühen Entstehung war es nicht mit HTML Doctypes zu verbinden. Schließlich musste ich ins kalte Wasser springen und alles über das aktuelle Format HMTL 5 lernen, was wohl die definitive Version ist. Jetzt haben wir angefangen, Ordner für Ordner nochmal zu konvertieren, 5500 HTML-Ordner. Das wird Monate dauern, aber es muss getan werden, denn wir wollen, dass unsere Website bleibt. Das klingt vielleicht anmaßend, aber wir haben so viel Mühe hineingesteckt…  

Sie haben learning by doing fast die ganze Geschichte des Internet mitgemacht. Die Geschwindigkeit, in der sich diese Technologie entwickelt hat, erinnert mich an die Eisenbahn zu Berlioz’ Zeiten. Er hat ja mal neben dem ersten Bahnhof von Paris gewohnt, Gare St. Lazare …

Michel Austin: Er hat sogar die Luftfahrt vorhergesehen. In seinem vorletzten Feuilleton vom September 1863 spricht er von propellergetriebenen Luftschiffen. Er war ziemlich optimistisch in Bezug darauf, wie das die Menschen zusammenbringen könnte.

Monir Tayeb: Er spricht sogar davon, dass Leute aus China herkommen könnten.

Michel Austin: Vielleicht haben wir einen guten Moment erwischt. Wir fingen wir ja ein paar Jahre vor der Zweihundertjahrfeier 2003 an, früh genug, um uns zu etablieren.

Monir Tayeb: In dem Jahr bekam ich e-Mails von fast überall, wirklich jeden Tag. Große und kleine Städte baten uns, auf ihre Konzerte hinzuweisen, sogar aus Saudiarabien und Vietnam kam Post.

Michel Austin: Und das Jubiläum war eigentlich der Durchbruch für Berlioz. Bald danach war die Ausgabe bei Bärenreiter vervollständigt, die Correspondance Générale war fast fertig. Inzwischen hat die Ausgabe seiner Kritischen Werke, La Critique Musicale, den achten Band erreicht. Eigentlich ist alles verfügbar, und es gibt viel mehr Dirigenten, für die es selbstverständlich ist, seine Musik zu spielen, gerade in der jüngeren Generation. François-Xavier Roth ist exzellent! Eigentlich braucht Berlioz keine Pioniere mehr, das Zeitalter der Pioniere ist vorbei.

Aber Sie liefern doch eine Pioniertat nach der anderen. Sie haben Berlioz’ Studien zu Beethovens Sinfonien ins Englische übersetzt, und 244 Briefe aus seiner Familie kann man überhaupt nur auf hberlioz.com lesen, von Ihnen transkribiert und kommentiert. Das sind Arbeiten, mit denen man ein ganze wissenschaftliche Abteilung nebst Fördergeldern beschäftigen könnte. Brauchen Sie nicht allmählich institutionelle Hilfe?  

Michel Austin: Institutionen sind hoffnungslos. Es kommt auf die Leute an, auf einzelne wie Thérèse Husson bei der Association Nationale Hector Berlioz, eine der unbesungenen Heldinnen, die treibende Kraft hinter der Publikation der Correspondance Générale. Wenn zu viele Leute mit einer Sache beschäftigt sind, wird das Ganze gebremst. Es gibt die Bürokratie, man kann nicht einfach etwas beschließen und es dann tun, alles muss geprüft werden. Eine der Schönheiten des Internet ist, dass es einen von diesen Zwängen befreit.

Monir Tayeb: Wir wollen gar keinen außer uns dabei haben! Aber wir nehmen oft Vorschläge und Korrekturen entgegen.

Immerhin gibt es eine enge Zusammenarbeit mit dem Musée Hector Berlioz in seiner Geburtsstadt. Sie haben dem Museum Ihre Sammlung und die komplette Website vermacht, die läuft bereits über den Server des Conseil Général de l’Isère in Grenoble. Und über das Museum kamen Sie an die unveröffentlichten Briefe der Angehörigen.

Michel Austin: Eine Nachfahrin von Berlioz´ Schwester Nanci hatte sie dem Museum vermacht. Ich half, sie zu transkribieren, den größeren Teil davon, und dann fragte man uns, ob wir sie nicht auf der Website veröffentlichen könnten. Da kann man das Original, eine wortwörtliche Transkription und einen editierten Text zugleich publizieren, in dem Fehler korrigiert und nähere Angaben gemacht werden. Bei einer gedruckten Ausgabe würde kein Verleger diese Verdoppelung des Volumens akzeptieren. Die Correspondance Générale bietet daher nicht, was Berlioz tatsächlich schrieb.

Monir Tayeb: Bei den Familienbriefen gibt es zum Beispiel die Dame, deren Tochter eine Liaison mit Berlioz´ Sohn Louis hatte. Sie schrieb einen Brief an Louis: Das Baby ist da, wollen Sie sich nicht darum kümmern? Der Text ist voller Fehler, sie war offensichtlich ungebildet.

Michel Austin: Sie schreibt sehr würdig und höflich, aber sie weiß nicht das Geringste über Rechtschreibung: ›Jai resut votre laitre‹, sie schreibt phonetisch.

Ich wusste gar nicht, dass Berlioz auch Großvater war …

Michel Austin: Die Geschichte wurde ziemlich unterdrückt. Louis wollte die Mutter der kleinen Clémentine heiraten, aber Berlioz war strikt dagegen.

Wie schon sein eigener Vater, dem Hectors Ehe mit einer Schauspielerin nicht passte …

Michel Austin: Bürgerlicher Stolz! Es ist erstaunlich, dass dieser geistig provinzielle Hintergrund diesen großen Genius hervorbringen konnte. In der Bachfamilie gibt es einen Kontext für Johann Sebastian. Berlioz kommt als Künstler fast aus dem Nichts.

Könnte das nicht auch seine Musik geprägt haben?

Michel Austin: Ich glaube schon. Dass er in den Feldern herumlief, die Berge bewunderte, die Natur hörte, empfänglich für den Klang einer entfernten Kirchenglocke war, findet man in seinem Sinn für Klangfarben wieder, auch in der Räumlichkeit. Er denkt bei der Platzierung der Instrumente wirklich stereophon. Und zumindest bekommt er ganz früh eine dunkle Ahnung von Musik, da er in der Biographie Universelle von Michaud etwas über Haydn und Gluck liest, große Männer, deren Musik er nicht hören kann. Er stellt sich Musik gleichsam vor, ehe er the real thing hört, und kaum ist er in Paris, stürzt er zur Oper und ist völlig überwältigt.

Sie leben jetzt schon so lange mit ihm. Was war er für ein Typ?

Michel Austin: Man hat den Eindruck, dass er eine sehr liebenswürdige Person war, auch wenn er hypersensitiv war und schwierig sein konnte. Er lebte sein reales Leben, stand aber zugleich daneben und sah es sich an: ›Mein Leben‹, schreibt er in einem Brief an einen Freund, ›ist ein Roman, den ich sehr interessant finde.‹ ¶

…lebt als Buchautor, Journalist und Musiker in Norddeutschland. Er studierte Viola in Hannover, war Feuilletonredakteur in Hannover und Leipzig und ist seit 1996 selbstständig als Autor u.a. für ZEIT und Deutschlandfunk. Im Rowohlt Verlag erschienen von ihm »Bachs Welt« (2016) und »Der Klang von Paris« (2019). Sein neues Buch »Flammen. Eine europäische Musikerzählung 1900–1918« erscheint im April 2022.