Zu den Werken des zwanzigsten Jahrhunderts, die mich jedesmal magisch ins Konzert ziehen, gehört (wie zum Beispiel auch Janáčeks Sinfonietta) die Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta von Béla Bartók. Zu den Bartók-Werken, die mich normalerweise weniger ins Konzert ziehen, gehört die langwierige Ballettsause Der holzgeschnitzte Prinz. Beide Werke gab es nun am selben Wochenende in Berliner Konzertsälen zu hören, mit zwei absoluten Chefs unseres Konzertlebens, einem amtierenden und einem ehemaligen, der Herzens-General-MD bleibt.

Iván Fischer leitete von 2012 bis 2018 das Konzerthausorchester am Gendarmenmarkt. Wenn er wiederkommt, beschwingt er regelmäßig das ganze Haus. Fast egal, was er dirigiert. Aber umso schöner, wenn er ein singuläres Ding zur Aufführung bringt wie Béla Bartóks Stück von 1937 mit der seltsamen Besetzung und dem spröde-schönen Titel: Die Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta ist die perfekte Verbindung von Intellekt und Sinnlichkeit. Der erste Satz macht auch Nichtserialisten klar, wie erregend Struktur sein kann. Die Makel der Raumakustik des Großen Saals im Konzerthaus lassen zwar zu Beginn den Eintritt der Stimmen nicht vollends ideal erscheinen (die Celli wirken zunächst zu leise), aber das tut der nun folgenden Entfaltung von betörendem Klangrausch aus strenger, fast abstrakter Form keinen Abbruch. Bis in die pure Lebensenergie des Finales zeigt das KHO unter Fischer, zu welchen Leistungen es in der Lage ist: Höhenflüge eben nicht nur des Enthusiasmus, sondern auch der Klangbalance.

Schwer in den eigenen Holzkopf zu kriegen, dass diese Musik vom selben Komponisten stammt wie Der wunderbare Mandarin oder eben Der holzgeschnitzte Prinz, uraufgeführt zwanzig Jahre vor der Musik für Saitenzeug, Schlagcelesta & Co. Bartók war eben vielseitig. Die Inhaltsangabe der verschwiemelten Balletthandlung von Béla Balázs (der, wie im Programmheft zitiert, Budapester Journalisten als »Geschmeiß« bezeichnete) scheint mir müßig. Wenn man aber, wie ebenfalls im Programmheft, mit Verweis auf die sympoltriefende Handlung in das Werk einführt, liefert man das Werk einer gewissen Ratlosigkeit aus. Denn wer soll da bei sechzig konzertanten Minuten dem Ablauf folgen? Abhilfe schüfe, wenn man in den Übertiteln die Namen der jeweiligen Szenen einblenden würde (das machte Iván Fischer mal so im Konzerthaus). Dann macht die Phantasie schon den Rest.

Oder man ignoriert die Handlung eben ganz. Dann ist der Klangfluss allerdings herausfordernde sechzig Minuten lang. Aber wenn es die ganze Stunde lang so stunningly brillant klingt wie bei den Berliner Philharmonikern mit Kirill Petrenko, geht’s eigentlich. Geht sogar geil. Denn eine Klangattraktion reiht sich an die nächste. Man könnte dabei im Kopf etwa irgendein unbekanntes Disney-Meisterwerk der frühen Jahre ablaufen lassen, den ganzen Hörfilm lang mit Reh und Hase durch den Wald hoppeln und dabei immer neue Naturzauber entdecken: dachshafte Fagotte, die mit Klarinetten-Eulen und Xylophon-Mäusen zanken. Wasser- und lichtschillernde Harfen, über denen moosige Saxophone dunkelgrünen. Auch das Bartókpizzicato ist ja perfekter Cartoonsound. Und irgendwann ist das alles sehr schön und hornfriedlich vorüber.

Die Berliner Philharmoniker müssen selbst lang Vorbehalte gegen dieses Stück gehabt haben, das ohne das zugehörige Ballett schwieriger abläuft als zum Beispiel die einschlägigen Strawinskys: 1982 stand Der holzgeschnitzte Prinz bei den Philharmonikern erstmals auf dem Programm. Vor zehn Jahren habe ich es mal unter Alan Gilbert gehört und mich ziemlich gelangweilt, was nicht an Gilbert gelegen haben muss. Aber das ist ebenso klar: Bei Kirill Petrenko, der selbst tanzende Holzpuppe und echter Mensch zugleich ist, einer, der was vorführt und doch vollkommen belebt – bei dem langweile ich mich keine Note lang.

Womit nun Kirill Petrenko und Iván Fischer ihre gegensätzlichen Bartók-Stücke kombinieren, könnte ebenfalls gegensätzlicher nicht sein.

Zum ersten Mal überhaupt spielen die Berliner Philharmoniker die erste Symphonie von Henri Dutilleux aus dem Jahr 1951, hochsinnliche und völlig unorthodoxe Musik, die aus dem Dunkel kommt und in Dunkel führt, aber frei von jeder Finsternis ist. Dieses Frühwerk von Dutilleux, der auch Neue-Musik-Muffeln im Konzert eigentlich immer Freude macht (denn Dutilleux ist einfach Musik, weder für noch gegen »Fortschritt«, nicht bräsig regressiv und nicht aggro progressiv), klingt hier ebenfalls brillant, meisterlich organisiert. Könnte man, wenn einem das Stück vertrauter wäre, in dieser Aufführung einen Mangel an etwas Mysteriösem-Traumhaftem erspüren, um nicht zu sagen: etwas Französischem? Keine Ahnung.

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Stattdessen möchte ich hier einen interessanten Gedanken des RBB-Journalisten Andreas Göbel wiedergeben (dessen kompetente Kritiken ansonsten eine Fundgrube für das amüsant-leidige Thema »Kulinarik-Metaphern im Schreiben über Musik« darstellen): »Man darf nicht vergessen: Der Dirigent hat bei den Berliner Philharmonikern seine erste Chefstelle bei einem Sinfonieorchester nach Leitungspositionen an Opernhäusern. Und so muss er sich ein Repertoire erst noch zusammenstellen und kann nicht auf schon Erprobtes zurückgreifen wie etwa sein Vorgänger Simon Rattle

Auch das macht es in der Tat spannend.

Auf ganz andere Weise originell ist das Umfeld, in das Iván Fischer im Konzerthaus Bartóks Großwerk stellt. Man könnte es auch schrullig nennen, einen Bogen von Dvořáks trauriger Nixen-Oper Rusalka bis zur Musik für Schlagsaiten und Celestazeug zu spannen. Aber es funktioniert, nicht nur, weil Bartóks Werk vom Disziplinzauber des ersten bis zum folkloristischen Jubel des vierten Satzes so Unterschiedliches verbindet.

In der Nettospielzeit ist es, buchhalterisch betrachtet, vielleicht etwas kurz, summiert sich auf etwa sechzig Minuten Musik. Aber es hat in jeder Sekunde Herz, und das zählt. Und es funktioniert auch deshalb, weil im Beiprogramm neben zwei kleineren Werken von Bartók und Dvořák etwas Besonderes steht, das einen unmittelbar einnimmt und entzückt: Aus den ersten 22 Minuten der Oper Rusalka hat der israelische Geiger Guy Braunstein, der früher, bis ihm das alles zu mutlos wurde, führender Berliner Philharmoniker war, seine eigene Rhapsody zusammengestellt; man kann sie auch ein Violinkonzert nennen.

Und das zu hören, statt des milledrölfsten Sibeliuskonzerts (dennoch nichts gegen Sibelius!), ist ein großer Genuss. Nicht nur, weil Braunstein einen Ton zum Niederknien hat und ihn keine technische Hürde schrecken kann und Dvořáks Ohrwürmer on top kommen. Sondern vor allem, weil das nicht einfach ein zusammengeflicktes Medley ist, sondern als Stück stringent komponiert wirkt. Im 19. Jahrhundert hätte man ohne Umstände und Bescheidenheit über diese Rusalka Rhapsody nicht Antonín Dvořák als Komponistennamen geschrieben, sondern: Guy Braunstein.

Selbst noch der Umstand macht diesen Geiger sympathisch, dass er als Zugabe nicht etwelchen üblichen Bachpartitasatz oder fundierte Ysaÿe-Artistik spielt, sondern vertrackte Variationen über Paul McCartneys Blackbird. Dass nun in Braunsteins Rusalka Rhapsody das berühmte Lied an den Mond als Höhepunkt des Werkes ganz am Schluss auftreten kann, bedeutet viel mehr als die günstig genutzte Ausbügelung einer eventuellen Schwäche der Oper, wo dieses Stück immer gleich ganz am Anfang schon vorbei ist. Diese Verschiebung spricht zu uns, und auch darum ist das anrührende Rusalka-Violinkonzert viel mehr als ein Best-of-Gala-Stück: Vielleicht ist das Mondlied am Schluss bloß Erinnerung. Vielleicht ist es aber auch der Entschluss, nicht wie die Oper im Untergang zu enden, sondern eben in jener Sehnsucht und Hoffnung zu bleiben, die dort am Anfang stand, um verloren zu gehen. Hoffnung und Sehnsucht, die auch unsere ist, wenn Musik uns erreicht. In der wir bleiben wollen. Oder in die wir, wenn das Bleiben nicht sein darf, immer wieder zurückkehren. ¶

… lebt in Berlin, liebt Musik, schreibt Romane: u.a. ›Beethovn‹ (2020). Zuletzt erschien ›Silence‹. ✉️ KonzertgaengerBerlin@gmail.com

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