VAN: Das Schaffen von Camille Saint-Saëns wird hierzulande nur sehr ausschnitthaft wahrgenommen. Entweder erklingt das erste Cellokonzert oder zum x-ten Male der Karneval der Tiere im Rahmen eines Kinderkonzerts. In Ausnahmefällen kann man Saint-Saëns’ Oper Samson et Dalila an ein paar wenigen Opernhäusern im deutschsprachigen Raum erleben. Ärgert Sie das?

Michael Stegemann: ›Ärgern‹ würde ich nicht sagen. Aber ich finde es sehr ungerecht. Und es ist auch ein großer Verlust für die Musikwelt, wenn man Saint-Saëns’ Schaffen so eingeschränkt rezipiert. Er ist ja immerhin mit einem guten Dutzend Werken im wiederkehrenden Konzertrepertoire in einer vergleichsweise guten Position. Zu den von Ihnen genannten Kompositionen kommen noch die Orgelsinfonie, das zweite Klavierkonzert, Introduction et Rondo capriccioso, die Havanaise und andere Werke hinzu. Diese Kompositionen stellen aber nur die Spitze eines riesigen Eisberges dar, denn Saint-Saëns ist sehr alt geworden, 86 Jahre – und er hat einfach viel komponiert. Er ist ja acht Jahre (1835) nach Beethovens Tod geboren worden und acht Jahre (1921) nach der Uraufführung von Strawinskis Sacre du printemps gestorben. Man kann sich vorstellen, was bei einem produktiven Komponisten wie Saint-Saëns es war, in dieser musikgeschichtlich bedeutenden Zeitspanne alles zusammengekommen ist: Er hat dreieinhalbjährig mit dem Komponieren begonnen und erst kurz vor seinem Tod damit aufgehört. Es stimmt, gemessen an seiner Bedeutung wird die Musik von Saint-Saëns in der Tat viel zu selten wertgeschätzt. Seit ungefähr zwei Jahrzehnten werden seine Werke jedoch häufiger gespielt. Man könnte fast von einem Saint-Saëns-Boom sprechen.

Die erste Komposition von Saint-Saëns, komponiert im Alter von dreieinhalb Jahren, am 22. März 1839.
Die erste Komposition von Saint-Saëns, komponiert im Alter von dreieinhalb Jahren, am 22. März 1839.

Mit welchem Werk von Saint-Saëns haben Sie sich ZUletzt besonders intensiv beschäftigt?

Mit der Sinfonie No. 3 c-Moll op. 78, der Orgelsinfonie. Die habe ich letztes Jahr in Zusammenarbeit mit dem Bärenreiter-Verlag erstmals in einer historisch-kritischen Ausgabe herausgebracht.

Was ist denn in dieser Ausgabe anders als in der bisher verwendeten?

Man muss erst einmal grundsätzlich bemerken, dass für Aufführungen fast aller Werke von Saint-Saëns bisher die alten Ausgaben der Éditions Durand verwendet wurden. Unkorrigiert! Die wichtigsten Änderungen in der neuen Ausgabe betreffen die Dynamik, die traditionell vereinheitlicht wurde, obwohl Saint-Saëns nicht nur in den Noten, sondern auch in vielen Briefen an Durand auf den für ihn sehr wichtigen Unterschied von Nuancen – etwa zwischen ›Piano‹ und ›Pianissimo‹ – hinwies. In der Orgelsinfonie beispielsweise gibt es Stellen, an denen Saint-Saëns sehr differenzierte Angaben zur Lautstärkenintensität der Instrumente macht. So soll die Orgel im Tutti ›Mezzoforte‹, die Streicher ›Forte‹ und die Holzbläser ›Fortissimo‹ spielen. Es findet also eine Abstufung statt, die bisher im Notentext und in der Praxis oft angeglichen wurde. Aus den eigentlichen Angaben des Komponisten resultiert, dass die Orgel nicht mehr solistisch in den Vordergrund tritt. Saint-Saëns betrachtete die Orgel also als wirklichen Teil des Orchesters!

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Werden jetzt alle Werke von Saint-Saëns in einer kritischen Gesamtausgabe neu erscheinen?

Ja, zumindest alle Instrumentalwerke – rund 325 Kompositionen in 36 Bänden. Das ist ein Riesen-Projekt, das mit meiner Edition der Orgelsinfonie begonnen hat. Wir haben vor, in einem Rhythmus von ungefähr acht Monaten jeweils einen neuen Band zu veröffentlichen. Also ungefähr alle zwei Jahre drei Bände. Somit wären wir dann 2040 fertig mit dem Projekt. (lacht) Ich bin sehr froh, dass wir es überhaupt so weit geschafft haben …

Gibt es so etwas wie ›das große Saint-Saëns-Problem‹?

Ja. Aber das betrifft eher eine ästhetische als eine werkimmanente Problematik. Man muss sich ja vergegenwärtigen, dass Saint-Saëns, eben weil er so alt geworden ist, im frühen 20. Jahrhundert eine Lieblings-Zielscheibe von Claude Debussy und dem Kreis um ihn herum war. Dort diffamierte man Saint-Saëns als eklektizistisch und reaktionär. Und das hängt ihm immer noch ein wenig nach. Die neuere Saint-Saëns-Forschung ist auf verschiedenen Ebenen darum bemüht, die Originalität und das Visionäre bei Saint-Saëns zu erkennen und darzustellen. Saint-Saëns komponierte beispielsweise zu dem Film L’Assassinat du Duc de Guise (›Die Ermordung des Herzogs von Guise‹) 1908 die erste Filmmusik der Geschichte überhaupt! Er war der erste Komponist, der Xylophon im Orchester einsetzte, der Erste, der in Frankreich sinfonische Dichtungen schrieb. Er komponierte einen der ersten Tangos der Musikgeschichte, das erste Werk für Saxophonquartett und so weiter. Es gibt eine Unzahl von innovativen Aspekten bei Saint-Saëns, die eigentlich jeden aufs Neue staunen lässt, der Saint-Saëns bisher für einen konservativen Komponisten hielt.

Gibt es ein Werk von Saint-Saëns, das Sie für besonders unterschätzt halten?

Das sind eigentlich sehr viele! (lacht) Sicher gehört ein Werk wie die Fantasie für Violine und Harfe op. 124  dazu. Das ist aufgrund der seltenen Besetzung ein Stück, dem man – jenseits einer gewissen Schallplattenpopularität – nur selten im Konzert begegnet. Sehr eigenständig und ›impressionistisch‹. Genauso gehören die beiden späten Streichquartette zu denjenigen Werken von Saint-Saëns, denen man – warum auch immer – lange ausgewichen ist. Dabei lohnt es sich, mal etwas anderes zu spielen als immer nur Debussy oder Ravel, wenn es um französische Streichquartettmusik geht. Auch die zweite Sinfonie ist ein absolut eingeständiges Meisterwerk und weist in der sinfonischen Entwicklung weit hinaus ins späte 19. Jahrhundert, obwohl das Stück schon 1859 entstanden ist. Ich könnte noch viel mehr solche Werke aus der Feder von Saint-Saëns nennen!

Welche Aufnahmen von Werken Saint-Saëns’ favorisieren Sie?

Die Aufnahme der Orgelsinfonie von François-Xavier Roth mit dessen Vater – Daniel Roth – als Orgelsolisten und seinem Orchester ›Les Siècles‹ – auch wenn es noch nicht die neu herausgegebene Fassung ist, wie sie erstmals im Dezember 2016 vom Gürzenich-Orchester Köln unter Roth gespielt wurde. Die Interpreten realisieren hier genau jene Klangbalance, die das Werk braucht. Unverzichtbar finde ich nach wie vor die Aufnahme des dritten Violinkonzerts mit Zino Francescatti und den New Yorkern unter Dimitri Mitropoulos. Fantastisch ist auch die Einspielung der Klavierkonzerte mit der Solistin Anna Malikova und dem WDR Sinfonieorchester unter der Leitung von Thomas Sanderling.

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Halten Sie es für möglich, dass noch Werke von Saint-Saëns auftauchen, die uns jetzt noch nicht bekannt sind?

Ja, durchaus. Selbst der Werkkatalog von Sabina T. Ratner hat noch Leerstellen. Viele Privatsammlungen melden sich und sagen: ›Oh, wir haben da noch etwas von Saint-Saëns!‹ Gleich in einem der nächsten Bände unserer Gesamtausgabe wird ein Streichquintettsatz erscheinen, von dem bisher kein Mensch wusste! Das ist zwar ›nur‹ eine Bearbeitung eines Satzes aus seiner eigenen zweiten Sinfonie, aber wirklich originell! Diesen Satz haben wir in einer Privatsammlung entdeckt, und er wird nun bald erstmals überhaupt veröffentlicht werden. Dann sind in einer belgischen Sammlung Werke für Violine aufgetaucht … Das alles gerät jetzt in Bewegung und wird bestimmt noch weitere Überraschungen offenbaren. ¶

Michael Stegemann stammt aus Osnabrück und studierte in Münster und Paris Musikwissenschaft, Romanistik, Philosophie, Kunstgeschichte und Komposition bei Olivier Messiaen. Stegemann schrieb Bücher über Franz Schubert, Camille Saint-Saëns, Maurice Ravel und Glenn Gould. Außerdem moderiert und konzipiert er für den WDR Features und diverse Sendereihen. Seit 2002 ist Stegemann Professor für Musikwissenschaft an der TU Dortmund.

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.