Was macht György Kurtágs Musik zu einer der größten singulären Erscheinungen des 20. Jahrhunderts? Und was für ein Mensch und welche Lebensgeschichte stecken dahinter? Ein Gespräch mit dem Bildhauer und Bühnenbildner Alexander Polzin, einem langjährigen Freund Kurtágs, und dem Dirigenten Titus Engel in den kargen Katakomben der Komischen Oper Berlin.

VAN: Alexander, du hast mir einmal erzählt, dass du Kurtág auf einem Empfang kennengelernt hast. Es fällt mir schwer, mir das vorzustellen, Kurtág und Empfangs-Small-Talk …
Alexander Polzin: Das war ja auch genau der Kennenlernpunkt. Nach einem Konzert von ihm in der Philharmonie gab es einen Empfang, das war relativ bald nach der Wende. Und es gab drei Personen in diesem knackevollen Raum, die sehr verloren dastanden, das waren Márta und György Kurtág und ich. Nicht nur, dass wir niemanden kannten, wir waren auch absolut ungeübt im Umgang mit so einem Anlass. Und da haben wir uns angeguckt und gegenseitig registriert, dass wir fremd sind in dieser Umgebung. Das war das Kennenlernen.
Titus, du hast deine Magisterarbeit über Kurtágs Grabstein für Stephan geschrieben. Wie bist du zu seiner Musik gekommen?
Titus Engel: Mein erster Kontakt war mit 17. Bei einem Konzert in der Tonhalle Zürich wurde Grabstein für Stephan gespielt, relativ bald nach der Uraufführung. Ich hörte damals Musik immer mit geschlossenen Augen, weil ich fand, dass alles andere nur ablenkt. Das Stück fängt mit leisen Gitarrenakkorden an, die sich wiederholen, mit verschiedenen Entwicklungen und Variationen. Und auf einmal gibt es einen riesen Einbruch, weil im Raum verteilte Instrumente sehr nah an den Zuschauern sehr laut spielen, und dieser disintegrative Moment, ähnlich wie ihn Adorno bei Mahler beschrieben hat oder wie in Monteverdis L’Orfeo, wenn zum ersten Mal die Posaunen kommen, oder in Don Giovanni, wenn der Komtur auftritt – das hat mich wirklich existentiell gepackt. Ich war gleichzeitig fasziniert und hatte Schweißausbrüche, eine Wirkung, die Musik bis dahin und eigentlich danach bei mir nie wieder gehabt hat. Später haben wir ihn an die Humboldt-Universität eingeladen, er wollte aber im Gegensatz zu anderen Komponisten gar nicht über Musik sprechen. Stattdessen hat er uns vorgeschlagen, mit Márta zusammen aus Játékok und Bach zu spielen.
»Unser ganzes Leben ist nichts anderes als eine einzige Pilgerfahrt, um das Kind, das in uns verlorenging, zurückzuholen«, hat Kurtág einmal gesagt. Er ist in Rumänien aufgewachsen und war bei Kriegsende neunzehn. Hat er jemals Auskunft darüber gegeben, wie er den Zweiten Weltkrieg und diese ersten zwanzig Jahre seines Lebens erlebt hat, bevor er dann 1946 zum Studium nach Budapest ging?
Polzin: Was durch seine Äußerungen später klar wurde, ist, dass alles, was er da wahrgenommen hat, absolut formativ ist für seine spätere Arbeit. Es gibt eine ganze Reihe von Arbeiten, wo er sich auf akustische Erlebnisse während der Kriegszeit bezieht. …quasi una fantasia ist erklärtermaßen ein solches Rückerinnern an ein ganz frühes Motiv.
Engel: Wichtig ist auch die Herkunft aus Logusch im Banat, einer Gegend in Rumänien, die unglaubliche Musiker hervorgebracht hat.
Polzin: … und von wo auch das Interesse für Sprache herrührt. Dass er mit 75 angefangen hat, altgriechisch zu lernen, das hat da schon seinen Ursprung.
Grabstein für Stephan ist der Erinnerung an den Mann von Kurtágs Psychotherapeutin Marianne Stein gewidmet, die ihn über einen entscheidenden biographischen Krisenpunkt hinweg half: 1957/58 war er für ein Jahr in Paris, wo er bei Milhaud und Messiaen studierte. Der Aufstand in Ungarn war gerade niedergeschossen worden, dazu kamen Zweifel an der eigenen Tonsprache und das Scheitern bei der Komposition großer sinfonischer Formen. ›Unzählige moralische Fragen tauchten auf, meine ganze Haltung als Mensch wurde in Frage gestellt. Ich bin damals ziemlich tief heruntergekommen. In Paris empfand ich bis zur Verzweiflung, dass es in der Welt nichts Wahres gäbe, dass ich keinen Halt in der Wirklichkeit finden konnte‹, erzählt er Bálint András Varga in einem Gespräch.
Titus, Wie zeigt sich der Neuanfang, der nach Paris folgte, musikalisch?
Engel: Musikästhetisch ist es ein total radikaler Bruch, von einer durch Kodály und Bartók inspirierten, frühmodernen Sprache zu einem Neuanfang aus dem Nichts. Es gibt ja die Anekdote, dass Marianne Stein ihm gesagt habe, er solle aus Streichhölzern Figuren bauen, um wieder ganz von vorne anzufangen, und dann erste Kompositionsübungen machen, indem er einfach nur einen Ton nimmt, einen zweiten dazu, einen dritten. Das prägt seine Musiksprache bis heute: All die großen Stücke, Stele, …quasi una fantasia, Grabstein für Stephan, bestehen aus kleinen Zellen, die sich entwickeln. Er ringt um jeden Ton, das hat auch einen ethischen Aspekt: Er will für diese Töne geradestehen. Deswegen ist auch die Qualität seiner Musik so groß.
Stele war 1994 sein erstes Stück für großes Orchester seit dem Bratschenkonzert, das er noch Anfang der 1950er Jahre, also vor dem Neuanfang geschrieben hat.
Polzin: Ja, und die Aufgabe, so ein Orchesterstück zu schreiben, war eigentlich undenkbar und ist ihm ziemlich schwer gefallen.
Engel: Ich habe seine Kompositionsskizzen in der Paul Sacher Stiftung studiert, und auch von Grabstein für Stephan, das 1989 uraufgeführt wurde, gibt es Versionen, die bis 1978 zurückgehen.

Alexander Polzin über seine Skulptur: »Obwohl Kurtág nie ein Requiem geschrieben hat, haben viele seiner Werke für mich etwas Requiem-haftes. Wenn man die Requiems, die man so kennt, lange genug kochen würde, dann würde unten auf dem Topf das Salz übrig bleiben, was ungefähr so klingt wie Grabstein für Stephan. Und deshalb wollte ich ein Requiem machen. Ein reizvoller Aspekt war auch der Umgang mit einer genuin musikalischen Form in einem ganz anderen Medium. In der Bildenden Kunst gibt es Altarbilder, aber kein Requiem.«
Im Gegensatz zu seinem engen Freund Ligeti ist Kurtág nach seinem Aufenthalt in Paris nach Ungarn zurückgekehrt und dort bis zum Ende des Ostblocks geblieben. War das eine ganz bewusste Entscheidung für das geschützte Arbeiten hinter dem eisernen Vorhang?
Polzin: Ja, Kurtág ist für mich ein Beispiel für ein gigantisches Talent, das sich die Zeit genommen hat, aber auch die Zeit bekommen hat, sich in Ruhe zu entwickeln. Natürlich gab es die Sorgen des täglichen Überlebens, aber die Sorgen waren im Ostblock ganz andere als im Westen. In so einer geschützten Ecke konnte da etwas reifen, mit allem Schmerz, der dazugehört. Da waren nicht der äußere Druck und die Mühlen eines Musikbetriebs, mit denen er im Westen konfrontiert gewesen wäre.
Engel: Ligeti war dagegen immer der Spektakuläre, er war im Westen, war berühmt, hat sehr viel geschrieben.
Polzin: Die beiden hatten einen gemeinsamen Ausgangspunkt, haben in Budapest zusammen mit ihren Frauen die Mozart-Opern zu viert gesungen, und von da an ist es schon interessant nachzuverfolgen, was aus zwei Talenten in zwei unterschiedlichen Systemen wird.
Engel: Aber natürlich war Ligeti eine ganz andere Persönlichkeit, überströmend, ein Machertyp. Es ist nicht nur der Westen, der Ligeti zu Ligeti gemacht hat.
Sein Verbleib in Ungarn hat dazu geführt, das Kurtág im Westen lange unbekannt war. Boulez sagte 1986 zu Kurtágs 60. Geburtstag: ›Die Musik von György Kurtág habe ich erst viel zu spät kennengelernt. Ich weiß nicht, warum, infolge welcher unseligen Verkettung von Umständen – jedenfalls war sie mir bis in die letzten Jahre vollständig entgangen. Tatsächlich vollständig: Ich kannte keine Note, nicht einmal den Namen des Komponisten!‹
Engel: Nach der Wende hat sich das dann aber relativ schnell geändert. Zoltán Peskó hatte gleich 1991 bei einem Konzert mit den Berliner Philharmonikern Grabstein für Stephan dirigiert, was quasi eine Art Uraufführung war; es war vorher in Ungarn nur einmal von einem Studentenorchester gespielt worden.
Nochmal zurück zu seiner Krisensituation in Paris. Kurtág selbst beschreibt seinen Zusammenbruch mit Kafkas ›Verwandlungs‹-Motiv: ›Ich fühlte mich in einem regenwurmartigen Ungezieferzustand mit einem gänzlich reduzierten Menschsein.‹ Der Kafka-Bezug wird dann eine Konstante bei ihm, nicht nur in seinen Kafka-Fragmenten – daneben gibt es viele weitere literarische Bezüge, Beckett, Hölderlin, Lichtenberg, was bedeuten sie für sein Werk?
Engel: Sie sind elementar für ihn und das Momentum des Komponierens: Er braucht immer einen äußeren Bezug, fast jedes Stück von ihm ist eine Widmung oder kommt aus einem Text, der ihn fasziniert,
Polzin: Es ist auch kein Zufall, dass er jetzt bei seiner Oper wieder zu Beckett (Das Drama Fin de Partie, d. Red.) zurückkommt, weil dort die Verbindung zu seiner Musik am offensichtlichsten ist. Es ist nämlich eine Literatur ohne Bindeglieder, bei Beckett sind die Pufferzonen nicht da, da ist nur noch das Skelett, das absolut notwendige, und das ist auch das, was wir in Kurtágs Musik noch hören.
Alex Ross schreibt über ein Recital mit Márta und György Kurtag: »But what playing! Notes were placed with surgical care; inner voices gleamed in crystalline patterns; elusive emotional states were painted with quick, light strokes. At the heart of the ›Játékok‹ selections was ›In Memoriam András Mihály,‹ a gentle, halting funeral procession that ends with spread-out white-key chords; it is music that must have deep meaning for Kurtág, as he orchestrated and elaborated it in the final movement of his 1994 orchestral masterpiece ›Stele.‹ In his own rendition at the piano, it sounded like a choir of lost souls singing behind a wall of ice. No composer has more convincingly approximated the feeling of everything coming to an end. Still, the music played on, full of crying, laughing, and murmuring voices, like a music box that still makes sound after its parts have stopped moving. To close, the Kurtágs performed an arrangement of the opening movement of Bach’s cantata ›Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit,‹ which was—how else to put it?—one of the most beautiful things I have ever heard.«

›Als ich zuallererst ein Porträt von Kurtág machen wollte, wollte ich wissen, wie dieser Mensch als Kind ausgesehen hat. Danach habe ich auf der Basis von Fotos Skizzen gemacht. Als ich beide, Márta und György dann besser kennengelernt habe, ist zunächst das Doppelporträt als Triptychon entstanden. Das Kinderthema habe ich jetzt wieder hervorgeholt.‹
In einer Festschrift der Hanns Eisler Hochschule erzählen viele Musiker/innen, die mit ihm gearbeitet haben, von dieser fast schon legendären Härte und Unerbittlichkeit, mit der er in Proben arbeitet. Ist er auch so unerbittlich gegenüber sich selbst?
Polzin: Absolut, mit Sicherheit. Noch hundertmal härter als gegenüber dem Rest der Welt. Und das ist ja die Grundlage, auf der jeder, dem diese Härte zuteil wird, eine Chance hat, sie zu akzeptieren oder damit umzugehen.
Was vielleicht noch eine Besonderheit in diesem Verhältnis zwischen ihm und Márta ist, dass es eben nicht diese stereotype ›der eine ist der Frontmann, der andere stärkt den Rücken‹-Beziehung ist. Ich habe bei den beiden immer das Gefühl, dass diese Symbiose zwischen ihnen eine solche ist, dass man sagen kann, dass György auch für Márta mitkomponiert, dass Zustände ihren Ausdruck in der Musik finden, die nicht nur Zustände in der Person Györgys, sondern auch in der von Márta Kurtág sind. Und das halte ich für etwas sehr ungewöhnliches.
Wie leben die beiden?
Polzin: Darauf gibt’s eine ganz andere Antwort: Der Mittelpunkt, um den sich radikal alles dreht in Mártas und Györgys Leben, ist die Musik. Was sie interessiert, was eine Bedeutung hat, ist diese Arbeit.
György Kurtág sitzt jetzt seit vielen Jahren an einer Oper…
Polzin: Der Auftrag ist zwanzig Jahre alt!
… zu Becketts Fin de Partie, was auch wieder einen Bogen schließt zu seinem Jahr in Paris, wo er 1957 das Stück zum ersten Mal im Theater gesehen hat. Wie ist der Stand?
Polzin: Zunächst einmal – jetzt ist gerade Boulez gestorben, der hat es nicht geschafft, eine Oper zu komponieren, obwohl er sich verschiedene Stoffe vorgenommen hat. Oper ist ja tatsächlich die größtmögliche Form – wie das zum Schluss bei ihm aussieht, wie sich anderthalb Stunden Kurtág als ganzes gedacht anhören, das ist ein Riesenabenteuer und ein wahnsinniges Fragezeichen. Einen Kurtág-Abend, der Spektakel ist? Die große Frage wird sich dann auch stellen, wie man das auf die Bühne bringt? Ursprünglich war es mit Bondy geplant (der Regisseur Luc Bondy ist im November 2015 gestorben, d. Red.). Wer hat eine vergleichbare Radikalität in der Bühnensprache, die Kurtág entsprechen könnte? Von den Lebenden würde mir eine Figur wie Peter Brook einfallen.
Zum Abschluss, Titus, wie würdest du Kurtág musikhistorisch einordnen?
Engel: Er ist ein großartiges Einzelphänomen im 20. Jahrhundert, ich würde ihn in eine Linie stellen mit Messiaen, Ligeti, Boulez, Stockhausen, Lachenmann, die alle auf unterschiedliche Weise einen Personalstil haben. Ich kann mir keinen Kurtág-Schüler vorstellen. Es ist eine Musik, die ganz sicher bleiben wird, auch weil sie in ihrer Essentialität sehr viele Menschen berührt, ohne dass die dafür ›Experten‹ sein müssen. Gesualdo ist auch so ein Komponist: Ich kann mir vorstellen, dass wenn man einmal zurückblickt in ein paar Jahrhunderten, Kurtág diese Art von Singularität haben wird. Es gibt in der zeitgenössischen Musik so viel durch zerebrale Strukturen bestimmte Musik. Kurtág komponiert dagegen ein Höchstmaß an emotionaler Essenz und ist damit musikalisch in einem ganz ursprünglichen Sinne. ¶
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