Nur dreimal hat Wagner zu seinen Lebzeiten den Ring des Nibelungen in Bayreuth aufführen lassen, 1876 im funkelnagelneuen Festspielhaus. Sechs Jahre später gab es noch 18 Vorstellungen des Parsifal. Das war’s. Nicht nur, weil er den Betrieb mit seiner vierteiligen Endzeit-Tragödie tief in die roten Zahlen gerockt hatte. Sondern auch, weil das gigantomanisch konzipierte Ganze als unwiederholbarer Exzess gedacht war, als berauschender Ausnahmezustand wider die Routinen des (Theater-)Alltags.
Knapp eineinhalb Jahrhunderte sind seit der ersten, von Meister Richard noch höchstpersönlich beaufsichtigten Saison auf dem Grünen Hügel verflogen. Und kaum etwas ist von der avisierten Aura des Einzigartigen, Unverwechselbaren, dem Erlebnis markerschütternder Überwältigung geblieben. Bereits Witwe Cosima, die geschäftstüchtige Erbin des Bayreuther Gesamtkunstwerks, passte die Nibelungen-Tetralogie als besondere Attraktion in den Kanon jener zehn Stücke ein, für die sie exklusives Hausrecht im Allerheiligsten des bald zur Kult- und Pilgerstätte mutierten Wagner-Festspiel-Bezirks verfügte. Rund 900 Ring-Abende zwischen 1896 und 2020 verzeichnet die Statistik, was 225 kompletten Zyklen entspricht oder – bei im Schnitt 14 Stunden pro Quartett – 3.150 Stunden reiner Spielzeit.
Schon steht der nächste Marathon bevor in der Endlosschleife um fallende Götter, aufstrebende Unterweltler und heldisch untergehende Menschenwesen: Wenn sich am letzten Juli-Tag das Drama abermals grummelnd aus den Es-Dur-Tiefen des Rheingrundes entspinnt, im Anstrich einer Familien-Saga, läuft die 15. szenische Neufassung auf der Bayreuther Ring-Bühne an. Vier Sommer wird sie wohl vorgehalten, danach übernimmt das nächste Team. Und so weiter und so fort. So will es die offenbar unverwüstliche Macht der Gewohnheit.

Wen wundert’s da, dass das mit kunstmissionarischem Reformeifer gegründete Festspielhaus längst nicht mehr das Maß aller Wagner-Dinge ist. Der ästhetische Autoritätsverlust hat nicht nur mit der problematischen, mittlerweile in vierter Generation fixierten Clan-Herrschaft zu tun – angedeutet seien hier nur Cosimas musealer, antisemitisch vergifteter Konservatismus, Siegfrieds und insbesondere Winifreds korrumpierende Kumpanei mit Hitler oder die Winkelzüge des bauernschlauen Wolfgang, der die Festspiele nach dem frühen Tod seines Bruders Wieland (1966) mehr als vier Jahrzehnte wie ein Patriarch verwaltete, um schließlich seine spätgeborene Tochter Katharina als (bis mindestens 2025 amtierende) Chefin zu installieren. Vorbei sind auch die Zeiten, als Bayreuth für große Stimmen, Dirigenten und Regie-Raum-Bild-Künstler eine unverzichtbare Station der Wagner-Exegese war.
Seit Jahrzehnten entzündet sich zumal am Ring weltweit ein sportiver Ehrgeiz, der keineswegs exklusiv unter den ersten Adressen des Opernzirkus grassiert. Fast 30 Häuser und Festivals bieten den Zyklus (oder Teile) allein seit Anfang 2021 live an, beinahe im Monatstakt kommen neue Produktionen hinzu. Von Melbourne bis Zürich, von Washington bis Wien, von Versailles bis Chemnitz, Kassel und Regensburg – überall scheint die Arbeit an Wagners umfänglichstem musikdramatischem Mythos als Schaufenster der eigenen Leistungsfähigkeit zu rangieren. Doch wirklich »Neues«, wie der Dichterkomponist einst forderte, springt dabei kaum heraus. Die Lektüren des Textes und der Partitur haben sich einstweilen erschöpft. Jede Note, jedes Motiv, jedes Wort, jede Figur und Szene wirken bis in die letzten Partikel ausgekundschaftet. Wer im Zuge dieser inflationären Ring-Beflissenheit heute noch mediale Aufmerksamkeit anstrebt, muss bei der Sache äußerlichen Alleinstellungsmerkmalen Zuflucht suchen. Da hofft etwa die Oper Stuttgart, ihr erstmals in den 1990er-Jahren realisiertes Konzept einer disparaten Deutung – die vier Stücke wurden von vier verschiedenen Teams inszeniert – dadurch zu überbieten, dass jetzt sogar die einzelnen Aufzüge eines Teilstücks, der Walküre, in drei unterschiedlichen Regiehandschriften erscheinen. Warum nicht die szenischen Zuständigkeiten noch weiter kleinteilen? Es vielleicht mal mit Theologen für die Göttersphäre versuchen? Mit Pyromanen für den Brünnhilde-Felsen und Brand der Burg, mit Dampfschiffern für Siegfrieds Rheinfahrt oder Sporttaucherinnen für die Unterwasserneckereien der Rheintöchter?
Die Logik selbstläufig leerer Originalität spricht Bände über die Schwierigkeiten, dem aufgelaufenen hermeneutischen Erfahrungsschatz substanziell Unerhörtes, Übersehenes hinzuzufügen. Der abstrakte Minimalismus Wieland Wagners, der nach 1950 (auch als Verdrängungsakt eigener NS-Verstrickung) Trinkhorn und Bärenfell hinwegfegte, die gründerzeitlich-kapitalismuskritisch grundierte, der emotionalen Innenwelt entfremdeter Individuen folgende Psychoanalytik Patrice Chéreaus im Bayreuther Jahrhundert-Ring (1976) oder die diskontinuierlich-abgründige, heterogene Erzählstrategie einer Ruth Berghaus (Frankfurt, 1985–87) – paradigmatische Wendemarken der Interpretation wie diese bleiben, so steht zu befürchten, bis auf weiteres Geschichte.
Auch die Klangräume scheinen bis in die dunkelsten Winkel ausgeleuchtet. Ein himmlische Längen zelebrierender Romantiker wie James Levine nahm einen Faden auf, den Hans Knappertsbusch ausgelegt hatte. Der straffe Zug vorgeblich grundstürzend modernistischer Ring-Neuerer wie Michael Gielen oder Pierre Boulez war so neu nicht: Um konzise Tempi kümmerten sich schon avantgardistischer Neigungen unverdächtige Wagner-Dirigenten wie Heinz Tietjen, Otmar Suitner oder Horst Stein. Und selbst die derzeit mit viel Tamtam beworbene »historisch-kritische« Neubewertung durch das Alte-Musik-Ensemble Concerto Köln und Kent Nagano klopft an Türen, die längst weit offen stehen – man denke nur an die detaillierten aufführungspraktischen Studien des (übrigens exzellenten Wagner-)Interpreten Hartmut Haenchen.

Was tun? Vielleicht es einfach mal lassen. Abstand gewinnen. Eingestehen, dass man auf der Stelle tritt beziehungsweise sich im Kreise dreht. Bloß noch frisch verputzt, übermalt, virtualisiert, dekonstruiert, vernetflixt oder sonstwie »aktualisiert«, was zu einem abgegriffen-monumentalen Ausstellungsobjekt zu erstarren droht. Wie wär’s mit einer Denkpause, einem Ring-Moratorium? Sagen wir, zehn Jahre Abstinenz. Frei nach Erda. Was raunt die Weise doch gleich im Rheingold dem sich selbst demontierenden Göttervater zu? »Weiche, Wotan, weiche!«
Aber keine Sorge, daraus wird ohnehin nix, die nächsten Großprojekte sind bereits in der Pipeline. Nur zwei Beispiele: Im Oktober will Daniel Barenboim seine dritte Ring-Produktion an Berlins Lindenoper einläuten (Regie führt Dmitri Tcherniakov), Schlag auf Schlag, vier Premieren binnen einer Woche; ab Herbst 2023 soll Romeo Castellucci am Brüsseler La Monnaie das Ding mit seiner archaisch wilden, reflektierend rituellen Assoziationspranke in Schwingung versetzen (Musikdirektor Alain Altinoglu dirigiert). Na, dann. ¶