Manchmal stimmt einen die Wiederbegegnung nach längerer Zeit milder gegenüber einer Inszenierung, die einen seinerzeit beim Kennenlernen mopste. So ist es mir zum Beispiel mit Kirsten Harms’ fünfzehn Jahre alter Tannhäuser-Regie ergangen, die im Rahmen einer Gesamt-Wagner-Durchmessung (einschließlich inhärentem Dirigenten-Casting) an der Deutschen Oper Berlin wiederzusehen ist. Mein früherer Grimm über Unzulänglichkeiten und Zumutungen, etwa die demonstrative Symmetrie und Statik der Inszenierung, verdünnisiert sich beim Wiedersehen einigermaßen. Und auch wenn im Venusberg erotische Defizite bleiben, eine generell steife Atmosphäre, so sind einige der größten Anfechtungen von 2008 behoben: etwa die Bügelfalte im Handtuch, das die Venus (seinerzeit eine Sängerin mit penetrantem S-Fehler) sich damals um Hüften und Brüste hielt, ein abtörnendes Outfit, mit dem man keinen Fuß ins KitKat setzen dürfte.

Dafür weiß ich nun aber doch manche Stärken der Harms-Inszenierung mehr zu schätzen. Auf einer durchaus gegenwärtigen Ebene beeindruckt die dauernde Präsenz von überpanzerter Männlichkeit, in Form allgegenwärtiger Rüstungen. Und, ganz allgemein: Wer könnte denn nicht entzückt sein von einem lufttanzenden Ritter, der zu Beginn zu den Klängen des allerschönsten Opernvorspiels aus höchster Bühnenhöhe in die Tiefe schwebt?

Tannhäuser in Kirsten Harms‘ Inszenierung, hier jedoch mit Emma Bell als Elisabeth/Venus und Markus Brück als Wolfram von Eschenbach (2017) • Foto © Bettina Stöss

Noch mehr aber spricht mich jetzt der geradezu rührende Ernst an, den Harms der zwanghaften Buß- und Reu-Welt des Tannhäuser entgegenbringt. Der Pilgerzug im ersten Aufzug singt aus dem Fegefeuer, das die alles überwölbende permanente Verdammnis-Angst für Gläubige schon in Erdenraum und Erdenzeit hereingebracht haben mag. Und wie eindrucksvoll ist das projizierte Bild des Dämonen mit weit aufgerissenem Maul, das uns am Ende des zweiten Akts in die Pause entlässt! Da schaue(r)n wir selbst in die Hölle.

An diesen offenen Mund der Hölle mögen wir wieder denken, wenn uns der Amerikaner Clay Hilley, ein Heldentenor erster Sahne, im dritten Aufzug mit Tannhäusers Rom-Erzählung konfrontiert, diesem Ausbund totaler Verzweiflung. Das Wort »Sehnen«, das aus diesem Mund kommt, scheint vor Intensität zu bersten. Die erste Silbe von »durchwühlt« wird in Hilleys Rachen derart gegerbt, dass sie zu zerreißen droht. Und das »hub an«, auf das die vernichtenden Papstworte folgen werden, schlägt uns unbarmherzig mitten ins Gesicht.

Da steht der rundum überzeugende, in seiner Tenorkraft niemals entgleisende Hilley auf Augenhöhe mit jener Kollegin, die wohl die Hauptattraktion dieser Aufführung ist. Elisabeth Teige, die seit ihren Bayreuther Erfolgen allen Wagner-Interessierten ein hehrer Begriff ist, hat die heikle Doppelrolle Venus/Elisabeth übernommen. Üblicherweise wird diese Rolle ja von zwei Sängerinnen interpretiert. Inhaltlich leuchtet Harms’ Verschmelzung unmittelbar ein: Es ist ja ein und dieselbe Frau, die vom Männerblick bald zur Hure, bald zur Heiligen gemacht wird. Sängerisch aber ist die Koppelung eine Herausforderung. Teige meistert sie, auch wenn ihrem Sopran die Rolle der Elisabeth nicht nur aus Gründen der Vornamensgleichheit wohl näherliegt. Das Umschalten von Venus zu Elisabeth im dritten Aufzug gelingt Teige nicht nur darstellerisch, sondern auch stimmlich imposant – erst beten, dann bersten. Die pure Schönheit der Teige-Stimme schließlich kommt im zweiten Aufzug am eindringlichsten zur Geltung, im herzzerreißenden Flehen der Elisabeth, in piano-Höhen, die reines Glück sind, im Einswerden des menschlichen Gesangs mit Holzbläsern.

ANZEIGE

Bayreuth-erfahren wie Hilley und Teige ist auch der Dirigent dieses Berliner Tannhäuser: Pietari Inkinen dirigierte den Festspiele-Ring, nicht unumstritten zwar, aber für meine Ohren exquisit. Auch in dieser Tannhäuser-Aufführung nehmen mich der sehr beschwingte Klang und das Melos ein, zu denen Inkinen das Orchester führt. Die Wärme der Streicher, die Majestät und Klarheit der Bläser, der dramatische Zug des Ganzen, dabei jederzeit große Sängerfreundlichkeit: Was das Orchester der Deutschen Oper unter Pietari Inkinen macht, gehört für mich zum stärksten Wagner, den ich in diesem Haus seit Jahren erlebt habe. Und da dieses Haus ja einmal ein absolutes Wagner-Zentrum war, muss einem bei der Frage der Runnicles-Nachfolge 2026 zwangsläufig auch Inkinen in den Sinn kommen. Denn bei allem Respekt für das KBS Symphony Orchestra und die Deutsche Radio Philharmonie, wo Inkinen derzeit Chefpositionen innehat: Weder Südkorea noch Saarbrücken/Kaiserslautern dürften die Endstationen für diesen Dirigenten darstellen.

Die GMD-Wahl der Deutschen Oper wird spannend angesichts des Nachbarn Staatsoper Unter den Linden, wo die Wahl bekanntlich auf Christian Thielemann fiel, der so prominent wie kontrovers ist. Und dessen Wagner-Kompetenz (um nicht »Magie« zu schreiben) außer Frage steht! Umso interessanter, dass die Deutsche Oper sich in dieser Saison sämtliche großen Wagner-Opern vorgenommen hat. Die Wahl einiger Dirigenten lässt aufhorchen: Während Donald Runnicles selbst noch einmal Parsifal und Ring machen wird und für die Meistersinger eine altbewährte, aber eher mittelaufregende Kraft wie Ulf Schirmer verantwortlich ist, wird bei Tristan und Isolde Juraj Valčuha ans Werk gehen: ein Dirigent, der seit Jahren vorzüglich als regelmäßiger Erster Gastdirigent am Konzerthaus am Gendarmenmarkt arbeitet und mir noch tendenziell unterschätzt scheint. Zur älteren Garde gehört hingegen James Conlon, der den Lohengrin dirigieren soll.

Wie wichtig Dirigenten (und gemeinsame Probenzeit) sind, zeigt eine Aufführung des Fliegenden Holländer am Sonntag nach dem begeisternden Tannhäuser. Da ist mein Eindruck leider erheblich trüber als tags zuvor. Natürlich hat der Holländer nicht die mirakulösen Feinheiten der Tannhäuser-Partitur aufzuweisen, aber gar so polterig wie zum Teil hier unter Leitung von Ivan Repušić muss er auch nicht klingen. Und der Chor der Deutschen Oper bezauberte noch am Samstag im Tannhäuser wahrhaft; im dritten Aufzug etwa setzte er auf Betten über die ganze Bühne verteilt in einer Synchronität an, dass einem der Atem stockte, und blieb auch in den größten Steigerungen noch kontrolliert und berauschend durchhörbar. Im Holländer aber dröhnt’s mitunter frisch von der nordischen Leber und allzu stürmisch durcheinander.

Spucks Holländer, hier eine Aufführung von 2017 mit Ingela Brimberg als Senta • Foto © Thomas Jauk

Christian Spucks Holländer-Inszenierung fördert, gerade in ihrer ersten Hälfte, in ihrer durchgehenden Dämmerigkeit die Melatonin-Ausschüttung des Zuschauers derart, dass der Schummer zwangsläufig Schlummer gebiert. Immerhin, aus dem ewigen Halbdunkel strahlt umso goldglänzender die Stimme von Vida Miknevičiūtė. Sie ist die aufregendste Sängerin im Cast, für zwei Vorstellungen des Holländer, nachdem zuvor ebenfalls Elisabeth Teige als Senta zu hören war. Miknevičiūtė ließ schon vor einigen Wochen an der Staatsoper Unter den Linden als Elektra-Chrysothemis eminent staunen, und das tut sie nun zweifellos auch als Senta. Aber sie scheint mir (noch) dazu zu neigen, ihr gewaltiges Stimmwunder quasi auszustellen, statt es in den Dienst der Rolleninterpretation zu nehmen. Bei der vielgelobten Lise Davidsen empfand ich andernorts schon ähnlich. Eine Ähnlichkeit besteht darin, dass Miknevičiūtė (die wundervolle Senta-Momente hat!) teilweise schlicht zu laut singt. Wenn sie erst ihren Glanz in die Tiefe richten wird!

Dennoch sticht Miknevičiūtė aus der Besetzung des Holländer hervor. Nun ist kaum etwas zu gewinnen und viel zu verlieren, wenn ein geplanter Sänger wie Michael Volle ersetzt werden muss. Bei Egils Silins als Holländer steht ein wohlklingendes, mitunter imposantes Stimmmaterial doch einer gewissen Einförmigkeit und pauschalen Gestaltung gegenüber. Und was Liang Li als Daland und Robert Watson als Erik angeht, kommt man um das leidige Wagner-Thema Textdeutlichkeit nicht herum. Auch wenn man natürlich nicht Michael Volles singuläre Diktion zum Maßstab machen kann: Hier sind öfter ganze Versbündel nicht zu verstehen, ja manchmal würde man nicht einmal wetten wollen, in welcher Sprache gerade gesungen wird. (Das ist im Übrigen kaum mehr eine individuelle Sängerkritik, sondern eine Frage an heutigen Wagnergesang insgesamt, und auch ans Casting von Opernhäusern.)

Was bleibt von diesem Wagnerwochenende an der Deutschen Oper? Einmal Begeisterung, einmal Enttäuschung, die freilich durch die noch frischen hervorragenden Eindrücke vom Vortag befeuert sein mag. Denn der Tannhäuser erinnerte daran, zu welchen Wagner-Höhen dieses Haus in der Lage ist. Fünf Sterne dafür, gern wieder. ¶


… lebt in Berlin, liebt Musik, schreibt Romane: u.a. ›Beethovn‹ (2020). Zuletzt erschien ›Silence‹. ✉️ KonzertgaengerBerlin@gmail.com

Nehmen Sie an der Konversation teil

1 Kommentar

Hinterlassen Sie bitte einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert