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Titelbild © Alex Ketzer

Über mittelhochdeutsche Zeilen gebeugt hörte ich zum ersten Mal bewusst den Parsifal. Sicherlich, das Bühnenweihfestspiel lief auch vorher schon öfter, vielleicht im Hintergrund, vielleicht in Teilen. Aber mit dem Parzival von Wolfram von Eschenbach vor mir, hörte ich zum ersten Mal genau hin – meinte ich zumindest. Denn bis heute haben sich mir diese Musik und dieser Text von Wagner nicht richtig erschlossen. Aber er kommt mir immer näher, der Parsifal.Je nach Dirigat ist es etwa viereinhalb Stunden lang, das letzte Werk Richard Wagners. Die Diskurse um den Parsifal sind lauter als seine Musik es jemals wird. Doch darum soll es in diesem Artikel nicht gehen. Ich möchte darüber schreiben, wie persönliche Zugänge und Bindungen zu dieser Oper aussehen können. Trotz der Komplexität, trotz der religiösen Patina, trotz dieser teils endlos schleifenden Musik. Oder vielleicht gerade deswegen?

Nach wilder Schmerzensnacht nun Waldesmorgenpracht

Parsifal hat seine Mutter Herzeleide verlassen, um Abenteuer zu erleben. Auf einer Waldlichtung trifft er auf die Ritterschaft der Gralsburg, dessen König Amfortas unter starken Schmerzen leidet. Parsifal hört von einer Prophezeiung: »Durch Mitleid wissend, der reine Tor.« Er weiß nicht, dass es in seiner Hand liegt, den leidenden König von seinem Fluch zu erlösen – der Wunde, die der Speer ihm schlug, der einst auch Jesus am Kreuz verletzte. Der Heilige Gral  kann, wird er entblößt, Amfortas kurze Linderung verschaffen, erhält ihn aber auch weiter am Leben, verlängert die Qual. Parsifal erblickt dieses Schauspiel und: Erkennt nichts. Sein Mitleid lässt ihn nicht wissen.

Das ist der erste Akt. Darauf folgend erleben wir das langsame Erkennen des Protagonisten. Wie er durch eigene Qual und hehres Sehnen erlebt, dass nur Mitleid der Schlüssel sein kann. Erst im Mitleid löst sich das Leiden.

Das ist auch der Kern des Parzival von Wolfram von Eschenbach, um 1200 geschrieben. In meinem Master der Älteren Deutschen Literatur an der Freien Universität in Berlin gehörte der Versroman für viele Monate zu meinem Leben.

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Auf der linken Seite das mittelhochdeutsche Original, auf der rechten die neuhochdeutsche Übersetzung. Mein Anspruch lag links, der Pragmatismus ließ meine Augen aber doch oft nach rechts wandern. Es war ein akribisches Lesen. Eine Suche nach Hinweisen: An den Rändern sehe ich heute meine vielen Anmerkungen, die ich hatte. »Vergebung der Schulden«, »Gotteskritik«, »rituelle Trauer« – Worte, die ich auch unter dem Eindruck der Musik niederschrieb. Mit Kopfhörern saß ich da, ließ den Parsifal laufen, immer wieder. Hier stellte sich die Verbindung her zwischen drei Menschen: Wolfram von Eschenbach, Wagner und mir.

Auch auf dem Weg zur Uni hörte ich diese Musik oft. Wählte mir Stücke heraus, die gerade besonders zu mir sprachen. Meist saß ich da, für fünf Minuten vielleicht, ganz ergriffen. Bis ich die Bahn wechseln musste, Papiere für das bevorstehende Seminar in der Hand. In der Oper hatte ich dieses Werk bis dato noch nicht erlebt. Sicherlich nicht die üblichste Weise, sich dem Parsifal zu nähern.

Sag Knab‘, erkennst du deine große Schuld?

»Ich war sieben Jahre alt, als ich den Parsifal das erste Mal gesehen habe. Das war in der Staatsoper, noch zu Zeiten der DDR«, sagt Nina Crönert, Designerin und Musikerin. Sie kommt aus einer Familie absoluter Wagnerianer:innen, Eltern, Großeltern, alle seien sie jedes Jahr nach Bayreuth gefahren. Schon mit sieben Jahren sei bei ihr damals etwas hängengeblieben: »Im Tristan zuvor hatte ich eher die Kronleuchter im Opernsaal gezählt. Aber der Parsifal hat mich gepackt. Als der erlegte Schwan im ersten Aufzug auf die Bühne kam, setzte ich mich auf und schaute gespannt zu«, sagt die heute 55-Jährige. Der sei so fluffig gewesen, mit tropfendem Blut. Sie habe vom Text kaum etwas verstanden, Obertitel gab es noch nicht, aber diese Szene habe sie mitgenommen. »Heute bin ich von der Szene immer noch so bewegt wie damals«, sagt sie.

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»Mir stellen sich immer noch die Haare auf, wenn die Erzählung um den Schwan beginnt. Auch wenn ich ehrlich sagen muss, dass ich den Parsifal bis heute nicht begreife.« Sie lese Bücher über das Werk, beschäftige sich auch mit den religiösen Symboliken. »Ich bin eine religiöse Person. Für mich ist das immer ein wenig wie Gottesdienst, diese Oper zu erleben.« Derzeit kann sie freilich keine Aufführung sehen. Aber dieses Ostern werde sie sich mit ihrer Familie vor dem Fernseher versammeln – alle fein angezogen, versteht sich – um zusammen den Parsifal zu schauen.

Wie würde sie anderen empfehlen, dieses Werk kennenzulernen? »In die Oper gehen. Am besten unvorbereitet – staunend«, sagt sie. Denn zu dieser Oper gehöre die Atmosphäre; der Geruch des Saals, das Geräusch des Vorhangs, wenn er aufschwingt. Die Andacht der anderen Menschen, die mit einem für viele Stunden da sitzen.

Nina Crönert
Nina Crönert

Da traf mich sein Blick

Meine Geschichte mit Parsifal begann im Text. In der Analyse des Stoffes, den Wagner adaptierte, veränderte, kürzte und erweiterte. Aber da war noch mehr, nicht nur Theorie, sondern diese tiefe Melancholie. So viele Figuren, die an so viel festhalten, die nicht fortkommen. Schmerz.

Ich bin in einer Orgelbau-Familie aufgewachsen, war früh vertraut mit den Riten und Gebräuchen der Katholischen Kirche. Noch heute rieche ich gerne Weihrauch und erschaudere ein wenig beim Klang einer Orgel. Mein Körper fühlt noch das Sitzen auf den harten Bänken, der Blick richtet sich innerlich noch auf das große Bild von Jesus und seinen Jüngern in unserer Kirche – vor ihnen steht der Gral. Religiös bin ich nicht. Nicht mal spirituell, möchte ich behaupten. Aber wenn ich mich doch solchen Sphären nähere, dann bei dieser Musik. Etwa wenn Kundry von ihrem Fluch singt. Davon, wie sie Jesus verspottete und seitdem rastlos umherzieht, auf der Suche nach Erbarmung. Es waren die ersten Szenen, die damals richtig hängenblieben, die etwas auslösten. Aber bis heute frage ich mich: Wieso bewegt mich diese Musik so?

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»Bei meinem ersten Parsifal stand ich mit auf der Bühne«, erzählt Matthias Lorenz Binondo. Damals war er 16 Jahre alt und Teil eines Chors. »Bei drei Inszenierungen waren wir als Extrachor mit dabei. Der Parsifal war für mein Alter aber wohl zu heftig«, sagt der 45-Jährige. Das Verständnis sei noch nicht da gewesen. Dennoch, das Ende, »Erlösung dem Erlöser«, sei schon hängengeblieben. »Das lag auch an der Inszenierung, die Bühne war da in violettes Licht getaucht.«

Matthias Lorenz Binondo
Matthias Lorenz Binondo

Seitdem habe er sich immer wieder mit dem Parsifal beschäftigt, über viele Jahre viele Aufnahmen gehört, Inszenierungen gesehen. »Der große Auslöser war aber erst vor drei Jahren.« In Bayreuth. »Vielleicht lag es an dem Raum, vielleicht auch an meiner Stimmung. Es hat etwas Kosmisches in mir ausgelöst, ich war zu Tränen gerührt.« Danach habe er noch fünf Stunden alleine in einem Restaurant gesessen, Wein getrunken und gedacht: »Alles hat mit Mitleid zu tun. Wenn wir etwas ändern wollen, wenn ich etwas ändern möchte, dann mit der Fähigkeit, Mitleid zu empfinden.«

Wieder sei es vor allem das Ende der Oper gewesen: »Erlösung dem Erlöser.« Das habe etwas von absoluter Aufklärung, besonders wenn die langsamen Tempi ausgehalten, es nicht flüchtig gespielt würde. »Man muss sich die Zeit nehmen, sich in jeden Ton hineinzudenken«, sagt Matthias Lorenz Binondo, der selbst Orchesterdirigieren studiert hat. Und welchen Zugang würde er empfehlen? »Lieber erstmal was Anderes von Wagner.«

Enthüllet den Gral, öffnet den Schrein

Es sind einzelne Teile dieser Oper, die mich immer wieder aus der Fassung bringen. Die mir kurz nahe kommen, mich durchrütteln und dann wieder allein lassen. Und dann wundere ich mich. Es sind aber auch die Momente, die ich durch diese Oper erlebt habe. Meine erste Vorstellung in der Deutschen Oper – wie angefasst das Publikum schien. Und auch ich. Und wie ich danach wieder und immer noch nicht wusste, was da eigentlich gerade passiert ist. Wieso nimmt es mich so mit, wenn im Ersten Aufzug der Gral enthüllt, eine irgendwie pervertierte Eucharistie gefeiert wird? Ist es diese schwallende Musik? Ist es meine christliche Prägung, die mich das dort dargestellte erkennen lässt?

Nimm mir mein Erbe, schließe die Wunde

In den letzten Monaten habe ich den Parsifal öfter gehört als in den Jahren davor. Er hat sich mir aufgedrängt – und eine andere Rolle bekommen. Noch immer ist es die Melancholie, die ich spüre. Dieses Verharren in verhassten Rollen, die Unfähigkeit, da rauszukommen. Die endlose Qual der Repetition, die Amfortas herausbrüllt, wenn er, wieder, den Gral aufdecken und seinen Schmerz verlängern soll.

Doch da ist über allem auch etwas Hoffnungsvolles. Am Ende siegt nicht die große Heldentat, sondern vor allem das Erkennen, das durch Mitleid entsteht. Der Trost, der in Musik gegossen wurde. Immer wieder aufwallt, sich andeutet, nie ganz greifbar wird. Wenn ich heute hier sitze, wieder mit Kopfhörern dieser Musik lausche, die mich jetzt schon seit über zehn Jahren beschäftigt, dann kommt der Trost auch aus den vielen Erinnerungen, den kurzen Momenten, die sich in der Musik festgesetzt haben. Stunden in der Bibliothek, der Geruch der U-Bahn. Das Hadern mit mir selbst, mich von Wagner, so einer Person, so einem pseudoreligiösen Stoff so mitnehmen zu lassen. Und die Ehrfurcht davor, dass diese viereinhalb Stunden Musik mir so viel gegeben haben und trotzdem immer noch verschlossen sind. Denn wenn die letzten Minuten abgelaufen sind, ist da fast immer diese Sehnsucht. Aber wonach?

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Ich fragte mich, ob diese Musik, diese letzten Minuten der Oper, ob sie auch Menschen erreichen können, die all das nicht kennen, was ich und so viele mit dem Parsifal erlebt haben? Das Hadern und Aushalten? Darum habe ich Menschen aus meinen Leben einfach ein Youtube-Video geschickt und sie gefragt, was sie da empfinden.

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»Der Anfang klingt nach dem Abschluss einer langen, beschwerlichen Reise«, schrieb mir René. »Am Ende musste ich schmunzeln, weil es sich so anfühlte, als wäre große Anspannung mit Zufriedenheit von mir abgefallen«, schrieb mir Mandy. »Es war, als würde ich an einem Hang stehen und ganz weit in die Welt gucken. In der Hoffnung, dass da noch so viel mehr ist«, sagt Nabard. »Ich habe es als sehr schön empfunden«, schrieb Stefan. »Das lässt sich am besten mit ›hoffnungsvoll und erlöst‹ beschreiben. Wenn die Musik auch ein Bewusstsein dafür hat, dass diese Hoffnung und Erlösung nur temporär sind.« ¶