Neuer Wagner an der neuen Staatsoper. Ob das was mit den Menschen macht? Szenen aus 6 Stunden Unter den Linden.

Selbstverständlich ist es grau und regnerisch in Berlin. Und doch scheint dieses Gebäude da hinten irgendwie zu glühen. Mag sein, dass es nur Einbildung ist. Unter den Linden steht die Staatsoper. An diesem Abend spielt Barenboim auf. So weit so unauffällig. Doch was er hier spielt, ist nicht nur die erste Premiere des wiedereröffneten Hauses. Er dirigiert den ersten Wagner in dieser frisch renovierten Oper – Tristan und Isolde.Was macht das mit dem Publikum? Vielleicht ziehen sie sich besonders elegant an. Oder gönnen sich noch mehr Wein. Oder verspüren zumindest ein größeres Kribbeln als sonst.
Vor der Tür stehen Chris und David.

David: »Eine Premiere ist immer etwas Besonderes, ich habe das Gefühl, dass die Künstler da besonders viel geben – vor allem im neuen Gebäude. Ich finde es super, dass sie die Decke angehoben haben, um mehr Klangraum zu schaffen. Das ist besonders für Wagner sinnvoll. Und trotzdem ist wohl die Deutsche Oper immer noch der geeignetere Ort für seine Opern.
Besonders rausgeputzt habe ich mich nicht. Wir sind hier ja in Berlin, nicht an der Scala. Kunst braucht keine Rolex und auch keinen Anzug.«
Chris: »Kannst du dir irgendwas Aufregenderes vorstellen als einen neuen Wagner an einer neuen Oper und dann noch unter Barenboim? Da ist ein Wein in der Pause auf jeden Fall genau richtig. Jede Entschuldigung für Dekadenz ist angebracht.«
Während die beiden noch draußen rauchen, strömt die Menge in das Gebäude. Dem Regen und dem Wind entkommen. Im Inneren eine Grau-Schwarze Masse. Fast meint man, auf der Beerdigung einer Berühmtheit zu sein. Schwarze Anzüge, schwarze Kostümchen. Hier mal ein gelber Schal. Dort eine dunkelgrüne Weste. Den Abend scheint das Publikum also eher bedächtig begehen zu wollen. Sollte eine besondere Vorfreude herrschen, drückt sie sich nicht in kreativer Kleidungswahl aus. Hier wird sich wohl eher auf Tristans schlussendlichen Tod vorbereitet.

Überall Grüppchenbildung. Verzierungen, Polsterung, Ausschwank-Möglichkeiten werden genau beäugt. Glücklich, wer den Trumpf ausspielen kann, das Gebäude schon damals kannte und es mit heute vergleichen kann. Dann wird genau eingeordnet, was wo verändert wurde. Man hört gebannt zu.
Im Saal stehen sie zwischen den Reihen, machen Fotos von der Decke, von den Rängen.
Selfies in der neuen Staatsoper, dazu lässt sich sogar ein älteres Ehepaar hinreißen. Nein, nicht für Social Media, sondern um Freunde neidisch zu machen.
Derweil sitzt ein jüngeres Paar in der Mitte des Parketts.

Fritz: »Wir sind totale Neulinge. Das ist nicht nur unsere erste Wagner-Oper, sondern unsere erste Oper überhaupt. Mein Vater und sein bester Freund sind große Wagner-Fans. Die haben durch Zufall gesehen, dass noch zwei Tickets frei sind, und für uns gekauft. Tristan und Isolde soll ja wirklich nicht die einfachste Oper sein. Aber wir freuen uns da sehr drauf. Ich habe mir für diesen doch ziemlich besonderen Abend extra meinen Anzug anpassen lassen.«
Theresa: »Wir haben uns auf diesen Abend vorbereitet! Haben ganz viel gehört und gelesen über Wagner. Uns wurde gesagt, dass einen die Musik doch ziemlich mitnimmt und man nach den Akten echt erschöpft ist. Darum muss ein Wein in der Pause auf jeden Fall sein. Ich habe mir für diesen Anlass sogar extra ein neues Kleid gekauft.«
Und damit beginnen die ersten Töne des Vorspiels. Man meint, dass das Publikum besonders leise ist. Diesem leisen Anfang noch andächtiger zuhört. Der Vorhang öffnet sich, die Bühne zeigt das Innere einer Luxus-Yacht. Holzvertäfelung, Meeting-Tisch mit Alkohol drauf, Stühle. An der Wand ein Bildschirm mit Blick aufs Meer. Darunter die Koordinaten des Schiffs. Das einzige Stück Natur also ist künstlich. Wenn Anja Kampe als Isolde über Andreas Schagers Tristan singt, schaltet Ekaterina Gubanova als Brangäne den Fernseher um. Auf Cam 7. Da läuft Tristan. Er sieht ein wenig aus wie ein Gebrauchtwagenhändler. In dieser Inszenierung zieht Isolde den Todestrank aus der eigenen Handtasche. Ansonsten passiert im ersten Akt nicht viel.

Pause. Die Grüppchen sind wieder da. Jetzt reden sie darüber, dass Prominenz gesichtet wurde. Thomas Gottschalk, Horst Köhler, Mathias Döpfner … Das Tuscheln zieht sich durch alle Etagen. Die Blicke wandern.
2. Akt. Auch jetzt wieder keine Natur. Der Wald ist nur an die Wände gemalt. In ihm befindet sich eine Jagd-Gesellschaft die die Gewehre in die Luft streckt. Dann abgeht. Als Isolde das Licht löscht, kommt Tristan hinter der Schiebetür hervor. Es folgt ein herrlich verspieltes Liebes-Duett mit High Fives. Doch dieses Verspielte scheint bald umzuschlagen. Kontrolliert Tristan etwa seine Isolde? Wie Hypnotisierungs-Versuche scheinen seine Handbewegungen. Wie hypnotisiert auch das Publikum, lauter Applaus nach dem zweiten wie auch schon nach dem ersten Akt.

Pause 2. Auch eine Frau an der Garderobe hatte sich auf diesen Abend mental eingestellt. Mit viel Pelz hatte sie gerechnet. Viel sei es auch geworden. Aber nicht viel Pelz. Das würde wohl, so ihre Theorie, am Wetter liegen. Der gute Pelz würde im Regen und Wind ja nur zerzauselt.
Weiter oben ist ein Mitglied des Service-Teams wenig angetan von diesem Abend.
Nie zuvor sei hier so eine Anspannung bei den Besuchern gewesen. Anspannung, die sich mitunter auch durch Unfreundlichkeit bemerkbar mache. Alle seien sie irgendwie gehetzt. Ja, ein Unterschied sei eindeutig auszumachen. Ob das aber an Wagner, oder der Premiere, oder der Kombination aus beidem liegt, dazu könne man nichts sagen. Bald ist Feierabend.
Draußen hetzt derweil der Brezel-Verkäufer zu seinem Auto. In Windeseile hat er seinen Stand abgebaut. Brezeln sind nun mal nicht das Gleiche wie die feinen Schnittchen im Inneren.
Kurz vor Beginn des finalen Akts kommt es im Saal zu einer kleinen Konfrontation. Ein Mann bittet den vor ihm sitzenden darum, nicht so stark den Kopf zu bewegen. Dieser wiederum macht den Mann vor sich verantwortlich. Bald ist der Ausgangspunkt für die Unruhe gefunden. Ein rotierender Kopf ein paar Reihen weiter vorne. Man schwört, den Kopf nun stiller zu halten. Sofort schwenkt die Diskussion um. Habe Tristan da gerade wirklich Isolde hypnotisiert? Ja, es sehe ganz so aus.
3. Akt. Baum-Tapete, Ofen, heruntergekommenes Sofa, auf dem Tristan lieg. Sowas wie Natur ist nun endlich zu erkennen. Durch ein Fenster kommt Tageslicht. Es ist nicht mehr alles hermetisch abgeriegelt. Schließlich weiß Stephen Milling als König Marke inzwischen von der Liebe zwischen Tristan und Isolde. Der wird übrigens vor dem dritten Akt als stark erkältet entschuldigt. Das Publikum möge Nachsicht haben.

Die Inszenierung reist derweil in die Vergangenheit zurück. Lichtwechsel, jetzt alles sehr warm und flackernd. Tristans Vater und Mutter auf der Bühne. Sie Hochschwanger, will ihm trotzdem die Schuhe ausziehen. Am Ende stirbt Tristan an … Halsschmerzen? Das ist nicht ganz sicher, an den Hals fasst er sich aber. Daraufhin Isoldes Schlussgesang der, wie schon den gesamten Abend, an Stellen vom lauten Orchester verschluckt wird.
Darum gibt es beim Schlussapplaus wohl auch vereinzelte Buh-Rufe für Barenboim. Das Ensemble jedoch wird warmherzig aufgenommen. Allen voran Andreas Schager. Beim Regisseur Dmitri Tcherniakov teil sich das Publikum. Viel Applaus, viele Buh-Rufe. Das ist eindeutig typisch für eine Wagner-Premiere. Ende.

Im prunkvollen Apollo-Saal ist jetzt Premieren-Feier. Vor der Tür stehen Taxis Schlange. Viel Trinkgeld gebe so ein Opern-Publikum gewöhnlich nicht, verrät ein Fahrer.
Fritz und Theresa wollen übrigens wiederkommen. ¶