Berlin hat ein Faible für tote Pferde. Gerade vollführt der neue CDU-Senat einen verkehrspolitischen Rollback, in dem unter der Chimärenparole des »fairen Miteinanders« die totale Dominanz des privaten Automobils betoniert wird: Weil die Stadt von tapsigen Grünen (Stichwort Friedrichstraße) genervt war, pfeift man auf die Erfahrungen und den Mut von Amsterdam und Kopenhagen, Paris und Barcelona und greift tief in die Mottenkiste des vorgeschobenen Alles für alle, nur um am Ende wieder bei freier Fahrt für Autos und bei der Stadt als totaler Parkplatz zu landen, und für den Rest: Ausbremsung des ÖPNV, Bürgersteigradwege für Radfahrer gegen Fußgänger. In der Kulturpolitik pfeift meine märkische Provinzpolis, die sich gern für die meiste Weltstadt der Welt hält, auf die Erfahrungen von München, Dresden oder auch Bayreuth und folgt dem verliebten Wunsch ihres führenden Opernorchesters. Christian Thielemann soll also Daniel Barenboim als Chef an der Staatsoper Unter den Linden nachfolgen. Ist das eine kluge Entscheidung? Oder auch so ein totes Pferd, auf das sich der Berliner entschlossenen Blickes stürzt, um in die Zukunft zu galoppieren – nur um sich am Ende zu wundern, warum er schon wieder im Stau steht?

In München jedenfalls fasst sich mancher an den Kopf. »Wie naiv kann man eigentlich sein?«, fragte spontan Robert Braunmüller, Musikkritiker der Münchner Abendzeitung, auf jenem Portal, das zu seinen besseren Zeiten mal Twitter hieß: »Natürlich ist Thielemann ein bedeutender Dirigent. Aber nun wirklich JEDER außerhalb von Berlin weiß, dass er in alles reinreden, aber sich um nichts kümmern wird. Erst große Euphorie. Und dann Krach.«

Natürlich weiß man das auch in Berlin. Die westlich gelegene Deutsche Oper gehörte ja einst zu den Wirkungsstätten, die Thielemann nach Euphorie im Krach verließ. Nürnberg ging voraus, München folgte, zuletzt Dresden, auch die Bayreuther Festspiele darf man dazu zählen. Das Beziehungsmuster ist offenkundig. Geradezu tollkühn wirkt es, dass sich nun ausgerechnet die führungskulturell gebeutelte Lindenoper noch einmal darauf einlässt, nach ihren Jahrzehnten mit Daniel Barenboim, der in musikalischer Hinsicht alle überragen konnte, aber in punkto Leadership ebenso Schwierigkeiten hatte (um es gelinde zu formulieren). Da geht es um ganz unmagische Dinge wie Teamfähigkeit statt Bossing, sachliche Autorität statt autoritärem Gehabe des Überragenden. Ein Punkt, der an Dirigenten wie Pablo Heras-Casado oder François-Xavier Roth denken ließe, die überdies ein ausgesprochen weites Repertoire haben und konzeptuell aufregend denken können. Magier jedoch, das sind sie nicht.

Und die Magie gehört hier offenbar dazu, wenn man sich ein Bild machen will. Nachdem Thielemann im vergangenen Jahr bei Wagners Ring und Bruckners Siebter für Barenboim eingesprungen war, sei die Staatskapelle völlig verzaubert gewesen, ist zu hören. Und das Publikum war auch verzaubert, das ist die lautere Wahrheit. Und zu Bayreuth, wo Thielemann (der dort als erster seit Felix Mottl alle zehn kanonischen Wagneropern dirigiert hatte) gegangen wurde, muss auch gesagt werden: Man kolportiert zwar, er sei der Kollegenschaft mit ungebetenen Ratschlägen und Dreinquatschereien schwer auf die Zeiger gegangen. Thielemanns Wagner aber galoppiert; womit nicht der metronomische Aspekt gemeint ist. Seine Dirigate hatten Atem und Bögen, kurzum Magie, von der die dort tätigen Philippe Jordan oder Alex Kober und eben auch Heras-Casado weit entfernt sind und die sie wahrscheinlich auch gar nicht anstreben.

Dass Thielemann Wagner, Bruckner und eine Handvoll andere meisterlich dirigiert, ist allerdings auch keine Neuigkeit. Ebensowenig wie die ausgesprochen engen Grenzen des Repertoires, in dem er nahezu unvergleichlich ist. Oder die Verhaltensmuster und wie die ganze Sache ausgeht, stets von Neuem. Die Berliner Philharmoniker etwa, die Thielemann nicht zu ihrem Chefdirigenten wählten, haben einen sinnvollen Umgang mit dieser speziellen Magie gefunden: Christian Thielemann kommt zweimal im Jahr, vollführt seinen Zauber, geht wieder weg, alle sind glücklich.

Man möchte nicht glauben, dass die Staatskapelle sich ihren Neuen in derart blauäugiger Verliebtheit ausgesucht hat, ohne um die erwartbaren nächsten Ecken zu denken. Und schon gar nicht will man unterstellen, die Staatsoper wisse nicht, dass Oper so viel mehr ist als Wagner, und wolle sich allen Ernstes als die wahre Walterin deutschen Erbes und Klangs aufstellen, mit dem neuen GMD als Wahnwärter Thielemann.

Also kommen die großen Vielleichts, eher Hoffnung als Zuversicht. Vielleicht wird ja diesmal alles ganz anders. Vielleicht ist man in Berlin geschickter und raffinierter als andernorts (obwohl das nun wirklich in Berlin ein Novum wäre, das an Wunderhaftigkeit der Auferweckung eines toten Gauls gliche). Vielleicht weiß auch die neue Staatsopern-Intendantin Sobotka rund um Thielemann ein brillantes Team ganz anders temperierter Dirigenten zu positionieren. Vielleicht findet der Berliner Christian Thielemann zurückgekehrt in seine Heimatstadt sogar zu einer ungekannten Altersrelaxtheit, wird sich auf seine Zauberei beschränken und ringsum Jüngere und Offenere ihr Ding gestalten lassen. Vielleicht, vielleicht. Das Risiko liegt jetzt bei der Staatsoper und der Berliner Kulturpolitik. Der Wagnerist im geneigten Operngänger aber ist für das alles nicht verantwortlich und darf sich mit den Scheuklappen seines toten Granegauls auf Thielemann freuen. Aber wenn’s schiefgeht, wird’s unterhaltsam wie ein Verkehrskollaps. ¶

… lebt in Berlin, liebt Musik, schreibt Romane: u.a. ›Fliegen‹ und ›Beethovn‹. Zuletzt erschien ›Luyánta – Das Jahr in der Unselben Welt‹.

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