In den Tiefen des Internets findet sich ein Foto von Vasily Petrenko, wie er mit einem Bündel 5-Pfund-Noten neben einer Mülltonne posiert. Das Bild war Teil der Kampagne »Be A Binner, Not A Sinner« (in etwa: Nutz den Mülleimer, sei kein Sünder) des Liverpool Echo, der Liverpool sauberer machen und so den Ruf der Stadt retten wollte. Dieser war in Mitleidenschaft gezogen worden durch den Schriftsteller Bill Bryson, der bei seiner Ankunft in Liverpool feststellte, dass dort, wie er es ausdrückte, offenbar »ein Festival des Mülls« gefeiert würde. Der Echo gab allen, die ihren Müll in die öffentlichen Abfallbehältern entsorgten, 5 Pfund. Bei einem Aktionstag war auch Petrenko dabei, um Geld zu verteilen. »Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich erfolgreich war«, meint Petrenko heute. (In einem Bericht aus dem Jahr 2022 heißt es, dass die Stadt ein dreimal so großes Müllproblem hat wie der Landesdurchschnitt.)

In seiner Zeit als Chefdirigent des Royal Liverpool Philharmonic Orchestra engagierte sich Petrenko nicht nur für das musikalische Leben in Liverpool, sondern auch darüber hinaus für die Stadtgesellschaft. Das wurde ihm hoch angerechnet. 2009 erhielt er die Auszeichnung »Honorary Scouser« der Stadt, sieben Jahre später wurde er zum Ehrenbürger ernannt. 2021 besuchte ich eines der »Ehrenrunden-Konzerte«, mit denen sich LPO und Petrenko voneinander verabschiedeten. »Das besondere Gefühl des Einklangs zwischen Orchester, Dirigent und Stadt war an diesem Abend deutlich zu spüren«, schrieb ich damals.

Petrenko ging 2012 nach London, um Chefdirigent des Royal Philharmonic Orchestra (RPO) zu werden. Wir treffen uns in der Nähe seines neuen Hauses in West Hampstead, einer wohlhabenden Gegend im Nordwesten Londons. Eigentlich wollten wir über die bevorstehende halbszenische Aufführung der späten Tschaikowsky-Oper Iolanta durch das RPO sprechen – doch wir kommen nicht dazu. Petrenko möchte offenbar dringend über anderes sprechen.

VAN: Als Chefdirigent sind Sie für Liverpool mehr als ›nur‹ Musiker, Ihr Einfluss geht über den Konzertsaal hinaus, oder?

Vasily Petrenko: Das spielt überall eine Rolle. Natürlich muss man auf dem Podium liefern, wenn man probt oder wenn man auftritt, aber es gibt auch einen sozialen Aspekt. Die wesentliche Frage ist: Warum machen wir das und was tun wir für die Gemeinschaft? Konzerte sind Konzerte. Die Leute kommen und haben Spaß. Aber was machen wir darüber hinaus? Für Schulen, für die Bildung, für benachteiligte Menschen, für psychische Gesundheit, für alles andere? Ich denke, viele Orchester machen in der Richtung Fortschritte, aber es gibt noch viel zu tun.

In Liverpool haben wir da viele Programme ins Rollen gebracht. Zusammen mit dem NHS sind Musikerinnen und Musiker in Gefängnisse gegangen und haben zum Beispiel jemandem, der vielleicht dreimal lebenslänglich bekommen hat, Flötenunterricht gegeben. Solche Häftlinge werden nie entlassen, weil ihre Verbrechen so schwer sind. Ihr Verhalten im Gefängnis war so aber viel besser, zumindest meinten das die Beamten.

Oder unser Projekt In Harmony, das im Norden von Liverpool viel verändert hat. Wir treten für die Menschen auf, geben Open-Air-Konzerte, organisieren Festivals, alles Mögliche. Letztlich sind wir dazu da, das Leben der Leute hier besser zu machen.  

Ist die Organisation solcher Projekte Aufgabe des Chefdirigenten oder des Musikvermittlungs- oder Education-Teams? 

Naja, das ist nicht nur Aufgabe des Chefdirigenten. Aber man kann natürlich viel umsetzen, und viele dieser Ideen sind auf meine Initiative hin entstanden, sagen wir mal so. Natürlich braucht man ein Team, ohne Team geht es nicht. 

In London wäre sowas viel schwieriger. In Liverpool dagegen: eine Stadt, ein Orchester, und jeder fühlt diese Identität. In London gab es irgendwann mal 12 Orchester; jetzt sind es, glaube ich, ein bisschen weniger, aber trotzdem. Mit wem identifiziert man sich da? Camden oder Westminster? Es geht nicht nur um Wettbewerb, sondern auch darum, wie man diese Identifikation schafft.

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In dieser Hinsicht hat das LSO einen besseren Stand, denn es hat zumindest einen quasi exklusiven Auftrittsort, das Barbican und auch St. Luke’s. Wenn man dort hingeht, um klassische Musik zu hören, hört man für gewöhnlich das LSO. Trotz all dieser Vor- und Nachteile des Saals gibt es diese Identität. Außerdem werden sie von der Stadt London unterstützt, viel mehr als vom Staat.

Die anderen – Philharmonia, London Philharmonic Orchestra, RPO – proben nie in der Royal Festival Hall. Da sind wir nur für Generalproben. Ansonsten proben wir irgendwo in der Stadt. In diesen zwei Jahren war ich in Watford, in Woolwich, Blackheath, Croydon, wo immer es eben ging. Das gibt dem Ort keine Identität. 

Wie könnte man das verbessern?

Ich kann Ihnen sagen, was London auf jeden Fall besser machen würde: ein neuer und guter Konzertsaal, denn keiner der Säle ist gut, das ist das Problem. Schauen Sie sich mal um: Jede Hauptstadt in Europa hat einen großartigen Konzertsaal für klassische Musik. London? Nein, tut mir leid, einfach nein.


Die Pläne für ein 288 Millionen Pfund teures Centre for Music, für das sich Simon Rattle bei seiner Rückkehr zum London Symphony Orchestra als Musikdirektor eingesetzt hatte, wurden 2021 von der City of London Corporation gestrichen. Als Begründung wurde auf die Auswirkungen der Corona-Pandemie verwiesen


In Wimbledon stehen jetzt die Chancen mit Frank Gehry ganz gut, wie auch noch für einen anderen Konzertsaal woanders in London. Wie viel davon verwirklicht werden kann, ist eine andere Frage.

Besonders im Moment

Ich muss leider sagen, dass die britischen Regierungen sehr kurzsichtig sind. Man weiß doch, dass ein in die Kultur investiertes Pfund sechs Pfund an Einnahmen bringt.


Im Jahr 2020 stellte ein Bericht des Centre for Economic and Business Research fest, dass der Kunst- und Kultursektor im Vereinigten Königreich seit Beginn des Lockdowns einen erheblichen Verlust an Bruttowertschöpfung hinnehmen musste. 


Kultur ist sehr rentabel, aber keine kurzfristige Investition. Man muss fünf bis zehn Jahre lang investieren, und dann bekommt man die Einnahmen. Das ist erwiesenermaßen so. Sie ziehen es aber vor, Geld für Waffen, Munition, Raketen, U-Boote und Sozialleistungen auszugeben, was zwar gut für die Wahlen nächste Woche ist, aber nicht gut für die Gesellschaft.

Identität ist sehr wichtig. Das ist auch das Problem, vor dem Europa – wir als Kontinent – jetzt leider steht. Was sind europäische Werte? Das sind Sachen, über die man gerade erst anfängt zu sprechen, die aber in vielerlei Hinsicht so schwierig und auch vergiftet sind, dass viele auch versuchen, nicht darüber zu sprechen. Alle sagen, dass wir die europäischen Kulturen in den aktuellen Konflikten schützen: im israelisch-palästinensischen, im russisch-ukrainischen. Aber was sind die europäischen Werte? 

Ich meine, es gibt kulturelle Werte, es gibt architektonische Stile, es gibt eine große Kluft bei den Religionen, historisch bedingt. Und dann gibt es noch den Lebensstil: britischer Lebensstil, deutscher Lebensstil, französischer Lebensstil, welcher Lebensstil auch immer …

Wenn man sich jetzt solche Lebensstile anschaut: Die verschwinden. All diese Theorien über Vielfalt und Inklusion gehen das völlig falsch an. Es geht nicht darum, dass wir uns anpassen müssen, sondern dass die anderen sich anpassen müssen. Die Menschen, die zu uns kommen … Wir haben in Europa endlich angefangen, über Migration zu sprechen, die ein massives Problem darstellt. Hier in England ist es im Vergleich zu den anderen Ländern nicht so schlimm. Aber in anderen Ländern muss jemand, der in ein Land kommt, dessen Regeln und Vorschriften akzeptieren, die Sprache lernen und entsprechend dem Ort leben, an den er gekommen ist, und nicht umgekehrt. Es geht nicht darum, dass der Ort, an dem man ankommt, die Regeln von jemandem akzeptieren muss, der von weit her kommt. Das hat nichts mit Diskriminierung zu tun, ganz und gar nicht. Es geht nur darum, wie man die Menschen dazu bringen kann, die europäischen Werte zu akzeptieren, und es gibt viele, die sie nicht akzeptieren. Deshalb besteht das Problem darin, Menschen für ganz viele verschiedene Sachen zu begeistern, und Kultur kann dabei eine entscheidende Rolle spielen. Es ist kompliziert.

Beim Arts Council wurde gerade die Kunstförderung ausgeweitet, weg von dem, was man in Ihren Worten als ›traditionelle europäische‹ Formen bezeichnen könnte, wie klassische Musik, Oper und Theater.

Das ist in Ordnung, aber das sollte eine Erweiterung sein. Das ist es nicht, wenn man am Kern spart.  Und das ist schon geschehen, diese Art des Kürzens. Es geht nicht darum, etwas Zusätzliches zu machen, sondern darum, das Geld von den traditionsreichen Projekten in dieses Projekt umzuleiten.

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Sie plädieren also für eine Aufstockung der Förderung, anstatt Mittel zu kürzen oder an anderer Stelle einzusetzen?

Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, für Europa und für das Vereinigte Königreich: Alle Menschen, die kommen, sollen arbeiten. Damit all die Menschen, die mit ihrem einzigartigen Hintergrund kommen, Teil der britischen Gesellschaft werden. Es geht nicht darum, dass Großbritannien Teil der indischen Gesellschaft wird.

Aber wenn wir die Diversität anerkennen, einander friedlich koexistieren lassen, manches teilen und manches nicht … 

Aber was machen wir mit den Menschen, die die Vielfalt nicht wollen? Bei Vielfalt und Anerkennung geht es immer um zwei Richtungen. Sie gehen auf jemanden zu und jemand geht auf Sie zu. Bisher ist es in weiten Teilen so, dass man auf jemanden zugeht und der macht aber nichts für einen

Das sehe ich anders.

Aber Sie können es hier auf der Straße sehen: Es passiert ständig. Wenn Sie einfach durch die Straßen gehen, können Sie das sehen. Es müssen Anstrengungen von beiden Seiten unternommen werden, und das ist es, was ich sagen will. Man sollte nicht an traditionellen Werten sparen, man sollte sie stärken.

Und die Finanzierung für alle ausweiten und nicht nur kürzen?

Ganz genau. Es sollte nicht auf Kosten von jemandem gehen. Es wird immer Fälle von Missmanagement in bestimmten kulturellen Organisationen geben. Das heißt aber nicht, dass man aufhören sollte, sie zu unterstützen.

Ich verstehe zwar, worauf Sie hinauswollen, aber die Behauptung, dass die Mittel für klassische Musik zugunsten anderer Projekte gekürzt wurden, kann ich nicht ganz nachvollziehen.

Das ist doch bekannt: Sie können einfach das Budget des Arts Council für das kommende Jahr mit dem Jahr zuvor vergleichen, dann sieht man das.  

Da wird jetzt ein breiteres Spektrum von Personen aus dem ganzen Land unterstützt. Ich habe das so interpretiert, dass die Gelder aus London geographisch weiter verteilt werden, dass es eine allgemeine Öffnung gibt in Bezug auf Backgrounds, aber auch Regionen …

Hmmm … nicht wirklich. 

Es gab schon eine Entwicklung in Richtung Vielfalt in vielen verschiedenen Bereichen, zum Beispiel in Bezug auf den Standort.

Aber sehen Sie, die BBC hat gerade effektiv ihr Orchester zusammengekürzt, sie haben versucht, den Chor komplett zu streichen, und was haben Sie ausgebaut? Es kommt ein neuer Gospelchor, das stimmt. Ich sage nicht, dass sie den nicht machen sollen, das ist absolut in Ordnung, aber man sollte nicht kürzen, was man hat. Das ist, als ob man denkt, man bräuchte einen sechsten Finger, und dann schneidet man sich das Bein ab.

Sie sprechen von Vielfalt? Ich bin auch Migrant. Ich bin offiziell Brite, okay, aber ich komme woanders her. Ich habe nie versucht, nach meinen russischen Wurzeln zu leben. Ich bin hierher gekommen und habe bis zu einem gewissen Grad die schottische Lebensweise übernommen. Wenn ich in Großbritannien bin, versuche ich, so weit wie möglich nach britischen Regeln zu leben.

Aber Ihre Interpretation, was britische Werte sind, ändert sich ständig. Wer legt die fest?

Genau, ich sage ja, dass es sehr schwierig ist, die Werte zu bestimmen, aber es muss passieren. Wenn Sie fragen: Was sind die britischen Werte?, was würden Sie denn sagen? 

Ich meine: Sie sind fließend. Ich hoffe: Toleranz.

Toleranz? Das ist nicht wirklich ein Wert. Das ist etwas, das man überall beobachten kann. Was macht Großbritannien heute als Großbritannien aus?

Ich weiß es nicht. Sie?

Jede und jeder muss sich diese Frage stellen. Für mich ist es das Erbe der Royal Family, diese Traditionen. Aktuell wird die nicht so gelebt, es gibt nur ein paar Auftritte hier und da. Für mich ist das Höflichkeit und Respekt vor der Gesellschaft. Das ist nicht Toleranz. Toleranz ist anders, Toleranz ist neutral, Höflichkeit ist…

… gerichtet.

Es geht um Höflichkeit und Respekt. Und es sind viele kleine Sachen, auch: echtes Bier, britisch-englisches Frühstück, die Architektur von London. Es geht nicht nur um kulturelles Erbe, sondern darum, wie man Sachen macht. Die Art, wie die Menschen reisen, wie sie sich zuhause verhalten… Sie sind eine der am meisten reisenden Nationen. Es gibt separate Hähne.

Separate was?

Hähne, für Wasser.

OK. 

Was die Kultur betrifft, so bin ich nicht dagegen, dass Geld für verschiedene Projekte bereitgestellt wird. Es geht darum, dass sie eine Erweiterung sein und nicht auf Kosten der traditionellen Werte gehen sollten. 

Schauen Sie, Musikerinnen und Musiker sind in diesem Land im Moment so unterbezahlt. Im Moment sieht es so aus, als ob sie im Vereinigten Königreich – gemessen an den Lebenshaltungskosten – schlechter bezahlt werden als wahrscheinlich in ganz Europa. Definitiv schlechter als in den Nachbarländern: Norwegen. Und das ist etwas, das meiner Meinung nach geändert werden muss.

Das ist einer der großartigsten britischen Exporte: die Kultur, die Orchester aus London. Jeder, der zu den Konzerten kommt, sei es das LSO, das LPO, das RPO, Philharmonia, irgendwo in Europa, weiß, dass die Konzerte exzellent sein werden. Und das ist etwas, das unterstützt werden muss. Und nicht nur das, auch alles andere.

Wird sich etwas ändern, wenn die Labour-Partei die nächste Regierung stellt? 

Ich weiß es nicht, um ehrlich zu sein. Für mich ist das kein Geheimnis. Für mich besteht die Hauptaufgabe der Politiker darin, die Mehrheit der Menschen, die derzeit nicht arbeiten, in Arbeit zu bringen. Wie kann man das System für sie fair gestalten und gleichzeitig dafür sorgen, dass sie arbeiten müssen? Sie müssen Teil der Gesellschaft sein und dürfen nicht nur zu Hause sitzen und auf Sozialleistungen warten. Wie kann man das erreichen? Ich bin kein Politiker, aber es ist sehr schwierig, die Wirtschaft in diese Richtung zu lenken.

Sie haben in Liverpool gelebt, jetzt leben Sie in London. Haben Sie das Gefühl, dass Sie an einem Ort wirklich verwurzelt sein müssen, damit eine echte Verbindung zum Orchester entsteht? 

Es ist besser, wenn man als Chefdirigent vor Ort lebt. Das ist der Normalfall. Man muss Teil einer Community sein. Aber damit kommen wir wieder auf das zurück, worüber wir gerade gesprochen haben: Natürlich muss man all die verschiedenen Backgrounds der Menschen, die kommen, respektieren, und ich denke, die Hauptaufgabe des Orchesters in jeder Gemeinschaft ist, zu tun, was wir am besten können.

Und das ist?

Konzerte auf höchstem Niveau, vor allem mit dem klassischen Kernrepertoire. Ich sage nicht, dass man das die ganze Zeit spielen soll, aber das sollte die Grundlage von allem sein. Wir sollten nicht zwei Konzerte mit klassischem Repertoire spielen, dann sieben Popkonzerte und 27 Aufführungen mit Musik aus aller Welt, die niemand kennt und niemand spielt.

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Das ist eine Kritik, die man in der jüngsten Vergangenheit auch an das RPO hätte adressieren können. 

Nein, das RPO ist sehr vielseitig, in vielerlei Hinsicht. Ich denke, das Gleichgewicht hat sich ein wenig verschoben. Wir machen jetzt ehrgeizigere Projekte außerhalb der Proms in der Albert Hall: Mahler 2, 3, 8 in einer Saison, britische Oratorien in einer anderen, dieses Jahr Iolanta und Nussknacker, mit dem Wagner-Konzert, dem Verdi-Requiem. Außerdem haben wir in der Royal Festival Hall eine thematisch eng verwobene  Reihe gegeben.

Aber wir machen auch Projekte mit Kindern in Brent, wir machen verschiedene Open-Air-Konzerte mit der Harry Potter-Filmmusik, und das ist auch sehr wichtig. Ich würde es als eine Art Treppe sehen. Wenn man also den ersten Schritt machen will, um das Orchester kennenzulernen, dann entweder bei den Schulkonzerten oder bei diesen Harry Potter-Konzerten, bei denen man eher wegen der Geschichte kommt als wegen des Orchesters. Wenn du dich dafür interessierst, kannst du den nächsten Schritt gehen, wahrscheinlich ein Konzert mit etwas poppigerem Repertoire. Und wenn man dann immer noch interessiert ist, kann man zur klassischen Musik übergehen. Diese Leiter ist eigentlich endlos, weil es einige Gurus gibt, die nur wegen Stockhausen kommen.

In Liverpool gibt es diesen besonderen Klang, ›Liverpool Phil und Petrenko‹. Glauben Sie, dass mit mehr und mehr Gastdirigent:innen, die für zwei Proben und ein Konzert einfliegen und dann wieder abreißen, dem immer schnelleren Wechsel von Chefdirigent:innen, dieser individuelle Klang verloren geht?

Ich finde, jedes Orchester ist einzigartig. Es gibt Orchester, die eine so gewichtige Tradition des eigenen Klangs haben, wie das Concertgebouw, dass sie ihn beibehalten werden. Ich habe mit Mariss [Jansons] gesprochen, als er noch lebte, und er hat zu mir gesagt: ›Ich werde hier und da vielleicht ein wenig ändern, vielleicht nur in Richtung von etwas mehr Transparenz, aber ich werde nicht versuchen, mich anstelle des Concertgebouw zum Klingen zu bringen.‹ Es gibt einige Orchester, die keine so lange Tradition haben, oder die 10 oder 15 Jahre ohne eine so große Führung auskommen mussten. Dort ist es eher die Aufgabe des Chefdirigenten, sowas zu beeinflussen.

Was Gastdirigenten im Vergleich zu Chefdirigenten betrifft: Wenn man einen guten Kontakt zum Orchester hat, wenn es eine Art Liebesgeschichte ist, die auch als Liebesgeschichte wächst, dann muss man immer weniger über Technisches sprechen, und man kann sich mehr mit der Musik befassen. Nicht nur mit den Noten, sondern über das, was hinter den Noten steht, über den historischen Kontext, in dem der Komponist gewirkt hat. Ich finde es erstaunlich, wie viele Musikerinnen und Musiker – ich werfe ihnen das nicht vor, denn sie sind unterbezahlt und müssen sehr hart arbeiten – zur ersten Probe kommen, ohne eine Ahnung zu haben, was sie spielen. Musikalisch sind sie vorbereitet, aber wer ist der Komponist? Was hat er gemacht? Wo hat er oder sie gelebt? Was ist damals passiert?

Wenn man als Chefdirigent bei einem Orchester anfängt, sieht man, was man ausbessern muss, das ist normal. Und jedes Orchester kann sich in diesem Prozess unendlich verbessern. Oft sind es so viele Sachen, dass man Kompromisse eingehen muss; die Probenzeit ist sehr knapp. Man muss nur herausfinden, was am wichtigsten ist, und dann sieht man beim nächsten Mal vielleicht, dass vieles schon behoben ist.

2022 schreiben Sie zum russischen Angriffskrieg: ›Ich habe beschlossen, meine Arbeit in Russland auszusetzen, einschließlich aller zukünftigen Verpflichtungen als künstlerischer Leiter des Staatlichen Akademischen Sinfonieorchesters Russlands ›Evgeny Svetlanov‹, bis der Frieden wiederhergestellt ist.‹ Hat sich seitdem etwas an Ihrer Haltung geändert?

Ich hoffe immer noch, dass ich zurückkommen kann, sobald der Frieden wiederhergestellt ist, weil ich denke, dass es die Aufgabe der Kultur ist, sich einzubringen. Die Ukraine und Russland können ja nicht auf verschiedene Planeten ausweichen, sie werden weiterhin Nachbarn sein müssen. Und nach solchen Konflikten wird es viel Hass geben. Das ist unvermeidlich. Ich bin halb russisch, halb ukrainisch. Ein Teil meiner Familie lebt in Kyiv, mein Vater lebt noch in St. Petersburg. Unsere Beziehungen sind gut, wir haben eine gute Verbindung, nichts hat sich zwischen uns geändert, es gibt da keinen Hass oder sowas. Aber es gibt viele, viele Menschen in vielen Familien, die ich kenne, bei denen sich das ganz anders entwickelt hat. Die Rolle der Kultur wird also sein, diese Länder zumindest bis zu einem gewissen Grad zusammenzuschweißen. Deshalb hoffe ich, dass ich die Möglichkeit und die Erlaubnis bekomme, in die Ukraine und nach Russland zu reisen und in beiden Ländern aufzutreten. Was meine offizielle Rolle angeht, so war ich leider irgendwann im Jahr 2022 gezwungen, ein offizielles Rücktrittsschreiben an das Kulturministerium zu verfassen.

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Mir war nicht klar, dass das ein Rücktritt war.

Erst wollte ich beide Stellen in etwa im Gleichgewicht halten. Dann, nach so zwei oder drei Monaten, wurde mir klar, dass es Auswirkungen auf das Orchester und die Musikerinnen und Musiker haben könnte, wenn ich nicht zurücktrete. Für mich stehen die Interessen der Mitglieder des Orchesters an erster Stelle, das war immer so und wird immer so sein. Aus diesem Grund würde ich nicht sagen, dass ich gezwungen war zu gehen, aber es gab keine andere Möglichkeit als zu gehen. Das Orchester hat bis heute keinen neuen Chefdirigenten, es arbeitet immer noch ohne einen.

Ich denke, dass das Leben für viele Musikerinnen und Musiker schwierig ist, weil das, was man rund um die Konzerte hört und sieht, gar nicht dem entspricht, was man denkt, und man kann das nur bis zu einem gewissen Grad tolerieren. Man kann nicht offen sagen, was man wirklich denkt, weil man sonst inhaftiert werden könnte. Aber auch die ganze Zeit zu schweigen, ist wirklich schwierig. In jeder Kunst, besonders in der Musik, muss man bescheiden sein, man muss ehrlich zu sich selbst und zu der Musik sein. Sobald man unehrlich wird, leidet in der Regel die Musik. Wenn man also etwas denkt, das völlig im Gegensatz zu dem steht, was offiziell gesagt wird, dann ist das schwierig. Für Musiker ist das eine Herausforderung.

Ich hatte keine andere Wahl, als das Orchester in St. Petersburg zu verlassen. Ich fühle mich schuldig, dem Orchester gegenüber, den Musikerinnen und Musikern. Und ein Gefühl, das ich auch hatte, war: Welche Schuld trägt das ganz normale Publikum in Moskau? In gewisser Weise fühle ich mich also verpflichtet zurückzugehen, denn zu den Konzerten kommt ja nicht der Präsident, nicht die Regierung, es sind nur die einfachen Leute.

Kann Musik eine aktive Rolle bei der Versöhnung spielen?

Auf jeden Fall. Das war in Deutschland nach 1945 der Fall. Zuerst wollte niemand was über die Deutschen hören, und dann, im Laufe von zehn Jahren, haben die ständigen Investitionen in die Kunst und den Wiederaufbau des Landes dazu geführt, dass damit begonnen wurde, die Kluft zwischen den Deutschen und allen anderen Ländern zu überwinden.

Wenn man ins Konzert geht, interessiert es einen dann, wer neben einem sitzt? Welche Nationalität, welches Geschlecht, welche Religion diese Person hat? Es spielt keine Rolle, denn man teilt letztendlich die gleichen Gefühle. Und genau darin liegt die Kraft der Musik: Sie ruft ähnliche Emotionen hervor und diese ähnlichen Emotionen vereinen die Menschen. Da hat sie sehr viel Macht. Wie und wann das wirklich Wirklichkeit wird – ich weiß es nicht. Hoffentlich bald. ¶