Donald Runnicles ist von beeindruckender Gestalt, er steht erhobenen Hauptes, spricht mit einer sonoren Stimme und einem leicht schottischen Akzent. Seit 2009 ist er Generalmusikdirektor der Deutschen Oper Berlin. Als er die Position übernahm – inmitten einer Finanzkrise – stand es nicht gut um das Haus. Doch schon bald erhielt er begeisterte Kritiken für Neuproduktionen von Wagner, Britten und Janáček und trug so dazu bei, dass die Oper wieder eine solide Basis bekam. In seinem holzgetäfelten Büro im Charlottenburger Opernhaus sprechen wir etwa 45 Minuten lang, unterbrochen vom Knistern der Lautsprecheransagen von der Bühne. Konsequent bescheiden und unwillig, über seine eigene Arbeit zu sprechen, es sei denn in Bezug auf die Kunst Anderer, überrascht mich vor allem sein Fokus auf Psychologie – im Hinblick auf Verwaltung, Musik und Zusammenarbeit. Im Laufe des Gesprächs ergibt es jedoch immer mehr Sinn: Ich bekomme das Gefühl, von ihm geleitet zu werden – er entlockt mir Fragen und gibt dem Gespräch seine Form.

VAN: VIELE DIRIGENTEN HABEN VIER ODER SOGAR FÜNF POSITIONEN, ZUSÄTZLICH ZU ZAHLREICHEN GASTAUFTRITTEN. SIE SIND FÜR IHRE INTENSIVERE BEZIEHUNG ZU DEN ORCHESTERN UND OPERNHÄUSERN BEKANNT – UND IHRE KÜNSTLERISCHE BEZIEHUNG ZU EINER INSTITUTION SCHEINT DAS ADMINISTRATIVE MIT EINZUSCHLIESSEN. HAT DIES DAMIT ZU TUN, DASS SIE ALS KORREPETITOR AUSGEBILDET SIND UND NICHT ALS ORCHESTERLEITER?

Donald Runnicles: Das ist eine gute Frage. Ich habe nie wirklich darüber nachgedacht, ob meine Ausbildung etwas mit meinem Interesse an einer ganzheitlichen Methode zu tun hat – ich denke das ist, was Sie meinten. Oper ist die Synthese aller Kunstformen. Und ich beziehe das Administrative mit ein; in gewisser Hinsicht ist es die Kunst, mit den Künstlern umzugehen. Mich hat schon immer interessiert, wie die Dinge funktionieren. In meiner Ausbildung arbeitete ich zunächst mit Sängern, dann stand ich vor einem Orchester und habe etliche Vorstellungen ohne Proben dirigiert – ich wurde völlig ins kalte Wasser geworfen – und habe davon viel gelernt. Ich war jedoch immer von einem gewissen deutschen Wort fasziniert, das Sie sicher kennen, dem Gesamtkunstwerk, das zunächst natürlich in einem anderen Kontext genutzt wurde. Jede Opernaufführung ist ein Gesamtkunstwerk, wo alle Künste zusammenkommen.

Ich genieße es, Generalmusikdirektor zu sein, ich genieße das Administrative, weil es ein Mittel zum Zweck ist. Ich staune über alles, was auf der Bühne, unter der Bühne und über der Bühne passiert. Ich liebe es, zu den Beleuchtungsproben zu gehen. Ich liebe es, wenn ein Lichtdesigner es schafft, einen dunklen Raum mit vier Lampen in diesen magischen, fantastischen Ort zu verwandeln. Oder mit zwei Scheinwerfern. Ich liebe die Illusion. Ich glaube, wir alle wollen ein paar Stunden irgendwohin entführt werden, wie in einem großartigen Märchen, einem tollen Buch! So kann man durch die Zeit reisen, an exotische Orte, ohne sich zu bewegen, und das passiert auch in der Oper. Die Lichter gehen aus und für drei oder vier Stunden wird man in andere Welten entführt.

Als Gastdirigent reist man natürlich zu tollen Orchestern und Bühnen, doch wenn man zu Hause ist – so wie ich in Berlin – ist man vertraut mit dem, was im eigenen Haus gut funktioniert, oder weniger gut funktioniert; es macht Spaß zu den Meetings zu gehen, in denen die Leiter der einzelnen Abteilungen miteinander sprechen. Das Ganze ist so viel größer als die Summe seiner Teile.

Und inmitten all dessen, ist es für mich das Einfachste, zu dirigieren. Das Orchester zu leiten, Musik zu machen, das habe ich gelernt. Aber die dazu notwendige Psychologie, Menschlichkeit, Empathie, Bescheidenheit, die es braucht, wenn ein Opernhaus erfolgreich sein soll, wo Menschen das Gefühl haben, miteinander zu lernen – das ist für mich das Größte. Wenn der Vorhang fällt, wie im vergangenen April für die letzte Vorstellung von Götz Friedrichs Ring (der Regisseur, wo auch immer er sein mag, würde lange und laut lachen, wenn er wüsste, dass wir ihn 2017 immer noch spielen), dann kommen wir gerade von einer großen, gemeinsamen Reise zurück. Nicht nur mit denen, die im Opernhaus arbeiten, sondern auch mit dem Publikum, das uns für vier Nächte begleitete. Der Ring ist wahrscheinlich eine der großartigsten Geschichten, die je erzählt wurde. In jedem Fall gehört die Musik zu dem Fantastischsten, was man erleben kann. Und vor allem ist sie lebensverändernd. Wir werden es wohl nie wirklich beweisen können, aber ich garantiere Ihnen, dass dort Hunderte von Menschen waren, deren Leben für immer verändert wurde. Vielleicht waren es Menschen, die das Werk zum ersten Mal hörten, oder es waren Menschen, die es zum letzten Mal hörten, ohne es zu wissen.

Ich hatte das Glück, sehr eng mit dem Atlanta Symphony und Chorus arbeiten zu können. Der Chor besaß ein Buch mit Zitaten des Dirigenten Robert Shaw über Musik. Wenn ihn der Chor frustrierte, wenn er selbstgefällig wurde, sagte Shaw: ›Meine Damen und Herren, Sie müssen sich vorstellen, dass dort draußen Menschen sind, die die Matthäuspassion, auch wenn Sie sie schon tausende Male gesungen haben, zum allerersten Mal hören. Stellen Sie sich vor, wie das sein könnte. Gleichermaßen werden Sie vor zahlreichen Menschen auftreten, die die Matthäuspassion zum allerletzten Mal hören. Es wird das letzte Mal sein, dass sie dieses Werk hören.‹ Das ist etwas, was man sich als Musiker immer wieder bewusst machen muss. Warum mag ich alle Aspekte der Oper? Weil man das Gefühl hat, Leben verändert zu haben, eines der größten Kunstwerke aller Zeiten aufgeführt zu haben. Das ist einzigartig: in dem Moment, in dem der Schlussakkord im Äther verklingt, ist er für immer fort, bis man wieder von vorne anfängt. Diese Qualität der Musik und das Zusammenspiel von Orchester, Bühne, Beleuchtung, den großartigsten Sängern der Welt und den Zuhörern (mit Sicherheit ist unser Publikum eines der Sachkundigsten, ob im Guten oder im Schlechten) gibt mir das Gefühl, keinen besseren Beruf haben zu können.

EIN WERK WIE DER RING IST OFFENSICHTLICH SO ÜBERWÄLTIGEND, DASS ES JEDES MAL, WENN MAN SICH IHM ANNÄHERT, ANDERS WIRD. GLAUBEN SIE, DASS DIESER PROZESS MIT NICHT-MUSIZIERENDEN MITARBEITERN GENAUSO VERBUNDEN IST, WIE MIT MUSIZIERENDEN? BEEINFLUSST DAS ERLEBNIS, WENN SIE ZU EINER BELEUCHTUNGSPROBE GEHEN UND VON DER MAGIE AUF DER BÜHNE FASZINIERT SIND, IN DIESEM MOMENT, WIE SIE ÜBER DIE MUSIK DENKEN UND AN SIE HERANGEHEN?

Auf jeden Fall tut es das! Und wieder kommt man zurück auf die Faszination für die Kunst eines Anderen. Meine Faszination für großartige Regisseure wird immer bleiben. Ich weiß nicht, wie sie es machen. Ich sehe zwar, was sie tun, aber ich habe immer das Gefühl, dass sie etwas sehen, was ich nicht sehe und was sich plötzlich darin manifestiert, dass jemand von der Bühne verschwindet und eine andere Figur auftritt. Sie entdecken etwas in einer Figur, was weder die Person selbst, noch ich in ihr geahnt haben, und was die Figur weitergehen lässt, als sie selbst es für möglich gehalten hat. Ich erinnere mich an eine Inszenierung von Don Giovanni bei den Salzburger Festspielen 1996 mit Patrice Chéreau. Ich war wie gelähmt. Er saß ganz vorne auf der Stuhlkante und war immer bei den Sängern. Er brachte seine Sänger zum Weinen. Normalerweise wäre so eine Situation unglaublich unangenehm, fast voyeuristisch, aber nein, die Sänger weinten, weil Chéreau sie dazu brachte, weiter zu gehen, als jemals zuvor – an Orte, die etwas in ihnen selbst berührten. Große Regisseure sehen etwas, was wir Sterbliche nicht sehen. Und ein Grund dafür, warum er solch phänomenale Aufführungen hervorbringt, ist, dass er auf gefährliche Weise in sie als Menschen hineinblickt. Die Sänger weinen, aber es ist kein ›Aufhören!‹, sondern ein ›Nicht aufhören, geh noch weiter!‹.

Um wieder auf die Frage zurückzukommen: Meine Aufführungen können sehr unterschiedlich sein, aber nicht, weil ich mir vorgenommen habe, sie schneller oder langsamer oder lauter zu dirigieren, sondern weil ein Regisseur mir eine Einsicht in einen Charakter verschafft hat, auf die ich selbst nie gekommen wäre. Jeder Dirigent, der behauptet, immer dieselbe Aufführung zu dirigieren, ist nicht aufrichtig. Ich weiß, dass ich meistens am besten dirigiert habe, wenn ich mit großartigen Regisseuren zusammengearbeitet habe. Tristan und Isolde, inszeniert von Graham Vick – als ich sah, wie sich das zusammenfügte, als ich Graham dabei zusah, zu was er Peter Seiffert ermunterte, seine Vision der ganzen Geschichte, das Altenheim im dritten Aufzug – das war einer der besten Tristans, die ich je dirigiert habe, weil Graham Dinge berührte, die so bewegend sind: ein Tristan, der älter wird, eine Isolde, die nur in seinem Kopf zurückbleibt. Wir kehren immer wieder zu bestimmten Werken zurück: Jetzt wo ich älter werde, Kinder habe, verändern sich so viele Dinge im Leben, aber diese Werke bleiben. Und bei der letzten Serie unserer Tristan-Produktion mit Nina Stemme weinten Nina und ich am Ende, weil wir wussten, dass wir Teil von etwas ganz Außergewöhnlichem waren. Natürlich war es die Musik, und natürlich war es Ninas grandioser Gesang, aber nur durch Grahams Arbeit konnten wir sozusagen das Instrument werden, durch das diese Musik fließen konnte.

Aber am Ende realisierten wir, wie groß dieser Abend gewesen war. Wir schluchzten letztendlich wie kleine Kinder. Es war die Erkenntnis: Meine Güte, diese Produktion hat uns an einen ganz anderen Ort geführt. Du realisierst, dass du verändert wurdest. Gestärkt. Erschöpft.

HAT DIE ARBEIT AN DEM NEUEN RING VON HERHEIM FÜR 2020 SCHON BEGONNEN?

Sie begann 2010.

OKAY!

Uns war völlig klar, dass es ein Leben nach dem Ring von Götz Friedrich geben würde. Dietmar Schwarz und ich waren uns schnell einig, dass wir nur einen neuen Ring herausbringen würden, wenn wir den geeigneten Regisseur fänden. Wir sind begeistert, dass Stefan Herheim inszenieren wird. Vor vier Jahren führten wir die ersten Gespräche mit ihm. Wie Sie vielleicht wissen, wurde er schon von vielen anderen renommierten Opernhäusern für den Ring angefragt und hat aus unterschiedlichen Gründen nein gesagt, also erwarteten wir, dass er auch uns absagen würde. Doch er sagte ja, und so haben wir in den vergangenen Jahren bereits daran gearbeitet.

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BEGLEITEN SIE DIE DINGE, DIE SIE VON EINEM REGISSEUR GELERNT HABEN, WENN SIE DASSELBE STÜCK MIT EINEM ANDEREN REGISSEUR MACHEN? WENN SIE IN DIESEM SOMMER DEN RING VON ZAMBELLO IN SAN FRANCISCO AUFFÜHREN, HABEN SIE DANN NOCH IDEEN VON HERHEIM UND FRIEDRICH IM KOPF?

Ja und nein. Man könnte meinen, seitdem ich zum Beispiel Don Giovanni mit Patrice Chéreau dirigiert habe, mache es nichts aus, wer inszeniert, ich wäre fähig es nachzuempfinden. Aber so funktioniert das nicht. Es passiert in dem Moment. Man kann es nicht vortäuschen. Man kann es nicht einfach auf eine neue Produktion übertragen. Jede einzelne Produktion an der Deutschen Oper Berlin, so hoffen wir, wird überragend sein und dafür gibt es einige zentrale Voraussetzungen. Aber ob die Chemie stimmt, lässt sich nicht garantieren. Daher trifft man sich Jahre zuvor, um herauszufinden: Mag ich Sie überhaupt? Mögen Sie überhaupt Musik? Mögen Sie diese Oper? Geht es Ihnen eher um die Quadratur des Kreises als um das Werk? Dies sind alles Dinge, derer man sich sehr früh vergewissern muss. Sänger erzählen mir, dass sie – nachdem sie mit Harry Kupfer, Götz Friedrich oder Christof Loy gearbeitet haben und danach mit einem weniger charismatischen Regisseur proben – oft etwas aus sich herausholen können, das sie zuvor erarbeitet hatten.

Aber es ist nicht ganz so rotglühend, weißglühend. Denn es passiert aus der Überzeugung des Augenblicks. Und seien wir ehrlich: Ständig auf dem Level Chéreaus zu arbeiten? Ich glaube nicht, dass man das aushält. Es ist einfach unerträglich! Ich bin sarkastisch. Aber es ist unwahrscheinlich, dass jede Produktion so elektrisierend ist.

ES ERGIBT SINN, DASS MAN NICHT ALLES MITNEHMEN KANN. ES WÄRE JA UNSINN, EINE KUPFER-INSZENIERUNG ZU DIRIGIEREN ALS WÄRE ES EINE CHÉREAU-INSZENIERUNG.

Genau. Und ich habe einen der leichtesten Jobs. Ich muss nur alles koordinieren und versuchen, das Beste aus jedem herauszuholen. Aber ich habe die Partitur vor mir, habe alle vor mir. Der einzelne Sänger, der alles aus dem Gedächtnis singt, kann nicht nur sein eigenes Ding machen. Denn er muss ja noch die anderen Protagonisten auf der Bühne mit einbeziehen. Also haben sie sehr viel weniger Freiheit in dem, was sie tun. Sie können nicht einfach mit ihrem ›Harry-Kupfer-Stil‹ auskommen und niemand sonst weiß, was sie da machen. Denn es gibt den Aspekt des praktischen, realistischen Zurückfallens auf das, was für alle Beteiligten funktioniert und sehr besondere Momente unvergesslich macht.

FOTO © PABLO CASTAGNOLA
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ES IST INTERESSANT. SIE SIND SEHR BESCHEIDEN IN DEM, WAS MEINER MEINUNG NACH VIELE ALS KERN IHRER ARBEIT SEHEN WÜRDEN – STEHEN UND DIRIGIEREN. SIE SCHEINEN ES EHER ALS EINE ART KOORDINATION ZU SEHEN, SIE NENNEN ES IMMER WIEDER ›EINFACH‹.

Nun ja, es ist insofern einfach, als dass ich die Partitur vor mir habe. Das ist mein Beruf. Ich weiß, wie man ein Orchester dirigiert. Ich weiß, wie man klar verständlich ist, ich kann Solisten dirigieren. Es geht weniger darum, die Musik zu kennen, sondern jeder einzelnen Person das Gefühl zu geben, einen gewissen Grad an Freiheit zu haben, auch wenn hundert Leute im Orchestergraben sitzen und ein Chor von 80 Leuten und Solisten auf der Bühne stehen. Du dirigierst Lohengrin, das Finale des ersten Akts: Auch, wenn ich alles koordinieren muss, muss ich jeder einzelnen Person etwas geben, weil jede Person auch ein Solist ist, der sich in der Musik persönlich ausdrücken möchte, und es ist mein Ehrgeiz, jedem das Gefühl zu geben, sich persönlich ausdrücken zu können. Genau wie ein Dirigent in großartiger Zusammenarbeit mit dem Chor es schafft, jedem Einzelnen das Gefühl zu geben – auch wenn es 24 Sopranistinnen sind – etwas aus sich selbst kanalisieren zu können. Das Gefühl, dass mich etwas von dem, was du sagst, berührt, auch wenn 23 andere Menschen es zur gleichen Zeit sagen. Und ich glaube, das ist das Schwierige. Es geht nicht um das Körperliche des Dirigierens, sondern um die psychologische Komponente.

Ich möchte nicht wie ein brillanter Psychologe klingen, aber das Körperliche [wedelt mit den Händen] ist der einfachste Teil meiner Arbeit. Die Frage ist, was man dabei vermittelt. Es kann nicht einfach nur sein, ›dies ist eins und dies ist zwei und dies ist drei‹. Man muss eine Stimmung und einen Charakter vermitteln. Wenn man genau darüber nachdenkt, hat der Dirigent eine völlig stumme Rolle. Wenn Sie sich in die erste Reihe ganz in meine Nähe setzten, würden Sie wahrscheinlich einige belanglose Geräusche hören, aber letztendlich muss man buchstäblich die beste Musik aus jedem herausholen. Und dies allein zu tun, ist meine Aufgabe. Dieser Teil [wedelt mit den Händen] sollte einfach sein. Dieser Teil [tippt sich an den Kopf] ist schwerer.

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WENN SIE VOR EINEM NEUEN ORCHESTER STEHEN, WAS MÜSSEN SIE ALS ERSTES ÜBER DIE MUSIKER HERAUSFINDEN?

Wer das Sagen hat. Ein Orchester ist eine Metapher für das Lebens. Es gibt die ›normalen, gesetzestreuen Bürger‹, es gibt eine ›Polizeitruppe‹ und ›Störenfriede‹. Wie in einer kleinen Stadt. Und es gibt die, die passiv sind und die, die aktiv sind. Das findet man nach einigen Proben heraus, aber man hat schon das Gefühl, dass es in jedem Orchester bestimmte Leute gibt, zu denen andere schauen um herauszufinden, ob sie an dem Dirigenten Gefallen finden oder nicht. Das mag etwas merkwürdig klingen, aber ein Orchester ist eine Einheit, ein Kollektiv. Ein wirklich großartiges Orchester hat immer schon eine Weile zusammengelebt und seine eigenen Persönlichkeiten entwickelt. Und es kann manchmal völlig selbstständig werden, falls es mit einem Dirigenten mal nicht funktioniert. Ein gutes Orchester ist in der Lage, einen solchen Dirigenten höflich und respektvoll auszuklammern und auf sich selbst zurückzufallen. Es gibt da eine innere Disziplin, eine innere Autorität.

Darüber hinaus ist das Wichtigste, was ich jedem jungen Dirigenten sage: Nicht unterbrechen. Hör ihnen zu. Höre ihnen ernsthaft zu. Höre zu, wie sie etwas spielen, höre zu, wie sie auf dich reagieren. Bevor du anfängst, sie zu unterbrechen und ihnen zu sagen, was sie tun sollen, finde heraus, was sie selbst können. Und ich meine das nicht auf eine herablassende Art. Wenn ich zur ersten Probe gehe, lasse ich das Orchester einen Satz spielen, ohne zu unterbrechen. Sie haben die Gelegenheit, mich kennenzulernen und ich habe die Gelegenheit, sie kennenzulernen. Spielen sie früh oder spät? Manchmal passiert es, dass ein junger Dirigent nach 45 Sekunden das Gefühl hat, er müsse seine Autorität beweisen und unterbricht das Orchester, um ein Crescendo zu ändern oder so etwas. Die Wahrscheinlichkeit, dass er das Orchester verloren hat, ist groß. Die Entscheidung fällt schon in den ersten 45 Sekunden. Das mag vorschnell klingen. Aber wenn du einen bestimmten Schritt machst, ist die Sache schnell entschieden. 45 Sekunden oder weniger um zu wissen, wer das Sagen hat. Und man braucht eine gewisse Demut. Du gibst keinen Ton von dir. Sie machen alles. Also höre ihnen zu. ¶

Ben Miller ist Autor, Historiker und Opera Queen. Er schreibt regelmäßig für die New York Times und ist, zusammen mit Huw Lemmey, Autor von ›Bad Gays: A Homosexual History‹ (Verso, 2022).