Zu Beginn dieser Trojaner ist es wie bei der ersten Fernsehdebatte der republikanischen Präsidentschaftsbewerber Ende August in den USA: Die Hauptperson beherrscht den Raum durch Abwesenheit, quasi als unsichtbares Riesenpferd im Raum. Aber sogleich schäme ich mich für diese gänzlich unwürdige Assoziation! Erstens, weil Donald Trump ja in seiner ganzen monströsen Kleinlichkeit wesenhaft untertrojanisch ist. Und zweitens, weil der bedeutende Musiker John Eliot Gardiner keineswegs mit Donald Trump verglichen werden soll. Allein aus dem Grund, dass man Gardiner die eigene Erschütterung über seinen gewalttätigen Übergriff gegen den Sänger William Thomas glauben darf und sollte (egal, wie tief Gardiners Verhaltensprobleme als Vorgesetzter, von denen man jetzt allerorts aus zweiter Hand hört, sitzen mögen). Und der Ton seiner Bitte um Entschuldigung hat auch nichts läppisch Beiseitewischendes oder frech Nonpology-Artiges.. Von selbstmitleidigem Rumopfern bei Gardiner keine Spur, sondern offensichtlich Entsetzen über sich selbst als Täter. Wenn das in dieser Lebensphase, Gardiner ist Jahrgang 1943, kathartisch wirken würde, hätte die bedrückende Affäre am Ende vielleicht sogar einen gesellschaftlichen Sinn gehabt: Wir können uns auch im hohen Alter noch ändern.

Aber vielleicht ist das auch alles viel zu weitaus sinniert und zu assoziativ gegriffen. Und in Wahrheit rast alles wieder mal aufs fatale Finale zu wie in Berlioz’ Les Troyens, wo der wunderbar flauschig-weiblich eingeführte Kuschelstaat Karthago in hasserfülltem Racheskandieren endet. Und es der armen Königin Didon nicht einmal erspart bleibt, im Moment ihres Sterbens sogar noch das Scheitern ihres eigenen Fluchs und den Untergang des von ihr gegründeten Idealreichs vorherzusehen. Gibt es einen gnadenloseren Schluss in der an Grausamkeiten ja nicht armen Operngeschichte?

Fiction vs fan fiction

Also aufs Konkrete geschaut. Natürlich werden durch solche skandalösen Plot-Twists wie Gardiners Selbst-Auskegelung auch über Nacht unvorhergesehene Hauptrollen frei: Das Dirigat von Hector Berlioz’ Les Troyens auf Festivaltournee und nun auch beim Musikfest in der Berliner Philharmonie übernimmt Gardiners bestens informierter Assistent Dinis Sousa, 45 Jahre jünger als der Boss, genau wie Maxim Emelyanychev, der demnächst anstelle Gardiners das Chamber Orchestra of Europe dirigieren wird. Radikalverjüngung also, wie sie schönererweise ohne derlei Eklats stattfände. Was ich aber hier schon sagen kann: Dinis Sousa füllt seine unvorhergesehene Hauptrolle als Berlioz-Dirigent des Orchestre Révolutionnaire et Romantique und des Monteverdi Choir sowie einer sängerischen Edelbesetzung derart formidabel aus, dass man ihn glatt vergessen könnte. 

Wer, wenn nicht der Dirigent, der das Riesending zusammenhalten muss, ist also überhaupt die Hauptperson in dem monumentalen Vergil-Spektakel Les Troyens? Nicht einmal Vergil, denn ähnlich wie bei Berlioz’ quasi originaltextfreien Shakespeare- und Goethe-Huldigungen könnte man eher von genialischer Fanfiction als von Klassikervertonung sprechen. Und »Aeneas« ist auch keine überzeugende Antwort auf die Hauptrollenfrage. Der ist zwar als einziger in allen beiden Opern sichtbar, aus denen Les Troyens im Grunde besteht: sowohl in Trojas Untergang noch als halber NPC als auch in Karthagos Untergangs-Vorbereitung als Liebestropf, der halb unverschuldet, halb volldusselig Didos Tragödie anrichtet. Wundertenor Michael Spyres lässt den Blässling Énée sängerisch glänzen, selbst wenn man seiner Stimme eine gewisse Reserviertheit und Vorsicht anzumerken scheint, einen vielleicht gar zu ethischen Verzicht auf jedes Auftrumpfen und Ausspielen ihrer Möglichkeiten. Aber in welch samtener Leichtigkeit, wie geschmeidig, wie biegsam und wendig Michael Spyres singt, ist auch so wahrlich ohrenbeatmend. Schließt man beim Zuhören die Augen, hat man keinen Zweifel, einen der ganz großen Sänger zu hören.

Kassandra rasiert sich die Achseln (zeitgenössische Darstellung)

Ans Herz aber gehen einem in den Trojanern immer andere als dieser ungreifbare Aeneas-Dödel. Die vergebliche Untergangswarnerin Cassandre im ersten Teil, die vergebliche Glücksanbieterin Didon im zweiten. Und selbst kleinere Rollen ergreifen uns inniger als Aeneas: Didons Schwester Anna etwa, von Beth Taylor gesungen, deren sinnlich-berauschender Mezzosopran sexpositiv und menschenfreundlich zur Liebe ermutigt und damit am Ende aus bester Absicht nur dem totalen Verhängnis gedient hat. Oder auch der Trojaner Hylas (jugendlich klar gesungen vom Tenor Laurence Kilsby), der sich zu Beginn des fünften Aktes sehnsüchtig an seine Heimat erinnert, die er niemals wiedersehen wird. Dass danach in einer kleinen schwankhaften Einlage zwei andere Exil-Trojaner in beschwipster Gegenwartsfreude sowohl nostalgischem Schmerz als auch zwanghafter Zukunftssuche eine Absage erteilen, sondern sich einfach voller Integrationslust über die liebesfähigen, fremdenfreundlichen Karthagerinnen freuen, komplettiert innerhalb dieser Riesen-Oper eine reizvolle kleine Binnen-Szenerie über verschiedene Mindsets des Flüchtlingseins. Es steckt so viel drin in diesem Überraschungspferd Trojaner, auch wenn das Ganze in Hinsicht aufs Hauptdrama manchmal unklar und psychologisch nicht immer recht tiefendurchbohrt scheint.

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Nach dem zweiten Akt, wenn Troja zur Hölle gefahren ist, bedauert man eigentlich immer, dass es nun auch mit der Erst-Hauptfigur Kassandra vorbei ist. (Das Kosewort, mit dem der Trojaner Chorèbe seine Cassandre anspricht, sollte man sich übrigens unbedingt für eigene Geliebte merken: nachdenkliche Hamadryade  – »pensive hamadryade«.) Wenn diese unglückliche Cassandre nun von der Mezzosopranistin Alice Coote gesungen wird, tut es einem nochmals besonders weh, sie nicht mehr zu hören; nur im fünften Akt gibt es nochmal einen Vers von ihr, als Geist neben Hektor und anderen toten Trojanern. Nun muss man aber auch sagen, wenn die noch lebenden Trojaner dieser alles überstrahlenden Coote-Stimme keinen Glauben schenken wollten, dann sind sie auch selbst schuld.

Die Zweit-Hauptfigur Didon liegt ebenfalls im Fach Mezzosopran und ist doch farblich ganz anders gelagert. Anmutig selbstbeherrscht, mit nahezu keusch begrenztem Vibrato hören wir Paula Murrihy zunächst im dritten Akt, um bald darauf im fünften kaum glauben zu können, welche Exzesse der Verzweiflung vor peitschenden Streicherklängen und sogar Häme durch zusammengekniffne Zähne da von derselben Frau, die nun eine ganz andere ist, zu hören sind. Dazwischen aber, doch schon erschreckend nah am schrecklichen Schluss, lag noch ein vollkommenes Glück: Das berühmte Duett Nuit d’ivresse et d’extase infinie habe ich, so meine ich, noch nie mit zwei Stimmen gehört, die sich in derart vollkommenem Gleichgewicht begegnen und verbinden, wie es hier Murrihy und Spyres gelingt. Keine demonstrative, sondern innerliche Ekstase, in der keine Stimme je der anderen enteilt oder sie übersteigt, ohne sie dabei völlig zu umschmiegen. Ideal. 

Halt ein, Dido, er ist es nicht wert!

Solcherart innerlich sind manche wahre Höhepunkte dieser ja durchaus äußerlich aufprunkenden und effekthascherischen Oper. »Halbszenisch« sei die Aufführung in der Philharmonie, heißt es. So macht man das heute gern bei konzertanten Aufführungen, aber das Szenenglas ist dabei, um’s mal so zu sagen, eigentlich immer viel halbleerer als halbvoll. Erwartungsgemäß wird da, wo auf dem vollen Orchesterpodium noch Platz ist, viel aufgeregt-hysterisch-schnatterig hin und hergegangen oder auch mal sinnfrei rein und rausgerannt. Zu den vollständig abgespielten Ballettmusiken, auch auf der echten Bühne stets ein Quell inszenatorischer Verlegenheit, fällt der Halbregie von Tess Gibbs nicht mehr ein, als die Sänger wie ein Konzertpublikum sich hinsetzen und zuhören zu lassen. Wenn sie wenigstens im Programmheft blättern würden! Leider traut Gibbs auch nicht ihrer eigentlich sehr einnehmenden requisitenlosen Pantomime vom Beginn über den Weg. Dabei wäre dieser Weg, konsequent beschritten, reizvoll; aber im dritten Akt wird dann doch eine deprimierende Kleiderkiste über die Bühne geschleppt, ein Schleier von der schönen Helena herausgezogen, sowas halt. 

Die halbszenische Konzertantheit bringt jedoch zuverlässig musikalischen Gewinn hervor, wenn das Orchester aus der Tiefe auftaucht. Das war vor einem Jahr auch bei den (formal vollinszenierten) Trojanern an der Oper im Staatenhaus Köln zu erleben, wo das nach oben gewuppte Orchester unter François-Xavier Roth einen derart federnd-tänzerischen Berlioz hinlegte, dass man glatt meinen konnte, man höre da einen Neffen von Rameau (einen anderen, helleren als jenen zwielichtigen neveu, über den Diderot so wunderbar schrieb). Auch die Raumklangeffekte reizte Roth in Köln bis zum Anschlag aus. Und das alles mit dem »normalen« Gürzenich-Orchester!

Das Orchestre Révolutionnaire et Romantique hingegen steht für sogenannte historische Musizierpraxis; deren Informiertheit garantieren Gardiner und seine Mitarbeiter, wie der nun plötzlich hauptverantwortliche Dinis Sousa. Dass die pflichtbewusst totalvollständig-strichlose Gesamtaufführung des Werks heute Abend nicht unbedingt länger dauern wird als manche pragmatische Schnippelbühnenfassung, zeigt bereits das so energische wie mitreißende Tempo, mit dem Sousa und das Orchester sofort loslegen. Aber für Momente fast barocker Gestik nimmt das Orchester sich dann ebenso Zeit. Zwar gelingen die Raumklangeffekte (hier philharmonie-üblich meist zur Bühnentür hereingeflüstert, was bei Mahlers Posthörnern doch besser passt) nicht so überwältigend wie bei Roth in der mythischen Weite des Kölner Staatenhauses. Und auch einen Tick korrekte Steifheit etwa in den Balletten kann das Orchester nicht immer ablegen. Aber das ist Anmerkerei auf sehr hohem Niveau. Denn der Orchesterklang ist famos und Sousas Koordination des manchmal fast Unkoordinierbaren enorm souverän. Und wo Instrumentalsolisten zur Hauptperson werden, ist das stets höchster Genuss; die Klarinettistin Fiona Mitchell etwa kann man gar nicht genug loben.

Vielleicht ist aber letztlich noch ein anderes Kollektiv die wahre Hauptperson dieses großartigen langen Abends des doppelten Untergangs: der Monteverdi Choir, dem die Meistertat gelingt, sowohl klangliche Differenzierung als auch Berauschung des Hörers auf die Spitze zu treiben. Auch in heilloser Vereinzelung über die Bühne verstreut und in ständiger Bewegung ist der Zusammenklang dieses Chors wundervoll austariert. Von der Seelenpein des Einzelnen über grollende Gewitter bis zu singender Staatsgewalt hat er alles drauf; wenn er hymnische Wucht entfaltet, besorgt er uns im Saal Gänsehaut statt Tinnitus. Und da ist es doch wieder Zeit, sich zu erinnern, dass dieser Monteverdi Choir eben – egal was war und wie es jetzt weitergeht – der Gardiner-Chor ist. Dieser Chor setzt dem Riesenpferd die Krone auf.

Das alles zusammen macht diese Aufführung von Hector Berlioz’ Les Troyens zu einem Ereignis, das nachhaltig in Erinnerung bleiben wird. Eben ein gewaltiger Bauch voller Überraschungen, nach deren Erlebnis man zugegeben durchaus mitgenommen ist wie Laokoon nach seinem Rendezvous mit dem Meeresungeheuer. Aber eben doch freudig gestimmter. ¶

… lebt in Berlin, liebt Musik, schreibt Romane: u.a. ›Fliegen‹ und ›Beethovn‹. Zuletzt erschien ›Luyánta – Das Jahr in der Unselben Welt‹.

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