Keinen großen Ausknall setzt es zum Festivalende mit irgendeinem traditionsberstenden Global Philharmonic Orchestra, stattdessen ein paar kleinere, spezielle Programme. Die immer etwas aleatorische Gemischtwarenladigkeit macht ja Schwäche wie Reiz des Musikfests Berlin aus: Neben dem Aufdefilée vielerleier Brillanzorchester aus Amsterdam und London, aus München und Boston und Israel gab es auch ein mehrteiliges Rachmaninow-Spezial von Alexander Melnikov. Auf das hatte ich allerdings keine rechte Lust, womit ich, sofern man dem verärgerten rbbKultur-Kritiker Göbel vertraut, anscheinend recht tat. Sehr gern gehört hätte ich hingegen am Wochenende zwei persische Programme, die sich aber leider zeitlich nicht ausgingen. Dafür war ich beim allerletzten Konzert, in dessen Ankündigung das Vielversprechende schon haarkantenscharf am Großspurigen liegt: Stegreif – The Improvising Symphony Orchestra führt eine symphony of change auf, »Hildegard von Bingen bis Clara Schumann – Klänge der Nachhaltigkeit«.

Über dieses Konzert im Kammermusiksaal der Philharmonie ließe sich nun auf zwei Arten berichten.

Foto: Public Domain

Die eine Art wäre:

Neunzig Minuten pain in the arse. Es beginnt mit der putzigen Kinderstimme, die aus dem Lautsprecher den Saal füllt mit in Kindermund gelegten Sentenzen zum Klimawandel à la »Die Erde hat Fieber«, was nicht nur eine Infantilisierung des Themas ist, die auch außerhalb dieses Konzerts mittlerweile bedenkliche Ausmaße angenommen hat (und letztlich rechten Klimawandelleugnern in die Karten spielt), sondern auch ein unangenehmer emotionaler Anbiederungs- bis Korrumpierungsversuch. Es geht weiter über arge Peinlichkeiten wie eine läppische Topfpflanze, die zu Hildegard-von-Bingen-Gesumme weihevoll durch die Gegend getragen oder angesungen wird, von der Decke hängende Spar-Origami-Vögel und Tücher wie damals im Oberstufe-Ausdruckstanz. Oder eine Cellistin, die den Steg eines zertöpperten Instruments herumträgt und bedeutenden Blicks ins Publikum vorzeigt (Stegreif, wir kapieren). Und es endet mit einem ernsten Bedenken: Die hier zugrundeliegende Musik von vier Komponistinnen wurde in unserer patriarchalen Konzerttradition viel zu lange untergebuttert und wird nun, da sie endlich auf dem Programm steht, in Schnipselform präsentiert, als Materiallieferant, was auch eine Form von Unsichtbarmachung darstellt. Kompositorische Entindividualisierung im Allgemeinsound. Das ist besonders schmerzlich bei der 7. Symphonie der äußerst formbewussten Emilie Mayer, deren Werk längst in Orchesterkonzerte gehören würde wie die ständig und meines Erachtens viel zu viel gespielten Symphonien von, sagen wir mal, Schumann Robert. Was Schumann Clara angeht, von der hier auch ein Stück verwurstet wird – die sagte ja zu der ganzen seinerzeitigen innovativen Formatierei: »Die Zukunftsmusik fängt leider an Wurzel dort zu schlagen, und Liszt hat dort, wie überall, eine Schar, die schürt und schürt.« Und da möchte man wie 1859 Brahms seiner Clara auch hier antworten: »Mich juckt’s oft in den Fingern, Streit anzufangen.«

Foto: Wellcome ImagesCC BY 4.0, via Wikimedia Commons

Die andere Art, über dieses Konzert zu berichten, wäre:

Die ganze ausgejuckte Stinkelaune bezieht sich eben nicht in erster Linie auf das direkte musikalische Erlebnis (wenn man von einer episodischen Kartontrommelei und dem notorischen Hildegard-Missbrauch unserer Tage absieht). Hier ist neunzig Minuten lang ein Enthusiasmus und eine positive Energie zu erleben, die einfach unglaublich sympathisch sind. Und das ist keine Sympathie mit Dilettanten, denn es ist eminentes musikalisches Können zu erleben. Die Oboistin Anne Willem begeistert solistisch ebenso wie die flötende Fagottistin Anne Fliegel, der Trompeter Jan Kaiser ebenso wie die Schlagzeuger Felix Demeyere und Antonio Rivero. Und allen Solisten, die hier nicht namentlich genannt wurden (fast jede und jeder dieser 25 vorzüglichen jungen Musiker treten mal einzeln hervor), ist Unrecht getan. Die schwingenden Tutti, alles auswendig und manchmal von allerdings wohlprobierter Improvisität, stehen den tollen Soli nicht nach. Man hört einander zu, ist in Bewegung, spielt Rücken an Rücken in alle Richtungen. Das geht stilistisch von Barockresten nach Wilhelmine von Brandenburg-Bayreuth über Schumanns Romantikepisoden und Mayers Klassikfetzen bis zu Angejazztem oder Folkigem. Und auch der Raum ist attraktiv einbezogen, wir erleben schwellende Klänge, die sich im Ring zwischen den unteren und oberen Reihen um uns bewegen, oder Hornschall, der von der Empore dem vibrierenden Podium in der tiefen Mitte des Saals antwortet.

Was behält also am Ende die Oberhand, Stinkelaune oder Seligkeit? Vielleicht das nachdenkliche Fazit: Man würde diesem Können und dieser Energie mehr Freiheit von aufgestülptem Konzeptzwang und vorgetäuschter Klimarelevanz wünschen. Dann würde auch die rein musikalische Gesamtdramaturgie, die hier manchmal additiv bleibt, noch größere Schlüssigkeit erreichen. Man freut sich einfach, wenn Musikerinnen und Musiker im Tutti mal von der ihnen aufbefohlenen Bedeutend-Dreinschau-Pflicht abfallen und jenes Lächeln zeigen, das ihre Kunst verdient. Denn das Stegreif-Orchester ist so vital wie sympathisch. ¶

… lebt in Berlin, liebt Musik, schreibt Romane: u.a. ›Beethovn‹ (2020). Zuletzt erschien ›Silence‹. ✉️ KonzertgaengerBerlin@gmail.com

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