In einer lauen Frühlingsnacht brachte mich letztens ein Stück von Jörg Widmann zum Schaudern. Mitsuko Uchida spielte im Pierre Boulez Saal Schönberg, Schubert und ein Stück des 44-jährigen Komponisten. In seiner Sonatina facile (2016) wurde das ausgiebig zitierte Mozart-Original von dissonanten Basslinien, plötzlichen Clustern in extremen Lagen und pseudo-jazzigen Glissandi unterbrochen. Dadurch gewann das Stück überhaupt nichts, vielmehr wurde hier der hippokratische Eid des Künstlers – »mache nie eine schlechtere Version eines bereits existierenden Werkes« – gebrochen. Dahinter stand ein Zusammenschluss von Auftraggebern, der renommierter kaum hätte sein können: die Elbphilharmonie, die Carnegie Hall und Uchida selbst.
Wo immer man ins Konzert geht, überall wird Widmanns Musik gespielt. In der Saison 2018/19 ist er unter anderem Artist in Residence beim Orchestre de Paris, der Wigmore Hall und des City of Birmingham Symphony Orchestra. Die Elbphilharmonie widmete ihm letztes Jahr eine sechsteilige Porträtreihe. In der laufenden Saison ist er »Gewandhauskomponist« beim Leipziger Gewandhausorchester, »Artist in Focus« im Pierre Boulez Saal, und Simon Rattle dirigiert am 27. Mai die Uraufführung von Tanz auf dem Vulkan, einem Auftragswerk der Stiftung der Berliner Philharmoniker. Widmanns Musik ist omnipräsent, erst recht gemessen daran, dass es sich bei ihr um Neue Musik handelt. Aber, Soul-Sänger Isaac Hayes möge mir diese Anleihe verzeihen: If disliking Jörg Widmann’s music is wrong, I don’t want to be right.

Vor ein paar Jahren hörte ich Widmanns Violinkonzert mit Simon Rattle, Christian Tetzlaff und den Berliner Philharmonikern – ein ganz ordentliches 12-Minuten-Stück. Leider dauert es aber 27 Minuten und tappt immer wieder in die Falle, das beste Material nach ein paar Sekunden aufzugeben, um es durch virtuose, atonale, banale Geigenfigurationen zu ersetzen. Nach dem Konzert machten mein Freund und ich unserem Ärger Luft: Einige der weltweit besten musikalischen Ressourcen des klassischen Konzertwesens waren gerade für etwas verschwendet worden, das nicht mehr war als »ordentlich«. Ein befreundeter Komponist vertritt die Theorie, dass nur wenige Künstlerische Leiter*innen oder Musiker*innen sich wirklich eine Meinung über Neue Musik bilden, sondern zufrieden sind, solange sie »irgendetwas« zu spielen haben. Ich hielt ihn lange für zynisch. Je länger ich Widmanns Karriere verfolge, desto öfter denke ich, dass er recht haben könnte.

Es geht mir nicht darum, Widmann persönlich anzugreifen – er ist ein fantastischer Klarinettist und nach allem, was man hört, ein wirklich netter, nachdenklicher Zeitgenosse. Es geht um strukturelle Probleme. Mit Widmanns Karriere ist es wie mit Schneebällen: Rollt die Kugel erstmal, bleiben durch ihr wachsendes Gewicht automatisch immer dickere Schnee-Schichten an ihr kleben. Auf Preise folgten Rezensionen, Aufnahmen, Interviews, ganze Bücher und immer größere Kompositionsaufträge – alle rechtfertigen sich gegenseitig. Wenn die Kugel einmal richtig rollt vergessen alle, nachzuschauen, woraus ihr Kern besteht.
Man könnte auch den Vergleich zu einer Rube-Goldberg-Maschine anstellen: Sie wird angeworfen, und nach zahlreichen undurchschaubaren Vorgängen kommt ein berühmter Künstler heraus. Wie das passiert und welche musikalischen Qualitäten dazu geführt haben, dass die Maschine überhaupt anfing zu arbeiten, wird im Laufe des Prozesses immer undurchsichtiger.
Widmann wurde 1973 geboren. Mit sieben Jahren begann er Klarinette zu spielen und zu improvisieren. »Meine Eltern waren zwar keine Berufsmusiker, haben aber ein Hobby-Streichquartett gehabt«, erzählt Widmann in einem Interview. Als Widmann 16 Jahre alt und mittlerweile Schüler an einem Musikgymnasium war, ermunterte ihn ausgerechnet Hans Werner Henze, der ihn später auch unterrichtete, eine Oper zu schreiben. Streichquartett aus der Oper ›Absences‹, ein frühes Widmann-Werk, basiert auf dieser Oper und wurde 1990 unter anderem von Widmanns Schwester Carolin, einer Star-Geigerin, uraufgeführt, 180 beats per minute ein paar Jahre später von der Cellistin Tanja Tetzlaff, Insel der Sirenen (1997) von Isabelle Faust und dem Münchener Kammerorchester. Manche Komponist*innen hören ihre frühen Werke zum ersten Mal, wenn erschöpfte Musiklehrer*innen sie spielen, andere kriegen gleich die Version mit Weltklasse-Geigerin. Jede*r Komponist*in weiß, wie viel ein Stück durch eine überzeugende Interpretation gewinnt. 1999 erhielt Widmann den Belmont-Preis der Forberg-Schneider-Stiftung, die regelmäßig auch das Münchener Kammerorchester finanziell unterstützt (gleich vier Mal zwischen 2010 und 2017). Dazu kam im Jahr 1996 ein Preis des Bayerischen Kultusministeriums, welches im Jahr zuvor mit einem größeren Preis Widmanns Lehrer Henze ausgezeichnet hatte. 2006 dirigierte schließlich Pierre Boulez Widmanns Armonica mit den Wiener Philharmonikern – Widmann war damit endgültig ganz oben angekommen. Mittlerweile dirigiert Widmann auch seinen eigenen Klangkörper, das Irish Chamber Orchestra, und wird immer häufiger als Gastdirigent engagiert. Widmanns Weg vom erfolgreichen Klarinettisten zum Komponisten und dann Dirigenten berührt ein weiteres strukturelles Problem, das den Gender-Aspekt unseres Künstlerbildes betrifft: Männern, die sich auf einem Feld der Musik bewiesen haben, stehen oft die Türen auch in andere Bereiche offen. Für Künstlerinnen gilt das sehr viel seltener.
Ich habe den Eindruck, dass alle Gütesiegel, die Widmanns Musik mittlerweile anhaften, das wirkliche Hören seiner Musik überflüssig gemacht haben, insbesondere für diejenigen, die ihn programmieren. Seine Musik ist spielbar, gut geschrieben und bedient traditionelle Formen, die sich gut neben klassischen Meisterwerken machen. Er ist eine »sichere« Wahl und das hält einen trägen Kreislauf in Gang. Ihn einzuladen stellt kein Risiko dar, weil es so viele andere ja auch machen. Ich weiß, dass sich Geschmäcker unterscheiden, aber ich bin nicht der einzige, der in den Programmen der wichtigen Orchester gern eine größere Vielfalt finden würde. Deren Schwerfälligkeit verhindert, dass Neue Musik in den traditionellen Konzertsälen in einer größeren Bandbreite und Tiefe gehört wird.
Ein Blick auf die Komponist*innen, die Widmanns Allgegenwärtigkeit überstrahlt, macht das deutlich. Im Schlagschatten des hellen Widmann-Spotlights gehen die spannungsgeladene Feinheit einer Rebecca Saunders, Ashley Fures klirrende Komplexität, Michael Maierhofs fühlbare, ächzende Ekstase, die Endorphin-Ladung eines Jay Schwartz und sogar Tristan Murails üppig grüne Dschungellandschaften unter – genau wie die unbekannten Qualitäten unzähliger Komponist*innen, die ständig um ihren Lebensunterhalt fürchten müssen oder schon aufgegeben haben. Sie alle würden bereits von einem kleinen Teil der Widmann-Sendezeit unglaublich profitieren.

Kunst, die wirklich von Bedeutung ist, gibt uns das Gefühl, sich in ihr wiederzuerkennen und gleichzeitig nicht in der Lage zu sein, zu beschreiben, was man fühlt. Vielleicht schreibt Widmann irgendwann solche Musik. Und in der Zwischenzeit: Wäre es nicht großartig, wenn ein Bruchteil der Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wird, sich stattdessen auf Komponistinnen oder andere, weniger privilegierte Künstler*innen richten würde? Ich möchte mehr Konzerte hören, bei denen ich nicht vorher schon weiß, wie das eine Neue-Musik-Stück klingen wird. ¶
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