Ok, Teodor Currentzis. Darf man einfach sein Konzert besuchen und darüber schreiben, ohne erst moralisch-politische Stellung zu ihm als Gesamtphänomen zu beziehen? Muss man in sich gehen und bekennen, ob man diesem Mann zugestehen will, möglicherweise zwischen seinen Welten und Verantwortungen verstrickt und zerrissen zu sein? Das tat Harmut Welscher in einem differenzierten Beitrag in diesem Magazin. Oder ob man sich dem Verdikt Putin-Propagandist anschließt? Auch für Letzteres gibt es Gründe. Und doch hat es für mich neben der harschen Einfachheit immer den Beigeschmack einer Ersatzhandlung: weil wir selbst durch unseren Lebenswandel Russlands Krieg (mit)tragen.

Was in die Debatte oft reinspielt und alles verschlimmert, sind Menschen, die gedankenlos betonen, dass sie Currentzis ja schon immer für einen rumpelnden Betrüger hielten. Als hätte das irgendwas mit der Frage zu tun, wie wir sein weitgehendes Schweigen zum Krieg gegen die Ukraine bewerten! Da lobe ich mir den FAZ-Kritiker Jan Brachmann, der Currentzis schon 2016 als Genie-Simulant verdammte, sich heute aber in der kuriosen Rolle des Currentzis-Verteidigers wiederfindet.

Was nun die künstlerische Frage angeht: Egal, wie effekthascherisch der Mozart oder die Eroica von Currentzis’ Ensemble MusicAeterna gepoltert haben mögen – wenn Teodor Currentzis’ aktuelles Programm mit dem SWR Symphonieorchester, derzeit auf Tournee durch Deutschland, »Scharlatanerie« sein soll, dann ist es für mich Scharlatanerie vom Intensivsten, Mutigsten, Begeisterndsten und auch: Wahrsten. Also große Kunst.

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Ist es nicht viel eher Betrug, wenn große Symphonieorchester mittlerweile regelmäßig die von Deryck Cooke fertiggestellte »Aufführungsversion« von Gustav Mahlers unfertiger letzter Sinfonie spielen, und zwar zunehmend so, als wär das nicht eine so interessante wie dürftige Spekulation, sondern eben eine vollgültige Zehnte? Jede Aufführung ist ja klingende Normativität des Faktischen. Dagegen scheint es mir nun ehrlich, konsequent und (nochmals das hohe Wort:) wahr, wenn Currentzis und sein südwest-öffentlichrechtliches Orchester MAHLER unFINISHED vorlegen. Darin folgen auf Mahlers annähernd fertiggestelltes letztes Adagio vier Sätze oder Stücke oder Werke von vier lebenden Komponisten, der älteste 41 Jahre nach Mahlers Tod geboren, der jüngste 75 Jahre danach.

Das ist also zu vier Fünfteln ein Programm, wie man es in dieser Dichte sonst nur bei Spezialfestivals für zeitgenössische Musik hören würde, wo der Betrieb unter sich bleibt. Dass die Berliner Philharmonie dennoch zu vier Fünfteln gefüllt ist, dürfte (neben der unbestreitbaren Anwesenheit von professioneller und akademischer Musikwelt) der Popularität der beiden Namen Currentzis und Mahler zu verdanken sein. Was nun Mahlers eröffnendes Adagio angeht, ist die Wirkung in Currentzis’ Dirigat von einer Erhabenheit und Bedrohlichkeit zugleich, die allein schon enorm beeindrucken. Mal aggressiv angespitzt, mal grotesk breitgetreten das Holz, watschelnd oder stechelnd, Hauptsache unheimlich. Der berühmte Schreckens-Akkord entsteht dann aus so vollendeter Tiefenstille des Orchesterklangs, dass er im ersten Anlauf selbst noch Erhabenheit atmet. In seiner vollen Ausfaltung aber fährt er in überwältigender Wirkung, doch eben überhaupt nicht effektmacherisch in unser Ohr: so, als würden alle Töne der Welt, die bekanntlich im Nichtsklang stecken, auf einmal hörbar. Tausend Farben grellen uns da weiß an. Dieser schneidende Krach ist zugleich vollkommene Stille.

Den Klang des Adagio-Höhepunkts nehmen die folgenden Komponisten immer wieder auf, teils in ferner Erinnerung, teils konkret etwa in der scharfen Solotrompete, die bei Mahler aus dem Akkord der Akkorde bleibt. Die Übergänge zwischen den »Sätzen« geschehen im aha-attacca. Wenn Mahler ins Stück La Commedia des 1986 geborenen Alexey Retinsky übergeht, meint man zuerst, irgendwo im Saal wäre wieder mal das Hörgerät eines betagten Konzertbesuchers entgleist. Retinskys Klangballungen scheinen, zumal im Vergleich mit den folgenden Komponisten und auch mit dem Mahler-Höhepunkt, im Rahmen des Erwartbaren. Seine Kakofonie, aus der wiederum gleißende Linien wie zu Beginn von La Commedia entstehen, ist eine oberflächlichere Klimax als die des großen Anstifters. Aber man hört in einem anspruchsvollen achtzigminütigen Gesamtprogramm eben auch solche direkten Reize dankbar, auch die grotesk rhythmischen Elemente, die sich zuvor herausschälten. Und meine persönliche Neue-Musik-Nagelprobe besteht Retinsky ebenfalls: Würde ich das gern ein zweites Mal hören? Ja.

Philippe Manoury, geboren 1952, greift danach in den musikalischen Mitteln subtiler und zugleich im Mahler-Bezug wortnäher das Adagio auf. Rémanences-Palimpseste heißt das, quasi-irgendwie eine Überschreibung magnetisch wirkender Rückstände, eine schöne Neue-Musik-Titelmischung aus Konkretion und Quark. Agil und unvorhersehbar wird der Mahlersatz zu einer Art Skulptur, die man immer wieder ungleichmäßig umkreist.

Als wäre sie überhaupt dazu erfunden, um als verwegenes Echo auf Mahlers letzten All-Klang durchzugehen, scheint die faszinierende Leise-bis-unhörbar-Kunst des 1964 geborenen Mark Andre. Immer ist da ein Wehen und sind Schwingungen, in denen ein einzelner Ton oder Schlag zum Ereignis wird. Auch in der hier zu hörenden Echographie 4, die nun gleichsam als vierter Satz der nicht existierenden letzten Symphonie von Gustav Mahler fungiert, habe ich als Zuhörender das Gefühl, ich hätte einen Raum ganz tief unter der Musik betreten.

Ein Jammer freilich, mit welcher sich steigernden Ungeduld dort unten auch das Lazarett des aktuellen Berliner Hustenwinters hörbar ist; man kennt da nix, man gibt sich ganz seinem Auswurf hin. Als hätte er das Übel geahnt, lässt der 1965 geborene Komponist Jay Schwartz in seinem auf Mark Andre folgenden Werk Theta die Schwachheit des Menschen in gewaltiger Steigerung verschlucken. Dabei ist seine Orchestertextur von solcher Finesse, dass auch die Eruptionen die Aura von Stille haben. Daneben prägen lange Glissandi Schwartz’ Theta.

Man kann es nicht anders sagen: Dieses Programm ist im Stino-Konzertbetrieb eine ästhetische Ansage sondergleichen. Auf der konkreteren Ansage-Ebene mag man erwähnen, dass Currentzis mit Alexey Retinsky bewusst einen ukrainischen Komponisten fördert. Ebenso muss man kritisch anmerken, dass – unbeschadet der Klasse aller vier Komponisten – der SWR für dieses Projekt vier Kompositionsaufträge an vier Männer und null Frauen vergeben hat. Das geht heutzutage eigentlich nicht mehr.

Eine letzte Ansage ist sogar noch die Zugabe, die Currentzis spontan ankündigt – die werde es geben nach zehnminütiger Pause, was auch das Saalpersonal überrascht und aus dem Konzept bringt. Vier Streicher des Symphonieorchesters spielen also nachher noch drei Sätze aus Alban Bergs Lyrischer Suite. Als pädagogische Geste von Currentzis hat das sogar etwas Zeigefingriges (Seht her, das alles kommt direkt vom Mahlermeister!). Aber als Konzerterlebnis ist es massiv immersiv, auch wenn es in reinen Zahlen nur 15 der 30 Lyrische-Suite-Minuten sind, die da on top kommen.

Streichquartette im Großen Saal der Philharmonie als dritten Teil nach anderthalb Stunden Symphonik, das machte vor Jahren mal Marek Janowski mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin bei seinem Beethoven-Zyklus, und das hatte damals auch schon immersive Forza. Und jetzt bei diesem Konzertabend erinnere ich mich und glaube daran: Ja, das Unerhörte von Gestern und Heute ist das Klassische von Morgen. Insofern ist das tatsächlich ein utopisches Konzert. ¶


… lebt in Berlin, liebt Musik, schreibt Romane: u.a. ›Beethovn‹ (2020). Zuletzt erschien ›Silence‹. ✉️ KonzertgaengerBerlin@gmail.com

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6 Kommentare

  1. Ein Konzert, dass tiefen Eindruck hinterließ und sicher vielen Zuhörern einen Weg zur neuen Musik gebahnt hat. Ein mutiges Projekt mit grandiosem Ergebnis.

  2. Zitat: „Ich gehe nur noch in Konzerte mit neuer Musik“.
    Frage: Josquin, Palestrina, Victoria, Monteverdi, Cavalli, Schütz, Händel, Bach?
    Les Musiciens du Louvre, Ensemble La Torre, Voces8, Tenebrae, René Jacobs, Jordi Savall.
    Gegen diese Phalanx erscheint mir die sog. Neue Musik doch als ein Armutsrisiko. Es ist ja auch sehr bedenkenswert, dass man zur Neuen Musik ständig hingehen muss, weil die meisten Stücke ja nie wieder gespielt werden.

    1. Von wem stammt dieses Zitat? Von mir sicher nicht.
      Ihre Aufzählung umspannt ja Komponisten aus vier Jahrhunderten. Klar ist das unendlicher Reichtum. Aber Josquin und Mark Andre schließen sich doch nicht aus?

  3. Das Mahlerkonzert war „groundbreaking“. Man fragte sich danach, wie geht es weiter im Konzertbetrieb (ein entlarvendes Wort), so wie bisher mit den rückwärts gewandten Programmen wohl nicht. Fast 2000 Zuhörer waren fasziniert von Neuer Musik. Das sollte ernst genommen werden, da muss sich was grundsätzlich ändern.

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