Vielleicht ist es eine ganz gute Idee von Joana Mallwitz, sich für eine Vorstellungsreihe in den dunklen Graben der Oper zu begeben – angesichts des aufgestauten Erwartungsdrucks an die neue Chefdirigentin des Berliner Konzerthauses und der Tatsache, wie sehr das Visuelle ihres Dirigierens betont wird, ihre physische Präsenz fürs Publikumsauge. Aktuell hängen in Berliner U-Bahnhöfen Mallwitz-Plakate, die ich mit sehr gemischten Gefühlen wahrnehme: DIE MUSIK, DIE ENDORPHINE & DU. Joana Mallwitz muss aufpassen, nicht von gewissenlosen Agenturen verheizt zu werden.

Mit der Staatskapelle, die Mallwitz für eine winterliche Wiederaufnahme-Serie des Rosenkavalier leitet, steht ihr ein erststraussiges Orchester zur Verfügung, sicher kein Nachteil für die Opernexkursion. Obwohl die Kapelle das, wie man grässlich sagt, »drauf hat«, drückt Mallwitz diesem Strauss hörbar ihren Stempel auf: hoher Schwung, entfälligtes Klangbild, keine zu große Zuckerschwere. Im ersten Aufzug gibt es Passagen, in denen mir das initiative Mozart-Vorbild dieser Oper nicht ganz so absurd erscheint, wie es sonst eigentlich immer der Fall ist.

Für die großen Momente aber, sei es der Monolog der Marschallin im ersten Akt oder die Tiefpunkte der baron-ochs’schen Lebensphilosophie (inklusive der Heu-Verse in der sonst öfter gestrichenen infamen Mägde-Erzählung des Ochs), nimmt Mallwitz sich alle Zeit der Welt. Überhaupt ist die Sängerfreundlichkeit und Textachtung ihres Dirigats spürbar. Allerdings führen die großen Tempi-Unterschiede manchmal auch zur Zerdehnung des Dialogs und der Musik. Wie mir überhaupt scheint, dass das Illustrative und Beschwingte bis Druckvolle Mallwitz mehr liegt als die großen Bögen. Wenn sie zu Beginn des dritten Aufzugs das Spiel der Staatskapelle einfach mal fließen lässt, ist es auch schön. Der letzte Straussglanz will sich an diesem Abend dennoch nicht einstellen. Wenn im Schlussapplaus einzelne Buhrufe für die Dirigentin zu hören sind, ist das jedoch ohne den forcierten Mallwitz-Hype nicht erklärbar. Hätte ein No-Name-Kapellmeister exakt so dirigiert, würde niemand Buh rufen.

Noblesse, Traurigkeit und Liebessehnsucht der Marschallin werden in Julia Kleiters Rollengestaltung lebendig. Im ambivalenten Sinn noch ausdrucksstärker ist Marina Prudenskaya als Octavian: im ersten Aufzug quasi Verkörperung von Ungestüm, aber eben auch undeutlich im Text und stimmlich manchmal entgleisend; auch das Chargieren als Mariandl ist gelegentlich ungut überdreht. Die herausragende Sängerin des Abends ist die Südafrikanerin Golda Schultz als Sophie, bei der vokale Vielfalt und Wandelbarkeit eben nicht zu flackernder Unruhe führt, sondern alles sich ideal auswiegt: anfangs honigsüß schmeichelnd und infantil trotzend, später ihrer Rolle immer mehr Tiefe gebend. Trotz leichten Akzents ist Schultz Textbehandlung traumhaft, jederzeit spürt man die Gestaltungsgenauigkeit der versierten Liedsängerin.

Und ihr Timbre ist eben wie ein Lichtstrahl im Winterdunkel. Sängerisch wäre diese Sophie also ein Traumpaar mit dem Baron Ochs von Lerchenau, der in Günther Groissböcks Verkörperung sonniges Gemüt und klare Diktion hat. Sein klassisches Ochs-»Dialektisch« mögen manche heutigen Interpreten für abgeschmackt halten, das Publikum nimmt es vom Sunnyboy Groissböck gern entgegen. Dieser Bursche hat einfach positive, nicht zu tiefsinnige Energie. Kurze Hosen und Schmachtlocke am Toupet. Und trotzdem schafft Groissböck es, dass uns im dritten Akt auch das »Vorbei« des Ochs rührt, nicht nur das »Vorbei« der anderen.

Nicht durchweg überzeugend sind an diesem Abend die Nebenrollen, manche durchwachsen. Anerkennung verdienen die stabile Präsenz von Roman Trekel als Faninal und der Stipendiat Friedrich Hamel als kerniger Kommissar von sehr bestimmter Artikulation.

Auf Dankbarkeit des vorweihnachtlichen Publikums trifft auch die Inszenierung von André Heller. Statt ewigem Rosenkavalier-Fake-Rokoko bestimmen Japanismus und Klimtelei die Bühne, die dabei letztlich ähnlich gedankenfrei bleibt wie sonst auch meist. Dass die Mägde-Erzählung des Ochs nicht gestrichen ist, hätte es nahelegen können, doch mal die Dimension der sexuellen Gewalt zu beleuchten, über das aristokratische Maß hinaus, in dem das Libretto es ja selbst tut. Andererseits, ruppiges MeToo im Rosenkavalier, wer will das sehen? Wir freuen uns also an Hellers Interesse an Jahrhundertwende und Sezession, überhaupt am Wienerischen. Und an der Ausnutzung des ganzen Bühnenraums, ohne den Sängern das Leben schwerzumachen. (Bei den Meistersingern, die ich kürzlich an der Deutschen Oper Berlin besuchte, müssen die Sänger häufig nachteilig im Rückraum der Bühne singen.)

Also, man sieht das einfach gern; ja, hier glaube ich, wirklich »man« sagen zu dürfen. Wobei man schon auch sagen muss, dass Heller nicht ganz der Meister des Timings und Bühnenwitzes ist, für den er sich zu halten scheint. Allerdings wirkt etwa die Empfangsszene im ersten Akt des Rosenkavalier ja eigentlich nie so rasant und komisch, wie Strauss und Hofmannsthal sich das vielleicht gedacht hatten. ¶

… lebt in Berlin, liebt Musik, schreibt Romane: u.a. ›Beethovn‹ (2020). Zuletzt erschien ›Silence‹. ✉️ KonzertgaengerBerlin@gmail.com

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