Philippe Manoury wurde von François-Xavier Roth, dem Kapellmeister des Gürzenich-Orchesters, im April 2016 als »Komponist für Köln« vorgestellt. Eine Trilogie aus Kompositionen wird zu diesem Anlass entstehen. Der erste Teil, Ring, wurde vom Gürzenich-Orchester im April gespielt. Im April 2017 folgt das bereits in Donaueschingen aufgeführte In situ. An diesem Dezemberwochenende ist Manoury in der Stadt, weil Jean-François Heisser (Pianist, Organist, Dirigent) am Abend zwei seiner sechs Études für Klavier spielen wird. Dazu später noch mehr. Der Weihnachtsmarkttrubel von Alter Markt und Heumarkt macht vor dem mondänen Foyer des nahe der Kölner Philharmonie gelegenen Hotels keinen Halt, Leute mit Weihnachtsmannmützen versammeln sich. Menschen in Pelz wollen sich Schmuck in den Vitrinen anschauen, sie rufen und kreischen, aus den Lautsprechern kommt leise aber dicht komprimierter R&B.
VAN: Sie sind ein Pionier im Einsatz des Computers für Neue Musik. Haben Sie noch Interesse am Computer?
Philippe Manoury: Ja, das hat nie aufgehört, er ist für mich so wichtig wie Instrumente! Aber ich benutze ihn nicht zum Komponieren von Instrumentalmusik. Ich erzeuge mit ihm synthetische Sounds, und lassen ihn den Klang verändern, nach mathematischen Modellen, Wahrscheinlichkeitsrechnungen.
Beeinflusst von Iannis Xenakis?
… ja, aber in Echtzeit. Er landete bei Partituren, die teilweise von Zufälligkeiten geprägt sind. Ich mache Experimente mit dem, was ich Echtzeitkomposition nenne, die Musik wird in dem Moment komponiert, in dem du sie hörst. Ein bisschen wie Improvisation, wobei Improvisation mir zu einfach, zu naiv vorkommt. Ich kann sehr komplexe Musik erzeugen, aber sie ist eben nicht vorher komponiert.
Was mich auch interessiert, ist score following ich versuche dem Computer beizubringen, sich auf bestimmte Arten mit einem Instrument zu synchronisieren, das gerade spielt. Das ist ein kompliziertes Problem. (Hier ein Demo zu score following vom IRCAM, dem Pariser Forschungsinstitut für Akustik/Musik, wo Manoury seit 1980 immer wieder gearbeitet hat.)
Inwiefern wird künstliche Intelligenz die musikalische Arbeit mit dem Computer noch weiter verändern?
Was ich zum Beispiel gerade als sehr mächtiges Instrument empfinde: Ich schreibe an einer Oper, eigentlich ist es keine Oper, eher eine (dt.) Bühnenmusik (Manoury spricht von Kein Licht, einem Musiktheaterprojekt mit dem Regisseur Nicolas Stemann, dem Elfriede Jelineks gleichnamiger Text zugrunde liegt, beauftragt von der Pariser Opéra Comique). Gerade wissen wir noch nicht, wie lange der Text sein wird, das wollen wir mit Schauspielern auf der Bühne erproben. Also weiß ich nicht, wie lange die Musik sein soll. Aber wir brauchen Sie manchmal, um mit dem Text zu experimentieren. Der Computer kann in solchen Situationen, nachdem ich entsprechende Algorithmen und Regeln geschrieben habe, Stücke mit verschiedener Länge generieren, zwei Minuten, fünf Minuten.
Hier ist der Computer viel fähiger! Eine Improvisation von Instrumentalisten wäre an dieser Stelle einfach weniger interessant. Das Gehirn kann nicht spontan soviel komplexe Musik erdenken.
Wo scheitert der Computer?
Wenn ich komponiere, dann habe ich eine Ahnung, wohin ich gelangen will: In sechs Minuten will ich diesen oder jenen Punkt erreichen. Ich kann mir diese Zukunft ausdenken, und sie nährt meine Gegenwart. Das kann der Computer nicht; hier und in vielen anderen musikalischen Dingen ist das menschliche Gehirn viel interessanter.
Wie ist Ihr Verhältnis zur Spektralmusik, an der Protagonisten wie Tristan Murail und Gérard Grisey während Ihrer Studienzeit in Paris etwa zur selben Zeit arbeiteten?
Ich kann nicht sagen, dass es keinen Einfluss gibt, aber ich traf Murail, Grisey und andere erst Anfang der 1970er Jahre beim Festival de Royan, das zu der Zeit sehr renommiert war. Ich kam aus einer anderen Schule. Sie alle waren Schüler von Messiaen. Ich nenne das jetzt mal die französische Schule, sehr harmonisch – wie Messiaen es ja auch war – sehr regelbetont. Ich kam aus einer anderen Richtung, keine Ahnung warum, ich habe die Musik von Schönberg intensiv studiert, ich war beeinflusst von Boulez und Stockhausen, Xenakis. Grisey, Murail und so, die waren alle etwas älter als ich, so 5, 6 Jahre, aber nicht alt genug, um Rollenmodelle zu sein.
Haben Sie sich denn jemals einer Schule zugehörig gefühlt?
Nein, irgendwie nicht. Ich forschte immer sehr viel in Sachen Komplexität, Unregelmäßigeit, Chaos und nicht so sehr an dieser Art von Musik, die für mich etwas zu kontemplativ war. Dieser regelgeführte Prozess dahin ist interessant und ich mag auch einige Stücke von Grisey sehr gern. Aber das ist nicht meine Art zu komponieren, es ist vorhersehbar, linear.
Ich mag es, von A nach B zu gehen, ohne den Weg genau vorherzubestimmen, die Zweideutigkeiten, die kleine Zerstörungen. Ich habe gerade ein Physik-Sachbuch gelesen, da geht es um die Formen in der Natur. Warum hat der Tiger links und rechts von seiner Nase die gleichen Flecken, diese Symmetrie? Man denkt, es ist einfach, aber der Grund dafür, der Prozess dahin, ist extrem kompliziert. Anders als in der Renaissance-Kunst, wo Symmetrien ja auch eine große Rolle spielen, ist Symmetrie in der Natur und der Prozess dahin, extrem komplex. Das hat wenig mit einer Entscheidung von Gott zu tun. Und für mich entspringt genau daher die Schönheit; kommt daher Ausdruck. Es geht nicht um A oder B.

Das Konzert am Abend im Saal des Wallraff-Richartz-Museums ist eine kammermusikalische Reise durch das seltsam angestaubt wirkende Werk von Saint-Saëns. Die zwei Klavierstücke von Manoury sorgen dabei für die wenigen Momente zwingender Spannung, scharfer Gegenwart, ohne dass man sagen kann, wie es genau dazu gekommen ist. »Manourys Musik (ist) so reich, dass man beim ersten Mal gar nicht alles ›schmecken‹ kann«, sagt François-Xavier Roth.
Finden Sie es schade, dass die Kultur der Neuen Musik es schwierig macht, ausreichend Kontakt mit den Werken zu haben?
Immerhin haben wir die Aufnahmen oder es gibt die nachträglichen Radioübertragungen. Und jemand wie Berlioz hat eine bestimmte Beethoven-Sinfonie auch nur maximal 2, 3 Mal gehört.
Und es gibt ja auch Musik, die bei jedem Hören den gleichen Eindruck hinterlässt – was nicht als Qualitätsurteil gemeint ist! Ich denke an zwei Komponisten: Der eine ist Varèse, der andere Xenakis, der für mich mit 20, 25 wirklich wichtig war. Ich mag seine Stücke, aber wie gesagt: die selben Gefühle, die selben Eindrücke. Auch bei Steve Reich – es ist halt ein einzelner Prozess, der hier abgebildet wird.
Sie haben ja diese Inspiration der Komplexität auch aus der Literatur bezogen, Joyce, Beckett …
… ja, Kafka, Faulkner.
Aber die formalen Experimente stehen in der Literatur gerade nicht so hoch im Kurs, oder?
Ja, das ist so ein bisschen wie die Neoklassik, der neo-tonalen Musik. So etwas wie Joyce, das gibt es heute kaum noch. Die Zeit bei den jungen Romanciers ist linear, auch die Story.
Viele Komponisten sind heute von dieser Idee der Komplexität abgeschnitten, wie es sie am Beginn des 20. Jahrhundert gab. Sie kommen auf klassische Harmonien, repetitive Elemente. Ich weiß nicht, wie es in Deutschland ist, aber wir haben in Frankreich viele junge Komponisten mit dieser Nostalgie nach der romantischen Musik. Und dasselbe passiert auch mit den Romanschriftstellern. Als ob man sagt: ›Wir haben ein paar Experimente im 20. Jahrhundert gemacht, aber jetzt müssen wir zu den soliden Strukturen zurückkommen‹. Auch John Adams ist dafür ein Beispiel.
Wie ist es mit anderen Kunstformen? Wo sehen Sie da noch dieses Erproben? Im Film?
Ja, im Film, sogar Tarantino wäre hier zu nennen, vor allem aber im Theater, da kann ich das sehen, nehmen wir die Arbeit von Nicolas Stemann aus Berlin … Olivier! Olivier!
Olivier Mantei, Direktor der Pariser Opéra Comique durchquert die Lobby. Er ist nach Köln gekommen, um sich Leonard Bernsteins Comic Operetta Candide anzuschauen, die parallel im Staatenhaus am Rhein gespielt wird. Mantei produziert auch die oben erwähnte Bühnenmusik/Oper Kein Licht, die Manoury gerade mit Nicolas Stemann entwickelt. Gestern hatten die beiden darüber noch ein Meeting in Paris, es scheint ein herzliches, erfreutes Wiedersehen zu sein: »Und du?« Ich habe heute eine Uraufführung im Wallraff-Richartz-Museum. »Incroyable«. Ein Zufall. Man verabredet sich für später.
Gibt es zwischen der deutschen und der französischen Kompositionsszene eigentlich charakteristische Unterschiede?
Auf jeden Fall. Nehmen wir zwei Komponisten aus ungefähr derselben Generation wie Murail und Lachenmann, beide haben auch viele Schüler. Mir kommt die deutsche Seite aufrichtiger gegenüber der Geschichte vor. Für Lachenmann ist schon ein Crescendo eine historische Figur. Mit der deutschen Vergangenheit und diesem Gewicht der Geschichte gibt es eine Art tragödienhafte Haltung. In Frankreich ist es einfach leichter. Ich will nicht sagen, ›oberflächlich‹, aber es nicht die gleiche Ebene von Fragen, die man sich um die Musik stellt. Es gibt da immer einen Ästhetizismus, eine Art Hedonismus. Ich weiß auch, dass die deutschen Festivals auf die französische Musik als ›hedonistisch‹ blicken. Und ich kenne viele Franzosen, die auf die Deutschen als Menschen schauen, die gerne leiden. Klar, das sind jetzt große Verallgemeinerungen. Aber ich kann mir einfach so was wie Spektralmusik nicht aus Deutschland kommend vorstellen. Diese Idee, die ›Essenz der Musik‹, den Klang selbst in den Mittelpunkt zu stellen, das ist schon bei Rameau (1683–1764) angelegt, in seinen musiktheoretischen Schriften, wo er die Harmonielehre aus der Beschaffenheit des Klangs ableitet.
Es muss Abweichungen geben.
Klar, für mich ist zum Beispiel Debussy die größte Figur in der französischen Musik. Und je mehr Musik ich von ihm höre und lerne, desto klarer wird mir, wie komplex diese Musik ist, formal. Und das greift natürlich dieses Klischee auch an, das ich gerade gezeichnet habe.
Vergleichen wir noch zwei Ihrer Inspirationen, Xenakis und Stockhausen auf persönlicher Ebene. Wer ist Ihnen da näher: Xenakis, der Partisanenkämpfer im griechischen Bürgerkrieg, der als Architekt diese durchrationalisierten Gebäude baute, Atheist war; oder Stockhausen, dessen Welt- und Selbstbild auch von Über- und Außerirdischem geprägt war.
Diesen Teil mag ich an Stockhausen gar nicht! Ich war zum Beispiel echt schockiert, als ich vor drei Monaten Donnerstag aus Licht (VAN-Bericht) in Basel sah. Total schockiert. Die Form, die Struktur der Musik, alle Details aus so einer einfachen Formel herzuleiten, sie ist wirklich sehr simpel! Das ist für mich dieses Intelligent Design – Leute, die sich vorstellen, dass das Universum eine einmalige Entscheidung von Gott ist und dass eine einfache Formel zugrundeliegt.
Ich kannte Teile des Stücks und natürlich gibt es auch gute Passagen. Aber das dann in der Gesamtheit zu sehen, kam mir so naiv vor! Kontakte, Gruppen, Moment, sogar Mantra, das ist kraftvolle Musik.
Man hört – auch in der von Ihnen angesprochenen neoklassischen Musik – immer wieder dieses Credo, das Einfache im Komplexen zu finden.
Nein, ich habe das Gefühl, wir entdecken gerade erst die Komplexität. Und diese logische Ableitung, diese gottgleiche Positionierung, »Ich habe die Formel« – das Resultat ist eine sehr naive, sehr unvermischte Welt. Ich mag es viel lieber, eine Welt zu haben, die das Chaos enthält, den Zufall, nicht nur die gerade Linie.
Was haben Sie in dieser Hinsicht bei Ihren Studenten beobachtet? Lehren Sie noch?
Nein, jetzt nicht mehr regelmäßig. Ich habe beim Festival Musica in Straßburg meine eigene Kompositionsakademie. Und da kann ich mir die Studenten selbst aussuchen. Die Studierenden wissen ja, wer ich bin, und wer gerne neoklassisch arbeitet, geht zu jemand anderem. Ich suche nach unterschiedlichen Ansätzen, manche sind experimentell veranlagt, andere sehr strukturiert, aber jemand, der Sonaten in B-Dur komponiert, interessiert mich nicht.
Woher kommen die Leute?
In Frankreich studieren viele Südamerikaner, aber kein einziger aus Deutschland, ich habe keine Ahnung, warum. Viele Franzosen gehen nach Berlin, nach Darmstadt, nach Donaueschingen. Auch wenn es diese national geprägten Schulen nicht mehr gibt, es gibt so charakteristische Unterschiede! Südamerikanische Komponist/innen sind fast immer an Virtuosität interessiert. Die spanischen sind sehr karg, ernst, bei weitem nicht so redselig wie die Italiener:innen zum Beispiel. Musik von Japanern oder Chinesinnen ist immer so gut geschrieben! Das kann ich an der Partitur erkennen, habe ich jedesmal geschafft. ¶