Wie eine Alien-Parade muss Otto und Frieda Normalbayreuther dieser allsommerliche Aufmarsch der Wagnerfreunde erscheinen, 150 Jahre nach der zufälligen Erstlandung des Meisterraumschiffs im fränkischen Städtchen. Aber man integriert das Fremde! Im Frühstückszimmer meiner Pension, die zur Festspielsaison die Preise verdoppelt, prangt ein Druck der jungwagnerschen Dirigiersilhouette harmonisch neben drei kapitalen Hirschgeweihen. Und mit etwas Mühe findet die extraterrestrische Lebensform auch spätabends nach Meistersingerschluss irgendwo noch Nahrung (und sei es bei »Memo’s Berlin Döner«, wenn man nicht im Gasthof Wolffenzacher reserviert hat).

Doch die Zeiten sind hart für die Festivalstadt. Alle Wagner-Opern in drei Wochen, wirbt das hinterlistige Leipzig direkt am Bahnhof der Hirsch-und-Wagner-Kapitale, wo es heuer »nur« vier der zehn kanonisierten Werke gibt: Holländer, Tannhäuser, Meistersinger und Walküre. Dass Leipzig am ICE-Netz hängt, während Bayreuth nur Bummelregio hat, braucht man gar nicht erst zu erwähnen. Vor zwei Jahren traf ich allerdings einen betagten britischen Wagnerianer, der jeden Sommer mit der Eisenbahn von Birmingham erst an den Bodensee und dann via Bayreuth nach Venedig fährt. Dieses alte Europa, das sich in gemächlicherem und irgendwie doch kultivierterem Tempo bewegt als die Jungen und Mittleren, das gibt es noch. Ob der Birminghamer dieses Jahr wieder da ist, nachdem das Festival 2020 wegen Pandemie ganz ausfiel? Getroffen habe ich ihn nicht, wie überhaupt und leicht erklärlich kaum außerdeutsches Publikum da ist. Es war auch noch nie so leicht wie 2021, Bayreuthkarten zu ergattern – und das, obwohl nur die Hälfte der Tickets verkauft wird, da man im einigermaßen luftigen Schachbrettmuster sitzt. Was unbekannte Beinfreiheit gönnt.

Aber die Frage schwelt: Ist Wagner in Bayreuth überhaupt noch etwas Einzigartiges? Oder nur eins von vielen?

The Thread of Fate (Schicksalsfaden) • Installation von Chiharu Shiota • Foto © Bayreuther Festspiele / Sunhi Mang / Chiharu Shiota / VG Bildkunst, Bonn

Der schwerste gesamtkunstwerkliche Corona-Schaden war gewiss der Ausfall der neuen Ring des Nibelungen-Inszenierung, die letztes Jahr das Dämmerlicht der Wagnerwelt hätte erblicken sollen. Die Chose wurde auf 2022 verschoben, aber ganz ringlos bleibt auch dieser Sommer nicht. Denn die Tetralogie (oder Trilogie mit Vorabend) ist in kurioser, doch reizvoller Schrumpfform da: mit einer Rheingold-Variante als frisch getondichteter Teich-Operette, dem Siegfried als virtuellem, freilich eher mittel-interaktivem Drachenkampf-Spiel in der abendlichen Opernpause und der Götterdämmerung als großer roter Fadenskulptur The Thread of Fate von Chiharu Shiota am Fuß des grünen Hügels. Die Hauptattraktion ist freilich die konzertant aufgeführte »richtige« Walküre, vor dem Hintergrund einer beinah nostalgischen und zugleich altmeisterlich abstrakten Klecks-und-Schmodder-Orgie des legendären Malmystizisten Hermann Nitsch.

Mehr als ein Wort verdient aber auch die Teichoperette: das Auftragswerk Immer noch Loge von Gordon Kampe, das am Vormittag der Walküre open air aufgeführt wird. Ein siebenköpfiges Kammerorchester sitzt im Pavillon jenseits des Parktümpels, über den schon vor Stückbeginn aus seitlichen Lautsprechern ein flächiger Ur-Es-Klang tönt, ein bissl wie singende Säge oder Glasharmonika, halb Sphärenklang, halb Sendeschluss. Über dem Zaun, der das Aufführungsgelände umgibt, schwebt einmal das Dach eines Bayreuther Müllautos vorbei, das wirkt hier wie ein Post-Götterdämmerungs-Tool. Und eben darum geht es bei Kampe und seinem Librettisten Paulus Hochgatterer: die Ring-Welt nach dem Untergang. Im aparten Riesenpuppenspiel existieren noch die tatterplappernde Rollstuhl-Erda, die herumplantschenden Rheintöchter (Vampirnixen aus From Dusk Till Dawn gleichend) und Erzschelm Loge, dem eine Forelle in den Mund gestopft wurde und der hier vor Gericht gestellt wird. Und zwar in textklarem Gesang statt etwelcher überhöhender Phonem-Zerraspelung. Instrumental ist das von mitziehendem musikalischem Drive: perkussiv-nervöser Stillstand, manchmal auch kurtweillesk vorwärts, mitsamt elegischen Abschnitten und ariosen Passagen zu Trompetenbegleitung im ¾-Takt. Es spricht für die Intelligenz des Komponisten Kampe (und seines Librettisten), dass auf Wagners mythische Parameter ebenso verzichtet wird wie auf Leitmotivzitate oder Mischklangnachbildungen. Nur im Schlussviertel der Verhandlung sind in einigen Zeilen der Dialogduktus des Rheingolds und das Walhallmotiv vernehmbar, auch ein recht erratischer Liebestod-Schluss; aber in erster Linie zieht Kampe vernünftigerweise sein eigenes Ding durch.

Rheintöchter (Puppenspieler: Clara Rybaczek, Stephan Q. Eberhard), Erda (Stephanie Houtzeel / Puppenspieler: Nikolaus Habjan), Loge (Günther Haumer) • Diskurs Bayreuth — Ring 20.21 – Immer noch Loge • Komponist und Musikalische Leitung: Gordon Kampe • Libretto: Paulus Hochgatterer • Inszenierung: Nikolaus Habjan • Bühne und Kostüm: Julius Semmelmann • © Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath

Wobei es inhaltlich vielleicht interessanter wäre, statt dem hinterverantwortlichen Loge den Hauptverantwortlichen Wotan vor Gericht zu stellen. Aber der ist ja tot, oder was auch immer. Ist das nicht übrigens ein bisschen wie in der vordergründig kritischen Wagnerbiographik der letzten Jahrzehnte, wo man den Obergott Richard indirekt entlastet, indem man – selbst arglistig – die arglistige Frau Cosima für alle Entgleisungen des Wagnerkults verantwortlich macht?

Jedenfalls ist auch der »großen« Walküre am Abend ihr Wotan abhanden gekommen. Denn Günther Groissböck, dessen Debüt in dieser Rolle mit Spannung erwartet wurde, sagte sehr kurzfristig ab, erst nach der Generalprobe. Kein Wunder, dass die Bayreuther Gerüchteküche blubbert. Eingesprungen ist Tomasz Konieczny, dessen bretternder Telramund im Lohengrin vor drei Jahren mir in unguter Erinnerung ist, der mich aber nun ausgesprochen positiv überrascht. Das Knödeln in der Tiefe ist zwar immer noch kein Hörvergnügen, aber in der reichlich geforderten Wotanshöhe ist Konieczny ganz herrlich. Und sein erst röhrendes, dann röchelndes Das Ende, das Ende ist der blanke Hammer.

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Auch in anderen Hauptrollen treten charakteristische Sänger auf, an denen sich die Geister scheiden, die aber in sich schlüssige und runde Leistungen zeigen: Irène Theorin mit ihrem stets doppelgewobbelten Vibrato als Brünnhilde hat ebenso Verehrer und Verschmäher wie der Siegmund von Klaus Florian Vogt mit gereiftem Tenor, der dennoch seine singuläre Helligkeit bewahrt. Rundum überzeugend sind Lise Davidsen als kraftvolle wie herzzerreißende Sieglinde und Dmitry Belosselskiy als markerschütternder Hunding, und Christa Mayer ist eine differenzierte, gleichwohl autoritäre Fricka, der auch der Götterchef besser nicht widerspricht.

Der Orchesterklang unter dem Dirigenten Pietari Inkinen, der dieses Jahr bereits den ganzen Ring fürs nächste Jahr geprobt hat, ist von ausnehmender Schönheit, man möchte fast sagen: Friedfertigkeit. Selbst das Unmutsmotiv klingt nicht harsch, sondern nach tiefmelancholischer Weichheit. Wundersam bis bedächtig schichtet Inkinen Klänge, ich höre ihm gern zu. Doch es gibt natürlich eine Kehrseite, allzu brave Walkürengewitter, und wie es zwei Besucher beim Hinausgehen sagen:

»Irgendwie fehlte so ein bisschen Schmalz.«

»Ja, und Schmelz, der hat auch gefehlt.«

Kein Wunder, dass einige Aggro-Wagneristen am Ende lautstark ihren Unmut gegen das Dirigat kundtun. Wobei manchen internationalen Streamkiekern das notorische Bayreuther Gebuhe längst auf den Zeiger geht: Maybe they could start splicing in normal applause on Bayreuth audio streams so we don’t have to hear the weird aggressive booing every single time?, ist auf Twitter zu lesen. Geradezu empörend jedoch ist das Schmähgröhlen gegen den 83jährigen Hermann Nitsch, der für die »Malaktion« auf der Bühne verantwortlich zeichnet – ein (je nach Geschmack) meditatives oder einlullendes Geschehen auf bühnenfüllenden Leinwänden, in der Ebene werden die Farben elegant verschüttet, aus der Höhe geduldig rinnengelassen. Von Nitschs wüsten Zeiten kaum mehr eine Spur, nur eine gepflegte Frauenkreuzigung mal, aber nix mit Gedärme-Zermantschen und schon gar keine Live-Schlachtung eines Ochsen oder dergleichen. Das Geräusch der ausschwappenden Farbeimer nervt allerdings pestilenziös, wie eine Handtasche mit permanent auf- und zugehendem Klettverschluss; doch in der Todesverkündigung, wo dann von oben weiße Farbe herabrinnt, erreicht das Dauerplatschen den Level hypnotischer Erhabenheit. Sicher kann man das ganze Farbeimerspektakel zur Walküre für die Katz finden, aber diese Kritik richtete sich dann gegen die einladenden Bayreuther Festspiele. Jedoch Hermann Nitsch dafür auszubuhen, dass er Hermann Nitsch ist: Das ist obszön.

Den Wotan Konieczny aber liebt man spätestens jetzt, wie er da den gebrechlichen, auf eine Krücke gestützten Nitsch fürsorglich unter den Arm fasst und rein und raus begleitet.

Klaus Florian Vogt (Siegmund), Lise Davidsen (Sieglinde) • Die Walküre • Musikalische Leitung: Pietari Inkinen • Malaktion: Hermann Nitsch • Foto © Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath

Dass die Fama über die Ursachen der Wotan-Absage brodelt, liegt auch an Günther Groissböcks Irr- und Wirrwegen der letzten anderthalb Jahre, in denen er zwar vorzüglich Wotans Abschied aufführte, aber vor allem mit unermüdlichen Corona-Schwurbeleien in den sozialen Medien auffiel (und mit »Schwurbel« ist ausdrücklich nicht sachliche Kritik an dieser oder jener politischen Entscheidung in der Pandemiebekämpfung gemeint, sondern smileysprühende Fundamentalignoranz). Kam es hier etwa zum Clash wegen des einigermaßen strengen Bayreuther Hygieneplans oder aus politischen Gründen? Besucher der Walküre-Generalprobe winken ab und berichten, der Grund der Absage sei keineswegs vorgeschoben gewesen: Dieser Wotan konnte seine Rolle noch nicht richtig. Was bei einem Sänger solchen Kalibers, so kurz vor der Premiere, schon ein schmachvolles Ding ist. Halb ging er selbst, halb wurde er gegangen, so ist zu vernehmen.

Dennoch hat die Sache mit dem phantastischen Sänger und übrigens ungeheuer sympathisch wirkenden Menschen Groissböck (dem man von Herzen wünscht, er möge sich nicht noch weiter ins Abseits querdenken) etwas Beklemmendes. Und vielleicht auch etwas Exemplarisches für unsere Zeit. Eine andere, noch tragischere Bayreuther Affäre, die kaum Aufsehen erregte, scheint ein wenig verwandt. Sie ereignete sich in jener Drumherum-Kleinindustrie der Festspiele, die einem im Stadtbild überall begegnet: Wagners Werke wirklich verstehen, bietet ein Einführer auf der Litfaßsäule an, ein anderer Antworten auf Wagner. Der bekannteste Wagner-Erklärer vor Ort war wohl der Pianist Stefan Mickisch, der im vergangenen Februar starb. Kurz zuvor hatte er selbst treue Fans durch maßlose Tiraden gegen den »Coronafaschismus« vor den Kopf gestoßen und sich auf Facebook mit Sophie Scholl verglichen, was ihm ein Hausverbot der Bayreuther Festspiele und des Museums Villa Wahnfried einbrachte. Sein plötzlicher Tod nach dem Bann löste Gerüchte über einen Suizid aus, die aber nicht bestätigt wurden. Dass Mickisch früher unter monatelangen Depressionen litt, derentwegen er auch Konzerte absagen musste, hatte er selbst 2018 öffentlich gemacht. Ob psychische Probleme oder Krankheiten zu seinem Durchdrehen in der Krisenzeit beigetragen haben mögen, bleibt Spekulation.

Nun mag dieser Pianist und Wagnererklärer keine Gestalt von Weltbedeutung gewesen sein. Aber ganz Unrecht hatte Groissböck vielleicht nicht, als er die allzu kurzangebundenen Nachrufe auf einen hochverirrten Hochbegabten kritisierte. So wurde der verlorene Künstler den Aasfressern von rechtsaußen überlassen, die sich jede menschliche Tragödie bedenkenlos einverleiben und den Fall in einschlägigen Achsen- und Einblickblogs ausschlachten. Man kann sich zumindest nachdenklich fragen, ob der Weg verunsicherter Köpfe in die totale Verwirrung nicht auch befördert wird durch die schwarzen Flecken und Schlaglöcher des betretenen Schweigens oder einer reflexhaften Abwehr, die sich selbst genügt.

Andererseits ist es ja verständlich, dass die Bayreuther Festspiele mit ihrer überaus toxischen Historie keinerlei Doppeldeutigkeiten in Sachen Rechtsdrall dulden können. Und ganz allgemein könnte man sich fragen, ob nicht auch zu große, zu lange, zu ausschließliche Wagnernähe Geist und Seele in den Ruin treibt …

Camilla Nylund (Eva), Klaus Florian Vogt (Walther von Stolzing) • Die Meistersinger von Nürnberg • Musikalische Leitung: Philippe Jordan • Inszenierung: Barrie Kosky • Bühne: Rebecca Ringst • Kostüm: Klaus Bruns • Foto © Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath

Es ist ja ein Wunder (oder auch ein Unding), dass die Bayreuther Festspiele ihre totale Kompromittierung in der Nazizeit überlebt haben. Die unverdiente Weiterexistenz nach 1945 wird immerhin seit vielen Jahren durch eine engagierte, spürbar ehrliche Aufarbeitung wenn nicht nachträglich gerechtfertigt, so doch erträglich. Zugleich staunt man im Park auf dem Festspielhügel, dass die Stadt Bayreuth noch in den 1970er und 80er Jahren die Porträtbüsten von Richard und Cosima Wagner ausgerechnet von Arno Breker schaffen ließ. Zu den Seiten des heroischen Wagner-Kopfs, der eher nach 1939 als 1979 aussieht, findet sich eine fest installierte Ausstellung über Verstummte Stimmen: Die Bayreuther Festspiele und die Juden 1876–1945. Dort erfährt man zum Beispiel von der langjährigen Brünnhilde-Sängerin Frida Leider, die 1938 vertrieben wurde, weil sie sich weigerte, ihre »Mischehe« mit ihrem jüdischen Mann Rudolf Deman scheiden zu lassen, oder von der Altistin Ottilie Metzger-Lattermann, die zwischen 1901 und 1912 Rollen wie Erda, Floßhilde oder zweite Norn sang und als ältere Frau in Auschwitz ermordet wurde. Der eliminatorische Antisemitismus aber herrschte in Bayreuth schon unter Wagners Witwe Cosima und dem Dirigenten Felix Mottl, die jüdische Sänger und Musiker vom Hügel fernzuhalten versuchten.

Die eindrucksvollste Bühnen-Auseinandersetzung mit dem abscheulichen Thema ist gewiss Barrie Koskys Inszenierung der Meistersinger von Nürnberg, die in diesem Jahr zum letzten Mal zu erleben ist.  In ihr liegen (scheinbare) rasante Komik und uferloses Grauen nah beieinander. Indem sie Wagner in mehreren Figuren als Person auf die Bühne stellt und Beckmesser im Horrorspiel mit dem jüdischen Wagnerdirigenten Hermann Levi zusammendenkt, räumt sie mit der bequemen Ausflucht auf, man könnte judenhassende Person und künstlerisches Werk einfach trennen. Kosky schreibt:

Beckmesser ist kein Jude. Er ist eine Frankenstein-Kreatur, zusammengeflickt aus allem, was Wagner hasste: Franzosen, Italiener, Kritiker, Juden. Was immer Wagners Abscheu auf sich zog, findet sich in Beckmesser wieder. Seine Haut mag die eines Stadtschreibers aus dem 16. Jahrhundert sein, aber seine Seele und sein Charakter sind mariniert in jedem nur denkbaren antisemitischen Vorurteil, das aus den im mittelalterlichen Europa kursierenden Blutanklagen gegen die Juden hervorgegangen ist: Er ist ein Dieb, er ist gierig, er ist unfähig zu lieben, unfähig, wahre Kunst zu verstehen, er raubt deutsche Frauen, er stiehlt deutsche Kultur, er stiehlt deutsche Musik.

Musikalisch sind diese Meistersinger ein Wunder, mit dem herausragenden Michael Volle als Sachs, aber auch Klaus Florian Vogt als Stolzing oder Daniel Behle als David. Camilla Nylund als Eva höre ich mit eher gemischten Gefühlen, während für den stimmunpässlichen Beckmesser Johannes Martin Kränzle der schnell eingeflogene Bo Skovhus von der Seite singt. Insgesamt ist das alles, auch mit dem sängerfreundlichen wie innigen Dirigat von Philippe Jordan, von meisterlicher Klarheit (selbst wenn ausgerechnet der traumhaft textdeutliche Georg Zeppenfeld als Veit Pogner zwischendurch einen Kompletthänger hat und zum Souffleurskasten eilt).

Das Wunder dieser Meistersinger besteht aber auch darin, dass Kosky den Weg der Inszenierung vom Holterdipolter in der Villa Wahnfried bis in den Gerichtssaal von Nürnberg führt. Das Aufsteigen eines bühnenfüllenden »Judenfratze«-Ballons im Stil des Stürmer am turbulenten Ende des zweiten Aufzugs gehört zu den beklemmendsten Erfahrungen meines Zuschauerlebens überhaupt, auch beim nunmehr dritten Sehen schnürt sich mir alles zusammen. Dass trotz dieser Frontalattacke auf die immanente Bosheit des Werks auch seine betörenden Wunder zu voller Blüte kommen, ist beinah unfassbar und macht Koskys Arbeit so epochal. Wir spüren bei allem Grauen und Genuss exakt, wie Kosky die Meistersinger beschreibt:

Ein Werk voll von atemberaubender, wunderbarer Musik. Voll von herzzerreißenden Momenten der Schönheit und Melancholie. Voll von echten und authentischen Äußerungen des Lebens und der Freude und der Glückseligkeit. Jedoch auch ein unruhiges, beunruhigendes Werk. Es hängt schlicht davon ab, wer man im Stück und wer man im Publikum ist.

Kyle Patrick (szenische Vertretung für Le Gateau Chocolat) • Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg • Musikalische Leitung: Axel Kober • Inszenierung: Tobias Kratzer • Bühne und Kostüm: Rainer Sellmaier • Video: Manuel Braun • Foto © Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath

Koskys Meistersinger gehören zu einer Reihe von starken Regiearbeiten der letzten Jahre. Eine alte Bayreuth-Häsin wie die Kritikerin Eleonore Büning ist voll des Lobes über die jüngere Entwicklung. Habe es vor einigen Jahren noch geheißen: genauso guten oder besseren Wagner als in Bayreuth gebe es vielerorts, könne davon nicht mehr die Rede sein. Das gilt für die sängerischen Besetzungen ebenso wie für die inszenatorische und intellektuelle Auseinandersetzung. (Bayreuth muss vor dem Leipziger Wagner-Allerlei also nicht bange sein.)

Dazu passt es, dass in Bayreuth kaum mehr jenes klassische Müffelwagnerianertum wahrnehmbar ist, das man mittlerweile eher bei Facebook trifft. (Beispiele für Müffelwagnerianertum: Die Meistersinger-Inszenierung sei »zu politisch«, die des Tannhäuser »zu albern«, und beim Fliegenden Holländer sei »kein Schiff«.) Geblieben ist aber eine gewisse sympathische Provinzialität des Publikums. Neben kleinbürgerlichen Wagnerfreunden und kurzbehosten Musikstudenten gibt es immer noch die bizarre fränkische und bajuwarische Lokalprominenz. Und den heuer bloß vereinzelten ausländischen Besuchern wird auf der Suche nach dem richtigen Eingang vom Personal zuvorkommend geholfen: You häff to go where »Garderobe« stands.

Im Saal sitzen die maskierten Wagner-Freunde wie dystopische Insekten, so als saugten sie Gesamtkunstwerk-Nektar durch ihre Schrumpfrüssel. Der blaue Insekten-Lohengrin von Yuval Sharon und Neo Rauch (wohl eine der schwächeren Arbeiten der letzten Jahre) hätte insofern gut in diese Festspiele gepasst, aber er pausiert. Dafür wird der neue Holländer, der bei seiner Premiere vor zehn Tagen großteils durchfiel (meines Erachtens zu Unrecht), weiter arbeiten und seinen Platz behaupten.

Und dann ist da noch der Publikumsliebling, Tobias Kratzers bärige Tannhäuser-Inszenierung von 2019. Bei der Wiederbegegnung ist sie trotz des Fehlens der Dragqueen Le Gateau Chocolat (Vertreter*in Kyle Patrick macht das Beste draus) genauso begeisternd wie im ersten Jahr, höchst unterhaltsam und klug zugleich: An die Stelle des Heilige-Mama-Elisabeth-versus-geile-Hure-Venus-Quarks lässt sie den revolutionären Jungwagner mit der reaktionären Bayreuther Bratwurst ringen. Stephen Gould als Tannhäuser rührt uns dabei noch immer zu Tränen, auch wenn seine Stimme langsam ihren Zenit überschreiten mag. Lise Davidsen, deren holder Morgenstern als Elisabeth 2019 aufging, bleibt sensationell (nur etwas leiser würde ich sie mir manchmal wünschen, denn naturwunderliche Kraft ist nicht der wichtigste der zahlreichen Vorzüge ihrer Stimme), Markus Eiche ein kaum übertreffbar trauriger Wolfram von Eschenbach, Katharina Konradi eine auffällig zauberhafte Hirtin – in München singt sie bereits die Sophie im Rosenkavalier. Als Venus ist die eindrucksvolle Ekaterina Gubanova zu erleben, sängerisch wohl noch stärker als die seinerzeit zur Premiere eingesprungene Elena Zhidkova, die dafür darstellerisch überragend war. Axel Kobers Dirigat ist sachdienlich, ohne freilich große Magie zu entfachen.

Auch der verhinderte Wotan Günther Groissböck ist auf dem Hügel noch zu erleben, im Tannhäuser als Landgraf Hermann, in den Meistersingern als Nachtwächter. Und so unterschiedlich die beiden Regie-Arbeiten von Kratzer und Kosky sind, fällt einem so direkt nacheinander eine Gemeinsamkeit auf: Beim ersten Sehen reißt einen der Drive zumal der (vordergründig) schreiend komischen ersten Akte mit, während die Agonie der dritten Akte zunächst als Problem erscheint, den genialen Entwurf konsequent zum Ende zu bringen. Beim Wiedersehen faszinieren dann die rasanten ersten Akte nach wie vor, obwohl man das Beklemmende mittlerweile deutlicher erfasst – die Erstarrungshölle der Schlussakte aber zieht einen nun derart in ihren Bann, dass man beinah zu atmen vergisst.

Innerwagnerisch hat das diesjährige Festspielprogramm auch dadurch befriedigt, dass es alle Hauptwagners versammelt (denn den großen einen Wagner gibt’s nicht, nur die Mehrzahl): den frühen des Holländers mit regelrechter italianità, die hochromantische Grand opéra des Tannhäuser und die echt wagnerreligiösen Meistersinger und ein Stückl vom Ring. Der, wie gesagt, im nächsten Jahr komplettiert wird, hoffentlich ungestört durch neuerliche Pandemie-Verwerfungen. ¶

… lebt in Berlin, liebt Musik, schreibt Romane: u.a. ›Beethovn‹ (2020). Zuletzt erschien ›Silence‹. ✉️ KonzertgaengerBerlin@gmail.com

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