Er trägt schwere Schuhe mit Spikes, um im Schneematsch vor der Semperoper nicht auszurutschen. Ein Mann von dieser Größe und mit diesem Job darf auf keinen Fall ausrutschen. Stephen Gould ist sehr groß, wie seine Stimme. Die Fachbezeichnung lautet Heldentenor, dramatisches, schweres, deutsches Fach. Er zählt zu den wenigen, die damit international unterwegs sind, auf großen Bühnen von Dresden bis New York: Tannhäuser, Tristan, Siegfried. Und noch weniger sind es, die mit den Texten dieser Wagnerhelden derartig sensibel umgehen wie er. Gould steuert das Café Schinkelwache an, rappelvoll am Dienstagnachmittag, aber ein Tisch ganz hinten ist noch frei.

Foto © Kay Herschelmann
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Kellnerin: Ein Stück Kuchen?

Stephen Gould: Absolut! Man muss das haben! (er lacht mit tiefer, tragender Stimme) Gibt es noch die Waldfruchtbuttermilchtorte?… Okay.


Gould spricht gut Deutsch, aber wir reden auf englisch weiter.


VAN: Hier in Dresden singen Sie Tannhäuser in Peter Konwitschnys Regie, dann folgt in Zürich die Inszenierung von Harry Kupfer. Beide sind…

Gould: …alte Hasen! Die Produktion von Konwitschny läuft hier seit 22 Jahren. Ein bisschen betagt, aber besonders der dritte Akt ist stark. Viele Regisseure haben kleine Teile daraus geklaut. Er zeigt den Verfall einer Gesellschaft, die Leute sind krank, der Tenor sucht nach irgendwas außerhalb seiner selbst. Konwitschny macht sich auch über die kindische Seite der Menschheit lustig. Ich sehe es als Vorläufer seines Hamburger Lohengrin, der in einer Schule spielt. Als ich diesen Lohengrin erstmals sang, war ich skeptisch. Am Ende hielt ich es für eine der besten Inszenierungen. Sie fokussierte wirklich das Infantile.

Haben Sie so etwas wie Ihren eigenen Tannhäuser entwickelt?

Ich glaube ja. Man nimmt von überall etwas mit. Da ist die Frage: Reist er wirklich nach Rom? Wie kann der Papst oder Gott dir vergeben, wenn du es selbst nicht kannst? Die Sünde gibt es nur in dir selbst! Ich glaube, Claus Guth brachte mich darauf. Und ich lernte viel von Robert Carsen. Bei ihm hat Tannhäuser als Maler fast die ganze Zeit damit verbracht, das perfekte Bild der Venus zu malen, ihre Seele, es ging um den Unterschied zwischen fleischlicher und spiritueller Liebe… Und ich liebte die Bayreuther Inszenierung von Philippe Arlaud. Ein fantastisches Ensemble mit großem Zusammenhalt. Wenn man mit solchen Leuten etwas macht – it stays with you. Arlaud interessierte sich auch für jeden im Chor, bis ins Detail. Kupfer soll ja so ähnlich arbeiten. In Zürich habe ich übrigens meinen hundertsten Auftritt in der Rolle!

Und wie entwickelt sich Tannhäuser mit Ihnen?

Ich finde diese Rolle, wie auch Tristan, sehr shakespearisch. Viele berühmte Schauspieler haben den Lear gespielt. Sie alle sagen, wenn du mit der Rolle zwanzig Jahre gelebt hast, verstehst du sie nicht mehr. Mir geht es mit Wagners Partien ebenso, und dennoch: Da ist immer was Neues, wenn du offen bist, und du kannst wagen, was Neues auszuprobieren. Es muss ja nicht immer funktionieren! Wagner sagte, ›schafft Neues‹. Das wird von Regisseuren oft als Rechtfertigung genommen, ein Stück zu biegen, bis es bricht. Er meinte damit, erschaffe das Werk in dir neu, jedes Mal. Er meinte nicht: Nimm mein Werk und lasse es etwas komplett anderes bedeuten als das, was ich beabsichtigt habe! Damit macht man nichts Neues, man zerstört nur Altes.


Das Waldfruchtbuttermilchtortenstück, sehr lange intakt geblieben, ist auf einmal verschwunden. Das Mozartgeklimper aus den Cafélautsprechern und das Geschirrklappern scheinen immer lauter zu werden, kommen aber gegen Stephen Goulds tragende Stimme nicht an.


Wie sind Sie überhaupt zu Wagner gekommen?

Wagner hat mich gefunden. Sehr spät! Ich hatte das schwere deutsche Fach nie angestrebt. Aber ich hatte immer vor, Oper zu singen.

Das würde man vom Sohn eines Methodistenpastors aus Virginia nicht unbedingt erwarten…

Mein Vater hatte eine Stimme, die größer war als meine. Meine Mutter war eine gute klassische Pianistin und nahm mich zu meiner ersten Oper mit.

Sie haben dann Gesang in Boston studiert und kamen ins Nachwuchsprogramm der Lyric Opera von Chicago.

Ich versuchte, ein dramatischer Rossini-Tenor zu sein, denn dafür hielten sie mich. Ich konnte das mit Kopfstimme und beinahe Falsett hinkriegen – unglücklicherweise. Ich stellte zu spät fest, dass ich im falschen Fach war. Ich fiel zurück und musste zeitweise lyrischer Bariton werden, aber niemand brauchte einen. Da ging ich dann ins Musical, da konnte ich Geld verdienen. Phantom der Oper, Nebenrollen, acht Jahre lang unterwegs in den größeren Theatern der USA, zwischen sechs Wochen und einem Jahr an einem Ort. Aber dann konnte ich nicht mal im Musical mit falscher Technik weitermachen.

Von jetzt aus gesehen eine geradezu heroische Irrfahrt…

John Fiorito hat sie beendet, ein Gesangslehrer. Er ist der Vater meiner Stimme. Er hatte lange an der MET gesungen. Inzwischen ist er 82 und unterrichtet immer noch! Er sagte, wir können dich zu einem dramatischeren Bariton machen. Aber dann bist du a dime a dozen, man kriegt ein Dutzend für zehn Cent. Oder wir lassen deine Stimme entscheiden, wo es hingeht.

Und da wartete Wagner?

Er war immer so. Er fand die Sänger, die seine Musik machen können. Ich musste mir vieles abgewöhnen, um Heldentenor zu werden, und konnte weder auf die alte noch auf die neue Art singen. Ich nahm einen Job im Büro bei der New Yorker Telecom und war drei Tage pro Woche beim Coach. Sechs Monate, neun Monate, es wurden drei Jahre daraus. Dann sagt er: ›Such dir in Europa einen Job. Geh an ein deutschsprachiges Haus. In der Praxis lernst du das, was man nicht üben kann.‹


Im Sommer 1999 flog Gould mit 37 Jahren über den Atlantik und sang sechs Wochen lang an kleineren Häusern vor. Außerhalb seiner Partien sprach er kein Wort Deutsch.   


Ich wurde nirgendwo akzeptiert. Es war tatsächlich die letzte Woche, im Juni, die ich zum Vorsingen hatte. Ich hatte ja tausende von Vorstellungen im Phantom gesungen und wollte das nicht mehr. Ich hätte den wirklich guten Job bei der Telecom genommen, wissen Sie? Ich wollte einen Platz im Leben finden. Dann kam das Angebot aus Linz, und das war´s.


Am Landestheater Linz gab es seit 1998 einen jungen, ambitionierten Intendanten. Michael Klügl, 1952 in Offenbach geboren, nahm Stephen Gould fest unter Vertrag. Nach dessen Debüt mit Florestan in Fidelio besetzte er ihn für die Titelpartie des Tannhäuser, den ein unbekannter junger Norweger inszenierte – Stefan Herheim. Unter dessen Regie war Gould der Kracher. Andere Häuser schickten ihre Lauscher nach Linz, der Amerikaner begann zu gastieren.


Doktor Klügl [er ging später von Linz nach Hannover, wo seine Amtszeit mit dieser Spielzeit nach dreizehn Jahren endet] war ein ungewöhnlicher Intendant. Er mag Sänger. Er arrangierte es so, dass ich alle meine Vorstellungen in Linz geben und zugleich an anderen Theatern singen konnte. Es gibt nicht so viele, die verstehen, dass Sänger sich entwickeln müssen. Manchmal darfst du nicht mal die Rollen wählen, die für dich die besten sind.

Fünf Jahre nach dem Vorsingen in Linz haben Sie dann schon in Dresden als Erik in Wagners Holländer und als Tannhäuser in Bayreuth debütiert. Ging es nur noch steil aufwärts?

Nein. Der Bayreuther Ring 2006 war ein Desaster. Ich sang beide Siegfrieds, den im Siegfried und den in der Götterdämmerung. Mir war nicht klar, dass man dafür total die Technik wechseln muss. Im Ring gibt es schrecklich viel Rezitativ mit full voice und mit vollem Orchester. Du musst lernen, den Mittelbereich der Stimme und die passagios etwas heller zu machen, offener, aber vorsichtig, nicht zu offen, sonst zerstörst du deine Stimme. Ich begriff das zu spät. Das hätte ich besser an einem kleineren Haus ausprobieren sollen. Meine Agenten sagten mir viel später, bis dahin seien zwei, drei Anfragen pro Woche gekommen, danach nichts, sechs Monate lang. Hätte ich nicht schon für drei Jahre im voraus genug Arbeit gehabt, wär´s das gewesen.    

Ich habe Sie 2015 in Bayreuth als Tristan gehört und fand, dass Sie die Partie, auch den Text, unglaublich sensibel und klug gestalten.

Danke. Ich werde manchmal kritisiert, weil mein Legato durch die Betonung bestimmter Worte gestört wird oder ich die Farbe in der Linie dafür ändere. I don´t care. Wenn man expressiv ist, auf den Text konzentriert, verzeiht einem Wagner gern kleine Brüche im Legato. Zu Tannhäusers Romerzählung fragte man mich, warum so häßlich? Interessant. Was sagt Wagner hier in der Partitur? ›Mit matter Stimme‹. Und in Wagners Probennotizen wird klar, dass der Gesang die Zerstörtheit dieses Mannes spiegeln soll. Das ist kein Belcanto. Tannhäuser ist bitter, müde, weltmüde, erschöpft, zorning, boshaft, fies manchmal und ja, zynisch. All das auf der Kippe zum Wahnsinn. Das musst du in der Stimme hören, in den vokalen Farben… Ich sag denen, wenn ihr von etwas keine Ahnung habt, spart euch die Kommentare [er lacht abgründig] Das hätte ich vor zehn, fünfzehn Jahren nicht gesagt. Aber ich bin jetzt 57, und in der Heldenwelt habe ich noch fünf Jahre…

Konnten Sie in der Heldenwelt Ihre Phantom-Erfahrungen nutzen?

Das Musical schützte zur richtigen Zeit meine Stimme und gab mir unfassbar viel Bühnenerfahrung. Die ist hilfreich, egal, wo man landet.

Kommen andere Sänger zu früh an die großen Rollen?

[nickt]: Immer mehr. Die Kunstform Oper ändert sich, sie ändert sich schon seit langem und wird cinematischer. Man will jüngere, schönere Sänger. Für hochdramatische Stücke werden Leute gecastet, die … naja. Und selbst bei Mozart hört man heute keine Stimme mehr wie noch vor 20 Jahren. Mindestens indirekte Verstärkung wird an vielen Häusern schon eingesetzt. Der Tag wird kommen, an dem, for the sake of youth, ein Radamès auftritt, fantastisch aussehend, nur einen Lendenschurz tragend, 25 Jahre, Muskeln und alles, mit einem kleinen Mikro am Kopf, der mit der Stimme eines Experten für Alte Musik ›Celeste Aida‹ singt … Fein, aber da liegen nicht die Stärken der Oper.

Lise Davidsen, Ihre Elisabeth im Zürcher Tannhäuser, ist jetzt 32, fing mal an als Barockmezzo und braucht trotzdem bestimmt kein Mikro…

She´s going to be the next act. Wirklich hochdramatisch. Sehr stark, sehr klug, auch im Ausbauen ihrer Stimme. Sie ist dabei, eine der Großen zu werden. Nur, es gibt immer weniger Möglichkeiten, so eine Stimme zu entwickeln. Früher gaben vor allem die deutschen Häuser Sängern exzellenter Qualität eine Sicherheit. Du konntest in Aachen anfangen, dann nach Dortmund gehen, dann vielleicht bereit sein für ein internationales Haus. Oder den größeren Teil der Karriere an nur einem Haus machen. Das ist jetzt anders. Es gibt Sänger, die haben fünfzig verschiedene Rollen gelernt, und wenn ein neuer Intendant kommt, werden sie gefeuert. Die alten sind ja auch teurer! Früher war es nicht unüblich, bis zu dreißig Jahre zu einem Ensemble zu gehören. Wenn man Familie hatte, war das einfacher.

Haben Sie eine Familie?

Nein. Da wäre diese Art von Karriere nicht möglich gewesen. Ich habe einige Verpflichtungen in den USA [er lacht], aber keine, die mit mir reist oder lebt. Ich lebe in Wien und habe ein Haus in Connecticut. In Wien bin ich acht Wochen und in den USA vier Wochen. Der Rest sind Reisen. Jetzt war ich gerade drei Tage in Abu Dhabi, in Frankfurt fiel der Flug wegen Schneesturms aus, im fuhr im Zug nach Dresden, gestern morgen war Probe um zehn.

Das heroische Leben eines Heldentenors…

[mit sehr tiefer Stimme]: That´s the way this business works.


Zum Abschied stehen wir vor dem Café, und Gould, einen Kopf größer als ich, blickt mit seinen hellen, klaren, türkisfarbenen Augen über den Platz vor der Oper, als stünde er ganz woanders vor weitem Horizont. Als sei die ganze Heldenwelt in ihm, die Essenz all dieser großen Typen. Man stelle sich vor, dieser Mann säße an einem Bildschirm der New Yorker Telecom! Unmöglich. Vielleicht, denke ich, sind all diese Rollen, Siegfried, Tristan, Tannhäuser, auch geschrieben worden, damit für solche wie ihn die Welt nicht zu eng wird. ¶


…lebt als Buchautor, Journalist und Musiker in Norddeutschland. Er studierte Viola in Hannover, war Feuilletonredakteur in Hannover und Leipzig und ist seit 1996 selbstständig als Autor u.a. für ZEIT und Deutschlandfunk. Im Rowohlt Verlag erschienen von ihm »Bachs Welt« (2016) und »Der Klang von Paris« (2019). Sein neues Buch »Flammen. Eine europäische Musikerzählung 1900–1918« erscheint im April 2022.

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