Die ohne Zuschauerinnen und Zuschauer stattfindenden Olympischen Sommerspiele in Tokio lassen viel Raum – in den Stadien und für die Ohren. Wir hören, was sich die Protagonistinnen und Protagonisten zurufen: Anfeuerungen, Unzufriedenheiten, Taktikanweisungen. Doch wir vernehmen auch (vereinzelt): klassische Musik! Unser Autor denkt über Klassik im Alltag und bei Olympia nach und analysiert die Musik des olympischen Dressur-Reitwettbewerbs.
»Gefühlt« ist klassische Musik so populär wie nie. Streaming-Dienste bemühen sich um gute E-Musik-Kuratierung, in beliebten Comedy-Podcasts redet man über Beethoven oder Wagner. Jedenfalls fühlt man sich als professioneller oder dilettierender Klassik-Mensch immer noch seltsam mitmenschlich verbunden, bekommt man mit, dass der Essensbringdienstlieferant auf seinem offensichtlich mit kleinen Lautsprechern versehenen Fahrrad laut Schubert hört. Wie schön, wie berührend, dass Klassik nicht nur Obdachlose vertreiben soll…
Am Flughafen belauschen wir zwei Reisende, wie sie die pianistischen Vorzüge Richters gegen die von Horowitz abwägen; jemand an der Biomarkt-Kasse pfeift leise Der Hölle Rache. Und die Taxifahrerinnen und Taxifahrer haben ohnehin häufig einen Klassiksender eingestellt. Sie gehen womöglich davon aus, dass Klassik auf gestresste Reisende »beruhigend« wirkt. Eine merkwürdige Vorannahme.
Im Sport spielt E-Musik nur so lala eine Rolle. Zwar tragen viele Sportlerinnen und Sportler beim Einlauf in die (noch leeren) Stadien weiße Kopfhörer, aber bei der dabei von den Endgeräten abgespielten Musik dürfte es sich wohl eher um neuere und neueste Erzeugnisse aus den Bereichen Hip-Hop und so handeln. Trotzdem ist Klassik bei den Olympischen Spielen in Tokio – wenn schon nicht in den kopfhörerbemuschelten Blumenkohl-Öhrchen der hereinschreitenden Kampfsportlerinnen und Kampfsportler – präsent. Denn allein bei jeder Medaillen-Zeremonie erklingt die Hymne des jeweiligen »siegreichen Landes«!
Und jede Hymne (vom Band) ist mehr oder weniger »klassisch«, zumindest in den Instrumentationen, die wir hören. Nur die russische Hymne: Die wird nicht gespielt. Schon zum dritten Mal hintereinander dürfen russische Sportlerinnen und Sportler nicht unter russischer Flagge starten. Der Grund ist jahrelang staatlich organisiertes Doping. Infolgedessen entschied das International Olympic Committee (IOC), alle Athletinnen und Athleten Russlands unter dem Label »ROC« (»Russian Olympic Committee«) antreten zu lassen. Statt der eingängigen, feierlichen, brünftigen Russland-Hymne erklingen…
…die Anfangstakte von Peter Tschaikowskys erstem Klavierkonzert. Doch wer spielt da eigentlich? (Eine typische Frage von »uns« Klassik-Liebhaberinnen und -Liebhabern. Klassik? Schön und gut. Aber bitte immer mit Angabe der Interpretierenden!) In diesem Falle ist es tatsächlich der Russe Denis Matsuev. Dirigieren tut Mark Gorenstein – und zwar das Staatliche Akademische Sinfonieorchester Russlands. Ganz schön viel »staatliches Russland« also – trotz gestrichener Hymne!
Würde nicht Russland, sondern Großbritannien von den Olympischen Spielen scheinausgeschlossen, so erklänge statt der offiziellen Hymne (God Save the Queen) alternativ Rule Britannia. Sollte es zu einem noch »härteren« Ausschluss der britischen Sportlerinnen und Sportler kommen, so würde immer noch der aus dem Mittelteil von Edward Elgars erstem Stück der Pomp and Circumstance Marches op. 39 extrahierte Gesang Land of Hope and Glory beispringen können. Und hätte der britische Sportverband immer noch nicht genug vom unfairen spritzigen Aufputschen, dann sänge man halt I Vow to Thee, My Country, den textierten Mittelteil von Gustav Holsts Jupiter (The Planets op. 32). Alternativen über Alternativen – aber eben nur für Großbritannien!
Vor einigen Jahren noch kam es vor, dass MIDI-, na, zumindest schlechte Sample-Streicher vor Boxkämpfen eines großen deutschen Promoters für das Abspielen von Hymnen verantwortlich zeichneten. Dazu saßen aber junge, attraktive Frauen mitten im Boxring – und führten ihre Bögen simulativ auf und ab. Sexismus gepaart mit musikalischer (weil geplaybackter) Ekelhaftigkeit. Typisch Sport?
Nein, es geht auch völlig unerotisch! Wer Carl Orffs Carmina Burana und Boxen liebt, der erinnert sich sicher, dass »Gentleman-Boxer« Henry Maske als Einlaufmusik bis 1994 Orffs Eingangschor O Fortuna verwendete. Die Nutzung war aber offenbar vom Management nicht bei den Orff-Rechte-Inhaber:innen angemeldet worden. Folglich gab es Ärger – und O Fortuna wurde durch (das noch schrecklichere) Conquest of Paradise (Vangelis) ersetzt.
Neben eher unguten Sport-E-Musik-Zusammenhängen, wie dem schief gesungenen (»Die Meister! Die Besten! Les grandes équpies! The champions!«) und unmusikalisch geplärrten Champions-League-Chor (adaptiert von Händel…) gibt es durchaus auch positive Beispiele. Bei den Olympischen Winterspielen 1984 in Sarajevo tanzten Jayne Torvill und Christopher Dean (Großbritannien) herrlich zu Maurice Ravels Bolero (und damit zu: Gold). Selbstverständlich wurde nicht der ganze Bolero vertanzt. Denn das häufigste, auffälligste Phänomen von »Klassik im Sport« ist: die Bearbeitung. Klassische Musik wird eingerichtet – und, ist man besonders empfindlich, so würde man sagen: zugerichtet. Je nach Bedarf ist sie Fläche, Rhythmusgeberin, Populär-Melodienlieferantin…
Doch auch personell gibt es im Sport klare Tendenzen zur Klassik. Der inzwischen leider pensionierte Kult-Fußball-Reporter Werner Hansch gab sich in einer Ausgabe der WDR-Sendung Zimmer frei! als Liebhaber der Musik Frédéric Chopins zu erkennen. Und Pferdesprung-Experte und TV-Kommentator Carsten Sostmeier erregt nicht zuletzt dadurch Aufsehen, dass er die Dressur-Übungen bei internationalen Turnieren stets so kommentiert, als spielte ein Streichensemble gleich live im Radio Schönbergs Verklärte Nacht: »Gleich macht sich Showtime groß unter dem Sattel seiner Reiterin. Er zeigt, welche Bewegungsdynamik in ihm vorhanden ist und kann diese gleich mit großer Schubkraft aus der Hinterhand im starken Trab mit so eleganter Freiheit in der Schulter uns wunderbar zelebrieren.«
Der Ersatz-Tschaikowsky für die erfolgreichen Vertreterinnen und Vertreter Russlands erdröhnt während der Medaillen-Zeremonie übrigens nicht in Gänze. Das wäre bei meist mehr als zwanzig Minuten für den ersten Satz viel zu lang – und würde zu Ohnmachtsanfällen bei den geschundenen Heldinnen und Helden auf (beziehungsweise neben) dem »Treppchen« führen. Doch das »Wagnis«, statt der russischen Hymne Tschaikowsky abzuspielen schlägt komplett zurück – in nun wirkliche Geschmacklosigkeit. Denn mit Takt 24 wird das Klavierkonzert abgebrochen – und beginnt noch einmal von vorne! Wieder die »bekannten und beliebten« Wucht-Akkorde des Klaviers. Genau, die aus der Joghurt-Werbung unserer zerrütteten Kindheit. Nach dem zweiten Durchgang endet das Ganze – einfach so, schnell ausgeblendet, kaum nachbearbeitet.
Die Dressurreit-Legende Isabell Werth gewann in Tokio Gold in der Mannschaft und Silber im Einzel. Die Auswahl für die Musik zu einer ihrer Darbietungen muss wohl 2019 getroffen worden sein; ja, sehr wahrscheinlich griffen die künstlerischen Verantwortlichen hierfür auf das Faktum des »Beethoven-Jahres« zurück, denn die Olympischen Spiele sollten ja eigentlich 2020 stattfinden. Und so hören wir auch – in einer von Drumset und Co. ruinierten (?) Pop-Version – bald Rudimente von Beethovens fünfter Symphonie. Doch zunächst vernehmen wir (in der Zusammenfassung von Minute 02:10 bis 02:30) Teile von O mio babbino caro aus Puccinis Gianni Schicchi – im Verbund mit pathetischem Drumset-Support. Ab Minute 02:57 erkennen wir Splitter aus dem ersten Satz von Beethovens Klaviersonate cis-Moll op. 27/2. (Sostmeier: »Leichte Taktfehler da im Übergang!«). Mit schwerwiegendem E-Bass-Geplumpe auf die »Eins«. Am Ende stehen ein paar John-Williams-Glöckchen, die diverse Beethoven-Verehrer:innen sicherlich schmerzen dürften.
Anschließend dreht man sich wieder um »Beethovens Fünfte«. (Sostmeier: »Jetzt kommt so langsam das Lächeln, weil sie weiß: Das ist schon Spitzenklasse, was hier geboten wird. Auch sie nur mit einer Hand auf die Richter zu… Auf die Richterinnen. Jawoll! Und die Faust, die wir von ihr kennen. Das wird ein enges Höschen. Entschuldigung.«)
Die Kür von Einzel- und Mannschafts-Gold-Medaillen-Gewinnerin Jessica von Bredow-Werndl beginnt gar nicht mit einem musikalischen »Startschuss«, sondern gleich mit den verpoppten Takten 18 ff. von Giuseppe Verdis Preludio zur Oper La Traviata. Weiter geht es nach ein paar ähnlichen – durch Kastagnetten bereicherten – Verdi-Momenten und kurzen Tango-Eintrübungen mit thematischen Überblendungen. »Die Reiterin sitzt wie gemalt auf ihrer Stute«, so Kommentator Sostmeier mit sanft säuselnder Stimme. Und immer wieder »blühen« die Vorschlagsnoten der Traviata-Ouvertüre heraus; fast ein bisschen nervig. Klar, so eine Musik ist nicht dazu da, »Klassik-Fans« zufriedenzustellen…
Nun enden die Verdi-Teile erst einmal – und recht knallig steht plötzlich Edvard Griegs Morgenstimmung aus dessen erster Peer-Gynt-Suite op. 46 im Raum. Doch da schnarren auch wieder die Kastagnetten! Eine elegische Melodie in e-Moll wird dazwischengeschoben. Eine mir unbekannte Tonfolge. Stammt sie etwa von Markus Hinzke, dem Music Director bei den Olympischen Spielen, auf den mich Carsten Sostmeier per Mail hinweist?
Wieder blendet ein bisschen Verdi zur Überleitung hinterdrein. Und eine weitere bekannte Melodie aus La Traviata umschäumt uns anlässlich hippologischer Weltklasse-Darbietungen: das Trinklied (Libiamo, ne’ lieti calici) aus dem ersten Akt. Endlich mal ein Quasi-Zusammenhang: zwei Teile aus nur einer einzigen Oper! Wäre es nicht großartig, würde die Musik zu den – in der Tat sehr ästhetischen – Darbietungen im Dressurreiten mehr »Linie«, mehr einheitliche Erzählung wagen? ¶