Harry Vogt kommt mit dem Fahrrad, kurz vor Konzertbeginn. Er überquert die vielbefahrene Einfallstraße, an der Stadtbibliothek und Museum liegen, und kommt, wie durch ein Wunder, heil drüben an. Vielmehr, recte: die Ausfallstraße. So sollten in einer Ruhrpottstadt wie dieser, die nahtlos in die nächste übergeht, die mehrspurigen Schneisen, von denen sie durchzogen ist, unbedingt genannt werden. Denn wen immer man hier antrifft, stets hat man den Eindruck, er will nur raus und weg. Ausgenommen davon sind die Pilgerinnen und Pilger aus aller Welt, die Ende April, Anfang Mai eintreffen. Dann verwandelt sich Witten in eine Festspielstadt, zumindest partiell, rund um den sogenannten »Saalbau«, der zwar äußerlich eine architektonische Schande ist, innerlich aber, akustisch, fast ein Juwel. 

Witten an der Ruhr ist bekanntlich das Donaueschingen des Nordwestens der Republik. Vogt ist verantwortlich für die Neue Musik beim WDR. Als einer der letzten fest angestellten Redakteure für dieses Ressort innerhalb der ARD hat er für die Wittener Tage für neue Kammermusik seit 1990 schon mehr als tausend Uraufführungen in Auftrag gegeben und durchgeführt, daneben ungezählte Erstaufführungen. Viele große Musiker gaben sich hier die Klinke in die Hand, viele inzwischen etablierte Repertoirestücke der Moderne erblickten hier das Licht der Welt. Aber vieles hat sich auch verändert innerhalb der Blase der zeitgenössischen Musik. 

Der Materialbegriff der alten Avantgarde ist dünn, aus den Kämpfern von einst sind bizarr durchsichtige Hagestolze geworden, das Spezialistenpublikum hat sich erweitert und verjüngt. Was auch in Witten Spuren hinterließ. Am Morgen vor dem ersten Konzert gibt Vogt Auskunft darüber, on air, auf WDR 3: Zu Anfang seiner Tätigkeit seien einige der »Hohepriester« noch so »sauer gewesen« über ein von ihm programmiertes Stück, in dem vielleicht »einfaches C-Dur« vorkam, »dass sie mich manchmal nicht mehr gegrüßt haben danach«. Dagegen gebe es heute »eine große Öffnung gegenüber Haltungen verschiedenster Art. Aber auch eine größere Gleichgültigkeit gegenüber dem Einzelnen. Es wird viel weg-applaudiert.« DerModerator hakt besorgt nach: »Vermisst Du den Buhruf?« Vogt weicht aus: »Manchmal wäre es schön, wenn deutlicher reagiert würde. Aber ich bin auch dankbar für die Offenheit.« 

Dieser Ambivalenz trägt das Vogt-Programm auch diesmal wieder Rechnung. Es geht extrem divers, betont grenzenlos zu in Witten. Alles ist möglich: jede Besetzung, alle Stile, Formen, Gattungen. Auch Lieder sind hier unter dem Begriff Kammermusik subsumiert, genau wie Klanginstallationen,  Orchesterkonzerte, Musiktheater. Nach einer langen coronabedingten Durststrecke findet diesmal alles wieder in Echtzeit und live statt, etliches, das ursprünglich für das vorige oder vorvorige Jahr geplant worden war, ist ins Heute vertagt worden, deshalb sind die Konzerte so luxuriös vollgestopft wie selten. Es gibt 35 Uraufführungen und drei Erstaufführungen innerhalb von drei Tagen, darunter erstmalig ein Tanzstück. Für Vogt ist diese 54. Ausgabe der Musiktage zugleich auch die letzte, er wird im August in Rente gehen. Wie es weitergehen soll und ob überhaupt, steht noch in den Sternen. Aber es gibt neuerdings ein schwaches Zeichen der Hoffnung: Am 22.4. wurde Vogts Planstelle endlich öffentlich neu ausgeschrieben, versehen mit mit einer seriösen Arbeitsplatzbeschreibung sowie dem Zusatz: »Frauen bevorzugt«. Könnte ernst gemeint sein.

Und so steht es um die Gender-Quote unter den Kreativen in Witten in dieser Saison: Uraufführungen verteilten sich auf 12 vorwiegend ältere Komponisten und 12 vorwiegend jüngere Komponistinnen. Bei den Klanginstallationen und Performances open air lagen letztere dann nicht nur rein rechnerisch vorn. Das Labyrinth zum Beispiel, welches Peter Ablinger gleich hinterm Eingang zum sogenannten Schwesternpark aufgestellt hatte, wirkt nicht nur billig, die Idee dazu ist auch von vorgestern. Dagegen hatten Andrea Neumann mit Überspringen (einem choreographischen Konzert auf der Spielwiese) und Kirsten Reese mit Heimat:Habitate (einem elektronischen Insekten-, Menschen-, Wind- und Frosch-Konzert am Teich) auf höchst unterschiedliche Weise komplexe Interaktionen und Übergänge zwischen Natur- und Kunstlaut, Geräusch und Musik, Ambiente und Geschichte angepeilt, die exakt auf diesen innerstädtischen Garten zugeschnitten sind. 

Foto © Dana Schmidt

Der Schwesternpark in Witten, anno 1909 entworfen von dem Volksschullehrer Adolf Schluckebier auf einer Schlackenhalde, ist nämlich gartentechnisch die pure Poesie und eine Ruhrpott-Sehenswürdigkeit für sich. Er umfasst auf kleinstem Raum, in sich verschachtelt, vielerlei Landschaften: die Eifel, die Heide, Feld, Wiese, Bach, dunkler Tannenwald, ein Eichenhain. Ursprünglich sollte er den Diakonissenschwestern des benachbarten Krankenhauses zur Erholung und zur Erinnerung an die Heimat dienen. Heute ist der Park jedermann zugänglich, auch mit Öffentlichen (Linie 371) leicht erreichbar, und, dank kundiger Pflege, ein Klein-Arkadien für den individuellen Eskapismus geworden, mitten in der Stadt. Damit aber die Bäume der Idyllen nicht in den Himmel wachsen, hatte Lilian Beidler für die Dauer der Musiktage in den Heideboden, verborgen unter Rindenmulch, eine Unzahl von Lautsprechern versenkt, aus denen die Schwestern uns direkt ansprechen, wenn sie merken, dass wir des Weges kommen: »Hallo! Hallo!« Dann seufzen oder kichern sie, reden in Zungen oder in Rätseln, erzählen von Körperlust und Ausbeutung und von anderen schönen und schlimmen Dingen, die sich seit damals offenbar nicht viel geändert haben. Nur eine trickreiche Installation. Aber doch eine wunderbare Begegnung. Sie machte Spaß und traurig zugleich. Und ist also, möglicherweise, doch so etwas wie Musik.

Foto © Dana Schmidt

Das ist’s, was Konzerte mit zeitgenössischer Musik, ob in Witten oder anderswo, am Ende lohnend macht: Im besten Fall kann ein neues Stück Kunst bewirken, dass man sich hörend verändert oder vielmehr das Hören selbst sich verändert. Das kann manchmal weh tun. Aber Bewegung baut auf, jeder Wandel, jede neue Erkenntnis bringt bekanntlich einen gewissen Lustgewinn. Mit einer Prise Pathos zugespitzt, heißt das: Es reichen drei oder vier starke, neue Stücke aus, um nachhaltig verändert wieder wegfahren zu können aus Witten, ein bisschen glücklicher jedenfalls, als man hingefahren ist.

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Das Stärkste in dieser Saison war ein Gesamtkunstwerk, das unbedingt alsbald anderswo wieder aufgegriffen werden sollte: Ein Tanzstück von Arnulf Herrmann. Er hatte für das Ensemble Modern unfassbar schöne Orchestervariationen komponiert, die er sich erklärtermaßen auch als Instrumentalstück, ohne Tanz, vorstellen könnte. Dem ist entschieden zu widersprechen!

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Herrmanns Hard Boiled Variations bilden einen Zyklus aus fünfzehneinhalb variierten Wiederholungen, der immer wieder neu von vorne ansetzt und sich, Schritt für Schritt, mit jeder Variation immer mehr verdichtet, verkürzt und verändert, bis am Ende nur noch ein einziger Akkord übrig bleibt. Diese Struktur liegt zwar offen zutage, dergestalt, dass man meint, man könne sie hörend mitverfolgen. Man wird aber zugleich von ihr an den Ohren herumgeführt und quasi »betrogen«, von einem Übermaß an Schönheit und Logik. Was eine ungeheure Spannung erzeugt! Wäre kaum auszuhalten, wären da nicht die zwei Tänzerinnen und drei Tänzer der CocoonDance Company von Rafaële Giovanola. Sie winden sich und kriechen aus dem Orchester heraus. Sie verschwinden auch wieder zwischen den Instrumenten, mit ihnen verschmelzend. Sie setzen die haptische Präsenz der Musik und deren Bewegung um ins Sichtbare. Ihre Körpersprache wirkt, als sprächen oder sängen sie. Und umgekehrt könnte es manchmal sein, als tanze das Ensemble Modern, unter der fulminanten Leitung von Elena Schwarz

Insgesamt bestritt diese Dirigentin drei Konzerte in Witten in Folge. Bei jedem ihrer Auftritte hinterließ sie einen herausragenden Eindruck, mustergültig in bezug auf Präzision und Klarheit, umgeben von einer Aura der Eleganz. Schließlich: Witten war und ist immer auch ein Festival der Interpreten. Sie werden hier entdeckt, sie werden hier groß. Das Arditti Quartett gehört inzwischen zu den Veteranen in Witten, es trat diesmal an wie ein Denkmal seiner selbst. Die drei aktuellen Streichquartette, die Irvine Arditti mit seinen Kollegen zur Uraufführung brachte – von Mithatcan Öcal, Nina Šenk und Sven-Ingo Koch – hatten, bei allen individuellen Unterschieden, ein gemeinsames Problem: Sie wirkten angestrengt. Noch immer scheint, wer sich auf diese Gattung einlässt, unterschwellig zu hadern mit deren Nimbus, obgleich der doch längst zerschlagen und zigfach überwunden wurde. Die Gefahr, zumindest in Unfreiheit befangen zu sein, was die seit der klassischen Epoche mit Deutung aufgeladene Streichergestik und die üblichen Spielweisen anbelangt, ist nicht gebannt. Öcal verstärkte die Klopfzeichen des Cellisten Lucas Fels mit einer Pauke, hinter der Bühne, immerhin: kleiner Scherz. Koch beließ es bei drei Sätzen, endend mit einem Nachtstück. Zum Glück gab es zwischendurch ein kraftvoll virtuoses, großrahmig orgelndes Solo für den Akkordeonisten Teodoro Anzellotti, vom Komponisten Hanspeter Kyburz passenderweise: Sisyphe heureux genannt. 

Auch der unverwüstliche Anzellotti war mehrfach im Einsatz, teilweise als Retter. Weitere starke Interpreten: Carolin Widmann, die ein raffiniertes Violinsolo von Hans Abrahamsen aus der Taufe hob; Vanessa Porter, die ein Schlagzeugsolo von Elnaz Seyedi mit Glanz versah; und das Trio Recherche, das, in neuer Besetzung und mit Melise Mellinger an der Spitze, das Stück Habitat von Kristine Tjøgersen uraufführte. Außerdem, ein Höhepunkt der Wittener Musiktage, brachte es das lang erwartete, neuste Stück von Helmut Lachenmann zu Gehör: das Streichtrio Nr. 2, in dem der Komponist wieder zurückgekehrt ist von seinem Ausflug in die Unterwelt der Melodienseligkeit

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Ein letztes starkes Stück wurde exemplarisch vom WDR Sinfonieorchester dargeboten, unter Leitung von Bas Wiegers, im Abschlusskonzert: Ein neuer Orchesterliederzyklus namens Augen von Enno Poppe, komponiert für die Sopranistin Sarah Maria Sun. Poppe ist ein Meister im Erzielen von Effekten. Das kann zur Hascherei werden, jedenfalls in manchen älteren Werken. Hier ist es zunächst wohl die aggressive Kürze der 25 Lieder nach Textfragmenten von Else Lasker-Schüler, die das verhindert. 

Foto © WDR/Claus Langer

Jedes für sich setzt, wie ein Graffiti, eine wuchtige Aussage in die Welt, die mit den verschiedensten Knallfarben koloriert wird: einerseits von Suns Stimmakrobatik, in höchster wie tiefster Lage geprägt von virtuoser Ornamentik. Andererseits von den Orchesterstimmen, die Lied für Lied immer wieder neu und anders mit dieser herzbebenden Stimme fusionieren. Es sind die Lieblingsinstrumente der Wiener Schule darunter, Mandoline und Gitarre, aber auch Harfe, Posaune, Flöte, Glockenspiel, Schlagzeug. Es geht um Zerstörung. Um Verzweiflung, Schmerz, Tod. Um das Unsagbare, was man einander nur antun kann. Nur ein einziges Mal wiederholt Poppe eine Verszeile: »Alles ist tot. Nur du und ich nicht.« Tiefes Kontrabassknurren, ein Bläserchoral stützen diese schwarzen Worte ab, das letzte »t« hallt nach. Niemand kann sich dem entziehen. 

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Ebenfalls im Abschlusskonzert ertönte – fast wünschte man es sich, gerade noch pünktlich für Harry Vogt – der einzige Buh-Ruf heuer in Witten. Es muss ein sehr einsamer Buhrufer gewesen sein. Er traute sich nur einmal und wurde alsbald vom Wohlwollen des Restpublikums »weg-applaudiert«. Sein Unmut galt einem Klavierkonzert der schwedischen Komponistin Malin Bång, das den schönen Namen mareld (zu deutsch: »Meeresleuchten«) trägt. Darin schrappt und rührt die Solistin Rei Nakamura zwanzig Minuten lang mit Holzlöffeln, einem Schneebesen und anderen fraulichen Haushaltsgeräten im offenen Korpus ihres Flügels herum, Klänge erzeugend, die einerseits von Mikrophonen aufgenommen und verstärkt, andererseits vom Orchester beantwortet und verdoppelt werden müssen. Dem wäre nichts weiter vorzuwerfen als, eventuell, eine gewisse Länglichkeit und Redundanz. Weiter nichts. ¶

… lernte Geige und Klavier, studierte Musik-, Literatur- und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin, promovierte über frühe Beethoven-Rezeption. Von 1994 bis 1997 Musikredakteurin der Zeit, von 1997 bis 2018 bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Seither wieder freelance unterwegs. Seit 2011 ist Büning Vorsitzende der Jury des Preises der deutschen Schallplattenkritik.

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