Sarah Maria Sun fällt auf: mit ihren großartigen Interpretationen Neuer Musik und mit ihrem weiten Blick – auf unser Kunstverstehen, unsere Gesellschaft, unseren Planeten, unsere Zukunft. Dass das für klassische Interpret_innen nicht selbstverständlich ist, erkennt zum Beispiel, wer in Berlin durch die Räume der Universität der Künste flaniert. Während die Bildenden Künste und ihre Akteur_innen immer im engen Bezug zum Leben außerhalb der Kunst zu stehen scheinen, sich austauschen, diskutieren, (hochschul-)politisch organisieren, muss man in den Gebäuden der Instrumentalist_innen und Sänger_innen aktiv (und manchmal lange) suchen, bis man die findet, die sich wirklich für die Welt abseits von Proberäumen und Konzertsälen interessieren. Vielleicht ist es ein glücklicher Zufall, dass das 3. Internationale Musikfest Hamburg für Sciarrinos Lohengrin (am 8., 9. und 10. Mai im Kleinen Saal der Elbphilharmonie) und ein Konzert am 26. Mai mit dem Quatuor Diotima und Johannes Fischer, unter anderem mit Schönbergs Streichquartett Nr. 2 mit Sopran und Schnebels Yes, I will, Yes, mit Sarah Maria Sun gerade eine auch in gesellschaftlichen Fragen visionäre Künstlerin an die Elbe holt. Ich nutze diese Gelegenheit, um mit der Sopranistin Utopien nachzuspüren: den naiven, den gefährlichen, den konkreten, den notwendigen. Weil das einiges an Nachdenken erfordert, führten wir das Gespräch per Mail.

VAN: Auf welche Utopie arbeiten Sie hin?

Sarah Maria Sun: Unter anderem posaune ich täglich lautstark in die Welt hinaus, dass ich eine rein pflanzliche Ernährung, bewussten fairen Konsum sowie weltweite regenerative Energieversorgung für äußerst wichtig halte. Mit vielen anderen Menschen teile ich die Utopie, dass in einem künftigen postkapitalistischen Zeitalter alle Individuen, Unternehmen und Nationen so handeln, dass ein Überleben aller Kreaturen auf diesem Planeten möglich wird. Mit totalem Unverständnis betrachte ich dagegen die sogenannten Intellektuellen, die meinen, ein gepflegter deutscher Schrebergarten ohne störende Fremde sei eine erstrebenswerte Utopie.

Künstler wie Stockhausen haben es als ihre Mission verstanden, durch Kunst eine bessere Welt zu erschaffen. Gibt es heute noch Künstlerinnen und Künstler, die mit ihrer Kunst die Welt verändern wollen? Gehören Sie dazu?

Haruki Murakami schrieb in Hard-boiled Wonderland: ›The reason that people sing songs for other people is because they want to have the power to arouse empathy, to break free of the narrow shell of the self and share their pain and joy with others.‹

Der Wunsch, die Welt durch Kunst zu einer besseren zu machen, ist ein wunderbarer. Für ein Kriegskind, wie Stockhausen es war, ein existentieller. Die Annahme, dass Musik Zuhörer_innen tatsächlich zu besseren Menschen macht, finde ich allerdings naiv. Und die, dass Musiker_innen beziehungsweise Künstler_innen per se gute, gar bessere Menschen seien, idiotisch und gefährlich.

Im besten Falle nutzt ein Zuhörer den Akt des Zuhörens, um seine eigene Aufmerksamkeit, seine emotionale und empathische Bandbreite, sein Gedächtnis, sein Assoziationsvermögen, seine dialektische Fähigkeit zu schulen. Darauf habe ich als Interpretin aber nur bedingt Einfluss. Ich arbeite immer daraufhin, dass ich die Stücke so präsentiere, dass den Zuhörer_innen alle Möglichkeiten geboten werden, um das zu tun.

Immerhin schätze ich mich glücklich, einen Beruf auszuüben, der anderen Menschen auf vollkommen friedfertigem Weg neue Dimensionen öffnen kann. Und der ihnen kleine kathartische Momente bescheren kann. Wissen, Recherche, Information und Gefühl können in Musik verdichtet und kanalisiert werden. Musik bildet. Ein wirklich guter Beruf.

Allerdings können auch die größten Arschlöcher großartige Interpret_innen oder Musikliebhaber_innen sein, wie uns die Geschichte wiederholt gezeigt hat.

Kunst macht die Welt nicht zu einem besseren Ort. Eigenverantwortliches Handeln, Mitleid, Güte, Selbstdisziplin und Wachsamkeit jedes einzelnen Menschen tun das vielleicht.

Sarah Maria Sun in Sciarrinos Lohengrin, inszeniert von Michael Sturminger bei den Osterfestspielen Salzburg 2017. Dieselbe Inszenierung wird auch in Hamburg zu sehen sein. • Foto © OFS/Matthias Creutziger
Sarah Maria Sun in Sciarrinos Lohengrin, inszeniert von Michael Sturminger bei den Osterfestspielen Salzburg 2017. Dieselbe Inszenierung wird auch in Hamburg zu sehen sein. • Foto © OFS/Matthias Creutziger

Inwieweit eignet sich besonders Musik, um Utopien zu kommunizieren?

Musik gibt uns in den besten Momenten einen Einblick in unsere eigenen emotionalen und intellektuellen Möglichkeiten und die der Komponistin oder des Komponisten. Leider hinken wir diesen im realen Leben meist weit hinterher. Musik dockt sowohl an unsere Erfahrungen an als auch an uns innewohnende Instinkte für Proportionen, Raum und Zeit, die mit dem Mikrokosmos unseres Körpers und dem Makrokosmos des Universums korrelieren. Das ist viel Mathematik, Logik und Physik. Der Mensch ist auch nur ein Tier und kann sich nicht aus seinem biologischen und kosmischen Zusammenhang reißen, so sehr er das versucht. Musik kann zudem referentiell in einer Anti-Haltung diesen Proportionen und Erfahrungen gegenüberstehen.

Wer der Musik einen utopischen Inhalt zuordnet, meint entweder einen Text, in dem dieser formuliert wird, und der von der Musik untermauert und aufgeladen wird, wie bei Beethoven. Oder man verwechselt die Gefühle von Pathos, Glückseligkeit, Sehnsucht, den Vorgang der zivilisierten Kommunikation, des Diskurses, der Vereinigung vieler Stimmen, die man in einem Musikstück erleben mag, mit einem semantisch ausformulierten Gesellschaftsentwurf.

Womöglich sind die wirklich guten Komponist_innen insofern alle Utopisten insofern, als sie die Welt und die Menschen außerordentlich intelligent reflektieren, eine eigene Vision dazu entwickeln und uns über die Musik neue Gedanken und Räume erschließen.

In der Literatur bildet der ›Utopische Roman‹ eine eigene Gattung, Thomas Morus’ Utopia, Daniel Defoes Robinson Crusoe, oder Dystopien wie Orwells 1984 oder Huxleys Schöne neue Welt. Was wären musikalische Pendants? Oder ist Musik immer schon ›Spiegel des Utopischen‹, wie Ernst Bloch meinte?

Musik wird zu Recht oft als eine abstrakte universelle Sprache bezeichnet. Insofern lässt sich in sie alles Mögliche hineinlesen und -denken, wenn wir den Text außen vor lassen.

Vielleicht stehe ich einfach als Globalisierungs- und Internet-Generation der Idee von großen Gedanken skeptisch gegenüber. Auch in der Musik. Ich bin eine Freundin von Stücken, die sich an kleinen aber wichtigen Ideen abarbeiten. Wie Christian Gerhaher sagte: Wahrhaftigkeit heißt nicht, ›dass man die Wahrheit vermittelt, sondern dass man sie bedingungslos sucht.‹ Bei Mozart, Mahler oder Ligeti sind ja gerade das Scheitern beziehungsweise die Konflikte und Kollisionen interessant – nicht eine übergeordnete Idee.

Meine Generation beschäftigt sich in Film und Belletristik jedenfalls bei weitem mehr mit Dystopien als mit Utopien. Wir sehen das Ende eines intakten Planeten real auf uns zukommen. Es ist im Grunde unmöglich, da noch an Utopien zu glauben. Aber auch, wenn ich nicht daran glaube, dass es gut ausgehen könnte, bemühe ich mich trotzdem, ein ethisch möglichst korrektes Leben zu führen und Schaden und Verletzung zu vermeiden soweit ich kann.

Sarah Maria Sun in Sciarrinos Lohengrin (Osterfestspiele Salzburg 2017) • Foto © OFS/Matthias Creutziger
Sarah Maria Sun in Sciarrinos Lohengrin (Osterfestspiele Salzburg 2017) • Foto © OFS/Matthias Creutziger

Ist es im Musikbetrieb mit all seinen Abhängigkeitsverhältnissen schwer, an Utopien festzuhalten?

In einer Diskussion um perfekte Verhältnisse (zum Beispiel an Opern- und Konzerthäusern, in Stiftungen und Festivals) gibt es keine gemeinsame Utopie, sondern so viele unterschiedliche Wünsche und Vorstellungen, wie es Personen in der Runde gibt. Und die Kompromisse, die man dabei findet, sind (im besten Falle) angereichert mit all diesen unterschiedlichen Blickwinkeln und Bedürfnissen. Das ist etwas Gutes. Der Wahnsinn des Musik- und Theaterbetriebes ist doch gerade das, was Kreativität hervorbringt und zulässt. Es gibt außerhalb des Theaters kaum vergleichbar tolerante, bunte, produktive Arbeitsbereiche.

Menschen, die sich über unseren Kulturbetrieb beschweren, sollten mehr in andere Kontinente reisen und außerdem hin und wieder in andere Berufe hineinschnuppern.

Oder sprechen Sie von der Utopie der Musikerin, die ihre Kunst glückselig und von monetären Sorgen ungetrübt ausübt? Wenn man glückselig durchs Leben taumelt, wird man nicht von der Muse geküsst, weil man der Göttin zu fad ist. Existenzsorgen allerdings sind schrecklich. Frankreich hat ein tolles Beispiel gesetzt mit dem Grundeinkommen für Künstler_innen. Künstler_innen sind ein wichtiger Baustein in unserem Bildungssystem. Die meisten arbeiten sich krumm und schief, beuten sich selber aus mit unzählbaren unbezahlten Überstunden, verausgaben und verschenken sich, oft ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten. Künstler_innen machen sogar lieber unbezahlte Kunst, als gar keine. Sie leben ihre Utopie. An ihnen wird außerdem klar, dass kein Mensch – also auch keine andere Kreatur – austauschbar ist. Wir sollten sie, wenn irgend möglich, der Gesellschaft erhalten.

In Sciarrinos Lohengrin durchlebt die Figur, die Sie spielen, Elsa, traumähnlich eine gescheiterte Beziehung – auch eine Art gescheiterte Utopie. Werden Utopien heute eher im Privaten entworfen – ›Ich-Verwirklichung‹ statt Gesellschaftsentwurf?

Durch den enormen globalen Informationsfluss zieht man sich womöglich aus Überforderung zurück und bastelt eigene kleine Privatutopien, die dann von den Sozialen Netzwerken gesammelt werden? Ja, das ist eine Lesart. Aber andererseits haben letztere sich herausgebildet zu dem, was Brecht mal einforderte mit dem ›Kommunikationsapparat‹, der nicht nur wie ein Radio aussenden, sondern auch empfangen und ›den Hörer als Lieferanten organisieren müsse‹. Durch den Informationsaustausch werden auch gemeinsame Utopien unter Netzgemeinschaften gebildet.

Elsa im Lohengrin hat mit Utopien nichts am Hut. Das ist gerade das Gute an der Wagner-Parodie von Laforgue, die Sciarrino als Textgrundlage benutzt hat. Sie hadert damit, dass ihre Instinkte und die Erwartung der Gesellschaft nicht übereinstimmen. Und die Gesellschaft zerstört sie letzten Endes, indem sie ihr die neugierigen, weiblichen, wahrnehmenden Augen ausbrennt.  

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Auch die Figur der Molly reflektiert im Monolog Yes, I Will, Yes von Dieter Schnebel auf einen Text aus dem Roman Ulysses von James Joyce ihre Beziehung – gibt es für Sie dabei auch utopische Momente? Und: Stellen wir uns die Utopien von Frauen immer noch als private Utopien vor? Sind gesellschaftliche Utopien immer noch ›Männersache‹?

In Joyce’s Text sagt Molly an einer Stelle: ›jedenfalls wär es viel besser für die Welt wenn sie von den Frauen regiert würde von Frauen hat man noch nie gesehn dass sie sich gegenseitig umbringen und schlachten wann hat man überhaupt mal gesehen dass Frauen sich besoffen rumtreiben wie die das machen oder dass sie den letzten Penny den sie haben im Spiel riskieren und bei Pferdewetten verlieren ja weil nämlich eine Frau egal was sie macht weil die weiß wann sie aufhören muss‹. Diese Hypothese ist allerdings von vorn und hinten umrahmt mit Mollys exzessiven sexuellen Fantasien, Erinnerungen an ausschweifende Amüsements und so weiter. Joyce beschreibt damit en passant eines der größten menschlichen Probleme: dass die Erkenntnis den eigenen Begierden und an-sozialisierten Strukturen voraus ist.

Aber weibliche Emanzipation speziell in Deutschland ist, um Bloch aufzugreifen, eine konkrete Utopie. Sie liegt in greifbarer Nähe. Und wenn Frauen und Männer es schaffen, an einem Strang zu ziehen, füreinander einzustehen und Frauen mehr in führende wirtschaftliche und politische Positionen rücken, wird eine Utopie womöglich zur Wirklichkeit. Ich persönlich spüre an diesem Punkt in meinem Leben eine gesellschaftliche Ungerechtigkeit nur noch im Gagen-Gefälle. Ansonsten fühle ich mich heute in diesem Land als freier Mensch. Das war aber nicht immer so, sondern ich habe es mir erkämpft. 40% aller Frauen in Deutschland erleben sexuelle Belästigung und/oder Gewalt, ich gehörte selbst dazu. Es ist glasklar, dass hierzulande immer noch viele patriarchalische Strukturen dominieren. Darum ist zum Beispiel auch Altersarmut hauptsächlich weiblich. Bei uns gibt es zudem eine der größten Raten Europas an Zwangsprostituierten und Flatrate-Puffs, in denen Frauen und auch Kinder wie Sklaven ausgebeutet werden. Dieser Menschenhandel wird hauptsächlich von männlichen Parteimitgliedern politisch unterstützt. Es ist ein Milliardengeschäft. #metoo ist also in meinen Augen eine sehr wichtige Debatte. Es gibt in Deutschland und im Rest der Welt reichlich zu tun. Da mein Beruf momentan meine gesamte Zeit verschlingt, unterstütze ich wenigstens verbal und finanziell diverse Vereine, die für Aufklärung und Gleichberechtigung kämpfen: womenforwomen, das Autonome Frauenhaus Stuttgart, Medica Mondiale, Tostan … Das Buch ›Die Hälfte des Himmels‹ ist sehr lesenswert zu diesem Thema.

Meine persönliche gesellschaftliche Utopie ist, dass alle Männer dieser Welt uns nicht nur zuhören und verständnisvoll mit dem Kopf nicken, wenn wir die Fakten auf den Tisch legen, sondern dass sie erstens lernen, mit ihren Hormonen besser klarzukommen, und sich zweitens emanzipieren und untereinander sozialen Druck aufbauen, wenn jemand sich vergreift, sich verbal anstößig verhält oder Schlimmeres anstellt.

Meine musiktheatralische Utopie ist die, dass es auf den Bühnen Protagonistinnen gibt, die intelligente, witzige, komplexe, starke ›Macherinnen‹ sind. Die Musikgeschichte und auch das zeitgenössische Musiktheater sind dominiert von folgenden sechs Frauen-Klischees: Heilige, Hure / Verführerin, Liebende (die den männlichen Protagonisten illuminiert), Mutter, arme Irre, Hexe. Viele Partien vereinen gleich mehrere dieser Klischees in sich. Film und Tanz sind unserem Genre da inzwischen weit voraus. Ich hoffe, dass ich noch erleben werde, komplexe, interessante Frauenfiguren zu spielen und Kolleginnen damit auf der Bühne zu sehen. ¶

... machte in Köln eine Ausbildung zur Tontechnikerin und arbeitete unter anderem für WDR3 und die Sendung mit der Maus. Es folgten ein Schulmusik- und Geschichtsstudium in Berlin und Bukarest. Heute lehrt sie Musikwissenschaft an der Universität der Künste Berlin und ist Redakteurin bei VAN. merle@van-verlag.com