Das Musikjahr 1860 war nicht eben gerade arm an Ereignissen: Am 7. Mai brachte man am Donizettis Rita ou Le mari battu (1841) zur späten (für den Komponisten posthumen) Uraufführung an der Opéra-Comique in Paris. Jacques Offenbach wurde für seine Operetten dort gefeiert – und Franz von Suppé läutete die »Goldene Operetten-Ära« in Wien ein. Am 9. April gelang zudem die erste Tonaufzeichnung weltweit: Mit Édouard-Léon Scott de Martinvilles Phonautographen nahm man das Kinderlied Au clair de la lune auf. Eine Sensation. Außerdem wurden Hugo Wolf (13. März), Isaac Albéniz (29. Mai), Gustav Mahler (7. Juli) und Ignacy Paderewski (18. November) geboren. Die Komponistinnen Laura Valborg Aulin (9. Januar) und Mary Wurm (18. Mai) finden freilich weit weniger Erwähnung, wenn es um das Jahr 1860 geht.

Heute vor genau 161 Jahren (am 18. Mai 1860) kam also Mary Wurm zur Welt. Ihr Name klingt eher nach deutschen Herkünften, doch geboren wurde Wurm in Southampton. Bis heute ist die südenglische Hafenstadt Ausgangspunkt für circa 200 Kreuzfahrtschiffe pro Jahr. 1912 war Southampton auch Heimathafen der Titanic. Mary hatte neun Geschwister (von denen drei Schwestern ebenfalls Pianistinnen wurden). Der aus Deutschland stammende Vater Johann Evangelist Wurm arbeitete als Musikpädagoge und Organist. Seine Frau Sophie (geb. Niggli) war ebenfalls Musikpädagogin. Ihr Geburtsname klingt schweizerisch – und familiäre Ursprünge scheinen tatsächlich nach Niederbuchsiten im Kanton Solothurn zu führen.

Mary Wurm wurde von 1869 bis 1877 am Konservatorium in Stuttgart im Fach Klavier von Ludwig Stark (1831–1884) und Dionys Pruckner (1834–1896) unterrichtet. 1880 bis 1882 wurde sie Klavierschülerin der großen Clara Schumann am Hoch’schen Konservatorium in Frankfurt am Main. Aus dieser Zeit finden sich die Nachweise von Briefen zwischen Wurm und Schumann. Ulrike Keil und Markus Gärtner schreiben: »Mary Wurms Verhältnis zu Clara Schumann, welche sie später auch mit Johannes Brahms bekannt machte, gestaltete sich zunächst problematisch. Die Lehrerin war weder mit Handhaltung noch Interpretation ihrer neuen Schülerin zufrieden.« Keil und Gärtner erwähnen in diesem Kontext auch Wurms Kontakt zum Pianisten und Komponisten Anton Rubinstein (1829–1894), der sich noch 1891 zu der folgenden (hier zitierten) Aussage hinreißen ließ: »Die Ueberhandnahme der Frauen in der Musikkunst, sowohl im instrumentalen Ausüben wie auch in der Composition […], datiert seit der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts – ich halte diese Ueberhandnahme auch mit für ein Zeichen des Verfalles unserer Kunst.« Keil und Gärtner vermuten, das Verhältnis Schumanns zu Wurm sei wegen Mary Wurms Kontakt zu Rubinstein getrübt gewesen. War Clara Schumann eifersüchtig auf »Konkurrent« Rubinstein? Mary Wurm jedenfalls kehrte bald geläutert zu Lehrerin Schumann zurück – und bestand bei ihr 1882 die entsprechenden Prüfungen. Zwei Jahre später konzertierten die beiden sogar gemeinsam.

In Frankfurt am Main waren auch Engelbert Humperdinck und Joachim Raff Wurms Lehrer. 1882 erhielt Wurm ein Stipendium – und ging 1886 nach Leipzig, um bei Carl Reinecke weiter zu studieren. Als Pianistin feierte sie Erfolge, sowohl als Solistin und Kammermusikerin als auch als Liedbegleiterin. 1895 erregte Wurm, wie Keil und Gärtner beschreibt, Aufsehen, weil sie ein Klavierrecital ausschließlich aus Improvisationen darbot. »Die Themen, auf deren Grundlage sie extemporierte, wurden ihr erst am Beginn der Veranstaltung in einem versiegelten Umschlag überreicht«, so Keil und Gärtner. »Mary Wurm verarbeitete diese in verschiedenen vorgegebenen Formen, von der Fuge über die Suite bis zur viersätzigen Sonate.«

1896 erkrankte Mary Wurm an Tuberkulose und musste ihre pianistischen Tätigkeiten einschränken, dafür komponierte sie jetzt wieder mehr – und gründete 1898 in Berlin als Dirigentin ein Frauenorchester, das auch für einige Konzerte im deutschsprachigen Bereich engagiert wurde (bis es pleite ging). In der Weimarer Republik schließlich machte Wurm dann und wann noch als Improvisationspianistin auf sich aufmerksam, schrieb außerdem Essays und ein (allerdings unveröffentlicht gebliebenes) Komponistinnen-Lexikon.

Mary Wurm starb am 21. Januar 1938 in München. Sie wurde 77 Jahre alt.


Mary Wurm (1860–1938)
Gedenken op. 25 No. 3 (1892)

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Wurm legte über 100 Kompositionen vor, darunter Vokal- und Kammermusik, zwei Streichquartette, Violinsonaten, eine Cellosonate sowie zahlreiche Klavierstücke. 1916/17 entstand Mary Wurms einzige Oper Die Mitschuldigen, die offenbar weder ur- noch sonst irgendwie jemals aufgeführt wurde. Mary F. McVicker schreibt in Women Composers of Classical Music, Marie Wurm habe das Mendelssohn-Kompositionsstipendium der Royal Academie of Music dreimal in Folge gewonnen. Doch trotz dieser eindrücklichen Reihe von damaligen Erfolgen Mary Wurms sind ihre Werke heute weitestgehend vergessen.

1892 erschienen Wurms Neun Lieder op. 25. Das dritte dieser Lieder (Gedenken) auf einen Text des Bildhauers, Malers und Schriftstellers Gustav Eberlein (1847–1926) beginnt mit einem ornamentreichen Klaviervorspiel voller Fröhlichkeit – und einem auskomponierten Fragezeichen kurz vor Einsetzen der Gesangsstimme. Diese singt: »Und wieder schlägt die Drossel im Gezweig des Blütenbaumes über mir; Es öffnet sich des Lenzes Wunderreich, doch all mein Denken ist allein bei dir.« Nun ist auch klar, woher die Vogelanmutung der Klaviereinleitung herrührt. Es geht um eine vergangene Liebe. Angenehm »unklar« ist, ob der Besungene als Liebesobjekt »nur« nicht mehr im Leben der sich Sehnenden oder gar wirklich tot ist. Jedenfalls stellt sich der Gegensatz von jetzt schöner, unbefangener Natur und der Erinnerung an die damalige Zeit als Antriebsfeder dieses Gedichts heraus. Und dementsprechend setzt Mary Wurm schön die Vogelgeräusche neben Moll-Eintrübungen. Die Klavierbegleitung wird reicher, fülliger; ganz in das »gemischte« Gefühl der Textvorlage eindringend. Prächtige, wohlige Akkorde prangen später auf dem Klavier. Herrlichste Hochromantik. Ein wenig Richard Strauss, ein wenig Hugo Wolf. Fein! ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.