Während ich tags zuvor beim Krematoriums-Konzert des Solistenensemble Kaleidoskop und der Sängerin Anika gefühlt der älteste Sack im Saal war, könnte ich mir bei den Berliner Philharmonikern glatt die Schwachheit einbilden zu meinen: Hier wäre ich der jüngste. Denn vor Konzertbeginn werden wir per Lautsprecher-Ansage nicht nur ums Ausschalten unserer notorischen Handys gebeten, sondern auch darum, gegebenenfalls die Hörgeräte sauber zu justieren, auf dass wir nicht ungewollt die Musik zerfiepsen. In der Pause zwischen Mozart/Berg und Brahms löst sich meine Illusion allerdings in Luft auf, denn ich sehe zwar nicht Unmengen, aber doch einiges junges Publikum. (Die vielreplizierte »Überalterungs«-Klage ist sowieso mit Vorsicht nachzuplappern.)

Wer aber von den Hörgeräteträgern seinen E-Trichter aus lauter Rücksicht unterjustiert haben sollte, könnte angeohrs des berückend kultivierten LeiseSpiels der Berliner Philharmoniker an diesem Abend in Nöte geraten: Sei es im zartesten Hereingleiten der Streicher aus dem Nichts in die erste Abwärts-Terz im Kopfsatz von Brahms‘ Vierter oder in bestimmte Bergabpassagen in Mozarts A-Dur-Sinfonie KV 201. Oder sei es die zarte Hyperkomplexität gleich am Beginn der Drei Orchesterstücke von Alban Berg. Da wird ja das gigantische Orchester nicht zum Krachmachen benutzt, sondern zur maßlos feinen Ausdifferenzierung. »Wild verzweigte Dichte musikalischer Strukturen und Charaktere«, schrieb Dietmar Holland über Bergs Stücke, »wie unter einem Vergrößerungsglas«. Für die perfekte Vergrößerungsglas-Musik der klassischen Moderne sind die Berliner Philharmoniker das perfekte Strukturier- und Charakterisier-Orchester, ideal mikroskopisch im Detail und doch von herrlich flüssigem Gesamtklang. Auch im finalen Reigen wird es nie ohrenbetäubend, sondern immer nur ohrenerweckend.

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Bei Mozart ist man sich heutzutage weniger sicher als bei Berg oder Schönberg oder selbst Webern, was die Verankerung im großen Sinfonieorchester betrifft. Wer hätte das vor einigen Jahrzehnten gedacht? Fast Spezialistensache. Letzte Woche war mit Riccardo Minasi ein Mozart-Experte bei den Berliner Philharmonikern zu Gast, da wäre ich gern dabei gewesen, war aber leider auf Reisen. Nun nimmt sich auch der Chef Kirill Petrenko eines Mozartwerks an, der Sinfonie Nr. 29 A-Dur KV 201. Die komponierte Mozart mit achtzehn Jahren, und sie klingt bei Petrenko bei aller Schlankheit absolut philharmonisch. Federweicher Klang. Zwar nicht »historisierend« im landläufigen Sinn, aber im geistigen Sinn dann vielleicht doch: Musik von in sich ruhender Jugendlichkeit. Anmut ist der Schlüsselbegriff. Manchmal scheint es fast zu zart, aber süßlich wird es nie, sondern bleibt auch im Humor elegant und geschmeidig. Petrenko dirigiert das sehr gelöst, mit Lächeln, manchmal bloß durch Schulterheben oder Kopfnicken ein legeres Signal gebend. Und Vineta Sareika-Völkner ist dabei als Konzertmeisterin von so aktiver Kommunikativität in alle Richtungen, dass man die jahrelange vorzügliche Quartettspielerin gleich erkennt.

So durch und durch jugendlich das Konzert mit Mozart begann, so durch und durch erwachsen endet es mit Johannes Brahms’ 4. Sinfonie es-Moll. Sie begegnet uns in berauschend dichtem Klangbild, das man heute erst mal wagen muss, an dem hier aber tatsächlich gar nichts breiig wird oder verklumpt. Petrenkos Klangorganisation ist wahrlich imposant. Und umso betörender erscheinen in dieser Dichte dann die (Zwie)Lichteinfälle der wiederkehrenden Pausen, des typischen Brahms-Stockens. Im magischen Stehenbleiben am Ende der Kopfsatz-Durchführung scheint der ganze Saal eins in gemeinsamen tiefen Atemzügen. Solche Atemzüge kehren, tiefherbstlich, im Andante moderato wieder, alles wird aus ihnen hervorgehen: Erinnerungen, Aufbäumen, Schmerz und Glück der Resignation. Der dritte Satz ist danach purer vitaler Energieschub, bei weitem nicht so harsch und grimmig wie oft behauptet: tatsächlich giocoso. Und die Intensität des Passacaglia-Finales wird nicht durch Härte, Schärfe, Überdruck erkauft (die häufige Rattle-Versuchung), sondern bringt ganz aus sich selbst unfassbare Spannung hervor. Gewaltig wie eine Kathedrale ist dieser Schlusssatz von Brahms’ Vierter; und selbst wenn in der Kunst alle Rankings ärgerlicher Nonsens sind, kommt er mir, wenn ich ihn höre, wie das größte Sinfoniefinale überhaupt vor. Da stehen wir dann, ob mit Hörgerät oder ohne, unter Brahms‘ Schirm alle gleich mitten in unserem endlichen Leben und zugleich staunend davor, verzweifelt und dankbar zur selben Zeit. Und wenn wir uns dabei bald wie der jüngste, bald wie der älteste aller Menschen auf Erden fühlen, dürfen wir uns mit Astrid Lindgrens Bullerbü-Lisa sagen: dass wir dann vielleicht gerade richtig sind. ¶


… lebt in Berlin, liebt Musik, schreibt Romane: u.a. ›Beethovn‹ (2020). Zuletzt erschien ›Silence‹. ✉️ KonzertgaengerBerlin@gmail.com

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