Manchmal können »innovative Konzertformate« doch von absolut sympathischer Schnörkellosigkeit sein: etwa, indem ganz simpel zwei grundverschiedene Werke einander gegenübergestellt werden, die hirnverknotenderweise zur selben Zeit entstanden. 1970 war das Jahr, in dem jenseits des Atlantischen Ozeans eine Deutsche namens Christa Päffgen alias »Nico« gemeinsam mit John Cale das höchst eigenartige Album Desertshore gebar und diesseits ein Pole namens Witold Lutosławski seine Präludien und Fuge für Solostreicher austüftelte.

Das Solistenensemble Kaleidoskop ist eines jener unermüdlichen, zähen, aufregenden freien Ensembles, die es in Berlin jenseits der großen Philhallmonien und Konzertlagerhäuser gibt. Wenn Kaleidoskop nun in der Betonhalle des Silent Green (eines ehemaligen Krematoriums im Wedding, in das in zwei Jahren das Filmmuseum Arsenal einziehen soll) Nico/Cale und Lutosławski koppelt, nimmt schon der überraschend konventionelle äußere Ablauf des »innovativen Formats« ein: Der naheliegenden Innovationspointe nämlich, die einzelnen Songs und Präludien wild ineinander zu verschränken (so wie das Stegreif-Orchester alles vermischt), wird hier nicht nachgegeben. Und das erweist sich auch als ganz gut. Denn die Zyklen müssen intakt sein, um ihren je eigenen Sog zu entfalten: sowohl das erstaunlich kurze Nico-Album als auch das Streicherstück, die zeitlich längste Komposition aus Lutosławskis Leben – beide Werke 30 bis 40 Minuten lang.

Einnehmend auch die Tatsache, dass bei diesem experimentellen Konzert das Publikum mal nicht groß- bis einzigenteils aus Kollegen und Kommilitonen mit Freikarten besteht, oder eben aus akkreditierten Journalisten. Wobei der Umstand, dass die unterirdische Betonhalle, in welche früher wohl die Leichenwagen hinabfuhren, komplett ausverkauft ist, vor allem der Popularität der Sängerin Anika zu verdanken sein dürfte, die statt Nico singen wird, welche aufgrund Verstorbenseins vor 35 Jahren verhindert ist. Um so erstaunlicher ist die Konzentration, ja offenherzige Hingabe, mit der das ziemlich junge, internationale  Auditorium sich Lutosławski anhört und lieben lernt.

Andererseits: kein Wunder. Denn die Präludien und Fuge sind zwar höchst komplex, machen aber hohen Effekt, auch ohne dass man wissen muss, was »Aleatorik« ist. Schneidende Schärfen, greinende Glissandi, hibbelige Vibrati, fitzlige Tupfer, fragile Flächen, schwankendes Schweben. Kurzum, immer was los ist in diesem Gewusel der dreizehn Streicher, die da jeder vor sich hin fiepsen. Und am dollsten was los, wenn der Dirigent Miguel Pérez Iñesta resigniert die Arbeit einzustellen scheint und die Arme baumeln lässt! Das ist natürlich ganz aleatorikmäßig korrekt, wenn komplettes ad libitum herrscht, ehe der Dirigent das Signal für den nächsten Abschnitt gibt.

Das Werk als Ganzes ist gleichermaßen verspielt wie expressiv. Aus dem wiederholten Auftrumpfen und Abtropfen, aus implodierenden Gesten scheinen sich immer wieder nachdrückliche Lamenti herauszuschälen, die schließlich trotz Lutosławskis wesenhafter Hellig- und Heiterkeit einen erstaunlichen Bogen zu Nicos furchtbar traurigem, ja todessüchtigem Desertshore weisen können. Dieses Album nun kommt mir im Original wie eine bizarr verknappte Winterreise auf LSD oder eher Heroin vor. Und es ist auch ein Werk des genialen Dilettantismus: Denn dilettantisch klingt er ja, der unverkennbare Gesang von Nico mit dauerdüsterer Vollintensität und skurril deutschem Englisch. Und dilettantisch klingen fürs heutige Ohr auch die epochalen avantgardistischen Versuche von John Cale mit verstimmtem Spuk-Harmonium und Keyboard-Bläsern.

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Die britische Sängerin Anika, die seit 2010 Songs veröffentlicht, ist klug genug, jeder Versuchung zur Nico-Kopie aus dem Weg zu gehen. Die wäre zwangsläufig Parodie, Nico ist weder nachspielbar noch übertrumpfbar. Anikas Gesang setzt dem Original eine Art stilisierter Monotonie entgegen. Das ist nicht ganz frei von der Gefahr, dass an die Stelle von Nicos schwer erträglicher Seelengewalt nun gepflegte Melancholie tritt. Statt Wüstenküste Herbstwaldrand. Doch ich höre es gern, sehr gern. Dabei denke ich, statt an Nico, nun eben manchmal eher an Beth Gibbons. Und das ist ja nun nicht das Schlechteste.

Dem Streicher-Arrangement der Albumvorlage durch Paul Valikoski und Grégoire Simon, zwei Kaleidoskop-Geigern, gelingt die kantige Umschiffung von drohender Gediegenheit, Glätte, Behaglichkeit eines versymphonierten Popklangs. Dieser »Streicherteppich« hier ist voller Knoten, Risse, Flecken. Ein hinzu komponiertes Vorspiel wagt, was das originale Album in seiner Verknappung sich nicht erlaubte, nämlich Hypnose durch Längen und Dauern. Das grotesk-schrottige Element des Cale-Avanatgardismus bringt eine Strohgeige ins Spiel, auch Phonofiedel genannt. Und die raue Wucht der verstärkten Celli im letzten Song All That Is My Own macht erheblichen klimaktischen Effekt.

Als Zugabe gibt es dann Anikas schönen Originalsong Rights von 2021: tantalizing, tantalizing. Wie gut das nun letztlich mit Lutosławski aufgegangen ist, darüber bin ich im Nachhinein alles andere als sicher. Wäre stärker attackierende Musik von Xenakis vielleicht ein plausibleres Match für Desertshore gewesen? Oder die Todessehnsucht von Claude Vivier? Da jedoch beide Konzertteile für sich vollauf befriedigten, verfolgt die Frage mich nicht allzu dringlich in die schaurig nasswindige Weddinger Novembernacht. ¶

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… lebt in Berlin, liebt Musik, schreibt Romane: u.a. ›Beethovn‹ (2020). Zuletzt erschien ›Silence‹. ✉️ KonzertgaengerBerlin@gmail.com

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