Das Gesamtwerk von Anton Webern passt auf sechs CDs. Bedarf es bei einem rekordverdächtig kleineN, oder besser: kurzeN Oeuvre eines KOmponisten überhaupt einer kritischen Gesamtausgabe?

Das Gesamtwerk von Anton Webern ist in der Tat nicht besonders umfangreich. In sich stellt das Werk Weberns jedoch ganz besondere Ansprüche, denen bisher in der Webern-Forschung noch nicht entsprochen wurde. Das betrifft vor allem die verschiedenen Fassungen Webernscher Werke, die es gibt. Diese sind zwar in der Forschung größtenteils bekannt, ihre konkrete Verfasstheit ist jedoch bisher kaum berücksichtigt worden. Und um sich genau darum zu kümmern, dafür gibt es die Anton-Webern-Gesamtausgabe.

Was für Unterschiede gibt es denn in den verschiedenen Fassungen?

Das kann alle Dimensionen der Musik betreffen. Die Wiedererkennbarkeit des Stückes ist in der Regel allerdings gewährleistet. Aber bei der sowieso schon konzentrierten Charakteristik dieser Musik können natürlich Detailunterschiede schon sehr viel ändern. Ein Paradebeispiel dafür ist das letzte der Vier Stücke für Geige und Klavier op.7 aus dem Jahre 1910. Da gibt es eine Passage mit einer radikalen Änderung. In der frühen Fassung sind die letzten Einwürfe der Violine als eine Art Glissando notiert. Darüber gibt es auch schon in der Forschungsliteratur Schilderungen und Analysen. Webern beschreibt das Glissando sehr von seiner Klanglichkeit her – und notiert, was für eine Art von Klangeffekt er haben will. In der gedruckten Fassung etliche Jahre später stehen da an der gleichen Stelle plötzlich dezidierte Tonhöhen, die diese Figur als eine motivisch-thematische Figur deklarieren. Das Klangliche tritt dabei scheinbar in den Hintergrund.

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Weberns Vier Stücke für Geige und Klavier op.7 in der Fassung mit festgeschriebenen Tonhöhen

die Zwölftonmusik wird landläufig gerne mal als ›technisch‹ und ›seenlos‹ bezeichnet. Webern selbst dagegen schrieb dem Interpreten der Uraufführung seiner Variationen op. 27, dem Pianisten Peter Stadlen, geradezu lyrische Anweisungen in die Partitur, wie ›Verhaltener Klageruf‹ oder ›Letzter Seufzer‹. Müssen Sie Weberns Musik häufig gegen den Vorwurf der ›Gefühlskälte‹ verteidigen?

Nein, eigentlich nicht. Aber trotzdem sprechen Sie damit eine Schwierigkeit der Webern-Rezeption insgesamt an. Nach wie vor muss man einem Teil des Publikums diese Art von Avantgarde-Musik des 20. Jahrhunderts überhaupt erst schmackhaft machen. Die vermeintliche ›Kühle‹ dieser Musik ist in der Webern-Rezeption der letzten Jahrzehnte aber schon ausgiebig reflektiert worden. Das Webern-Klischee des rationalen Konstrukteurs konnte sich nicht halten. Gerade bei den späten Zwölfton-Werken sind seine Skizzen voll von Eintragungen, mit denen er bestimmte Stimmungsinhalte für sich notierte, bevor er überhaupt mit dem Komponieren anfing!

Weberns Verhältnis zum NS-Staat ist ja nicht unumstritten. Einerseits warnte er früh vor Hitler, andererseits verband er mit ihm gewisse Hoffnungen. Beschäftigen Sie sich bei der Anton-Webern-Gesamtausgabe mit diesem Thema?

Ja, natürlich. Eventuell organisieren wir hier in Basel bald eine Tagung, bei der wir uns ausschließlich diesem Thema widmen. Rein editorische Fragen kann man von diesem Problem nicht trennen. Nicht erst seit dem sogenannten ›Anschluss Österreichs‹ war Webern unmittelbar von den geschichtlichen Ereignissen damals tangiert. Das betraf beispielsweise die Frage, ob Webern weiterhin seine Arbeiter-Sinfoniekonzerte dirigieren konnte oder nicht. Aber natürlich muss man auch die Verbindungen Weberns zu nationalsozialistischen Gedanken und Ideologien untersuchen. Die gesellschaftliche Situation von Webern in den 30er und 40er Jahren war auf alle Fälle eine der Isolation. Und in dieser Isolation kam es bei ihm zu Perspektivverschiebungen. Wie man das im Einzelnen bewertet, darüber sollte man immer differenziert zu diskutieren versuchen. Die Isolationssituation Weberns führte meiner Meinung nach auch zu relativ klaren Konsequenzen in künstlerischen Prozessen

Wie meinen Sie das?

Weberns kompositorische Arbeit wurde dadurch noch isolierter als sie ohnehin schon war. Denn auch vorher schon machte er sich keinerlei Hoffnungen auf Aufführungen seiner Werke. Er war als praktizierender Musiker einfach nicht mehr an öffentlichen Kulturdiskursen beteiligt. Die Isolation führte auch zu einem langsameren Arbeiten. Teilweise brauchte er für die Skizze weniger Takte mehrere Wochen oder Monate.

Webern dirigierte regelmäßig Aufführungen des von seinem Lehrer Arnold Schönberg gegründeten Vereins für musikalische Privataufführungen. War Webern eigentlich ein guter Dirigent?

Leider gibt es nur sehr wenige Aufnahmen, die ihn als Dirigenten dokumentieren. Was man aus diesen wenigen Aufnahmen heraushören- und interpretieren kann, das macht auf jeden Fall deutlich, dass Webern einen Dirigierstil pflegte, der in unserer heutigen Zeit wahrscheinlich sehr gewöhnungsbedürftig wäre – also mit extremen Ritardandi und Rubati, mit einer extremen Rhetorik des Atmens der Musik. Weberns Dirigierstil entsprach so ziemlich dem, was Theodor W. Adorno an Arturo Toscanini vermisst und so heftig kritisiert hatte – nämlich eine Art des ›menschlichen‹ Dirigierens. Theodor W. Adorno und Alban Berg zögerten ja nicht, Webern als den wichtigsten Dirigenten seiner Zeit zu rühmen.

Mit welchem Webern-WErk haben Sie sich zuletzt beschäftigt?

Aktuell beschäftige ich mich mit den Zwei Liedern nach Gedichten von Rainer Maria Rilke op.8 aus dem Jahr 1910. Von diesen gibt es insgesamt vier sehr unterschiedliche Fassungen. Die gedruckte, späteste Fassung des Werkes sieht als Besetzung einen Sopran und acht Instrumentalisten vor. In der Urfassung jedoch wurde die Gesangsstimme noch von einem mittelgroßen Orchester begleitet – mit Effekten wie die einer Mehrfach-Teilung der Celli und Kontrabässe. In der gedruckten Fassung findet dieser Effekt überhaupt keine Entsprechung mehr.

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Zwei Lieder nach Gedichten von Rainer Maria Rilke op.8 in der Version mit nur acht Instrumentalist*innen

Gibt es ein großes ungelöstes Webern-Rätsel – oder sind wir in der Webern-Forschung bald an einem ›Ende‹ angekommen?

Von einem ›Ende‹ würde ich auf keinen Fall sprechen. Aber das eine große Rätsel der Webern-Forschung gibt es nun auch nicht, es sei denn, man fasst das gesamte kompositorische Werk Weberns als ein Rätsel auf – im Sinne des ›Rätselcharakters der Kunst‹, wie es Adorno beschreibt. In dieser Hinsicht stellt uns Webern mit jedem Takt eine Rätselfrage – und fasziniert uns damit immer wieder. ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.