Vor 40 Jahren befreite Wolfgang Hildesheimer seinen Namensvetter von Marmor und Marzipan. Sein Großessay Mozart ist immer noch eine Herausforderung – und lässt in seiner offenen Form vieles Neue alt aussehen.

Wolfgang Hildesheimer • Foto © Isolde Ohlbaum
Wolfgang Hildesheimer • Foto © Isolde Ohlbaum

Jedes neue Buch drückt zehn ältere in den Schatten, und neun von denen bleiben da auch, vorsichtig geschätzt. Die paar, die sich länger halten, werden zuerst »Longseller«, dann »Klassiker« und im schlimmsten  Fall »Pflichtlektüre«. Nur ganz wenige verlieren dabei nicht das elementar Neue, mit dem sie einmal ins Bewusstsein krachten. Und dazu gehört ein Musikbuch, das eigentlich kein Jubiläum braucht, um gewürdigt zu werden. Dass Wolfgang Hildesheimers großer Essay Mozart vor 40 Jahren erschien, spielt trotzdem eine Rolle. Die vier Jahrzehnte seit 1977 sind ein historischer Zeitraum, an dem sich gut zeigen lässt, dass ein außergewöhnlicher Text selbst durch seine Alterserscheinungen und den gewandelten Stand der Dinge eher noch interessanter wird.

Man kann das Buch immer noch an jeder beliebigen Stelle aufklappen, wobei sich für eine breitere Zielgruppe der Satz »Das Bäsle war vermutlich die erste Geliebte Mozarts« wohl eher empfiehlt als »Der Commendatore wird erst als Gespenst real«. Das »Bäsle«, eine jüngere Cousine Mozarts, Maria Anna Thekla, war eine von Hildesheimers wichtigsten Kronzeuginnen bei dem erfolgreichen Versuch, den Komponisten aus seiner nachweltlichen Erstarrung in Marmor und Marzipan zu befreien. Heute findet man es prima, dass Mozart ehelos Sex mit seiner Cousine hatte, sekundiert von fröhlich hochversauten Briefen im Duktus musikalischer Improvisationen. Aber Wolfgang Hildesheimer sah sich noch einer Phalanx verklemmter Tempelhüter gegenüber, die beharrlich von »närrischen Possen« und »recht harmloser lustiger Liebelei« sprachen.

Es ging ihm nicht um ein Schlüsselloch zu Mozart, im Gegenteil. Er wollte seinen Lesern den Mann entfremden, mit dem es sich Wissenschaftler und Biographen harmonisch eingerichtet hatten. Vom Wunderkind bis zum Genie, das wie vom Schicksal gesteuert die Frühvollendung erreicht, passte im alten Mozartbild alles so steril zusammen, dass kein Lüftchen durch die Mauern der Rezeption kam. Innerhalb derer diagnostizierten die Musikologen dann so etwas wie die »Molleintrübung« im C-Dur-Quintett. »Weshalb ›trüb‹?«, fragte Hildesheimer. »Der Tag ist nicht denkbar ohne die Nacht, doch welche zwölf Stunden sind objektiv die besseren?« Er sah im gängigen Vokabular »das unstatthaft Wertende musikalischer Analyse.« Hildesheimer war kein Musikwissenschaftler, sondern Schriftsteller, und er haute der Zunft Sätze und Fragen um die Ohren, für die sie ihm heute klammheimlich dankbar ist.

»Hiernach gebe ich das Thema an die Zunft zurück«, bemerkte er im Vorwort, was einfach heißt, dass er es ihr weggenommen hatte. In 20-jähriger Arbeit, denn sein 400-Seiten-Essay wurzelte in einem Aufsatz, den er schon 1956 geschrieben und immer weiter ausgebaut hatte. Nicht zu einer linearen Erzählung, chronologisch oder thematisch sortiert, sondern in kreiselnden, mäandernden Bewegungen, in denen sich Ebenen überlagerten – Briefe, Musik, das Gesicherte und zu Mutmaßende, die Position des Autors und seiner Leser, vereint im geräumigsten »Wir« der Literaturgeschichte.

Denn Mozart ist nicht zuletzt ein literarisches Werk. Hildesheimer, 1916 in Hamburg als Urenkel eines namhaften Rabbiners geboren, 1933 mit seinen Eltern ins britische Mandatsgebiet Palästina gezogen, nach dem Krieg in Deutschland Mitglied der »Gruppe 47«, war spätestens seit Tynset (1965) ein Großer der deutschen Prosa. Er konnte den Komponisten der »Zunft« auch deswegen wegnehmen, weil ihre sprachlichen Mittel den seinen gegenüber so beschränkt waren wie ihre Wahrnehmung einer Welt außerhalb der Noten und Fußnoten – abgesehen etwa von Carl Dahlhaus, der das Buch sofort »vollendet in seiner offenen Form« fand. Im knöchernen Duktus, der in der scientific community bis heute dominiert, hat Hildesheimer allerdings weniger Spuren hinterlassen als in ihrer Perspektive auf den Komponisten.

Er nahm ihn keinem weg, um einen eigenen Mozart zu errichten. Wo immer man als Leser glaubt, ganz nah dran zu sein, geht der Autor in die Kurve, sagt, »wir wissen es nicht« oder stellt sich selbst in Frage. Wenn er über die Gestalt der Donna Anna nachdenkt, »schlechthin unausstehlich, angelegt zwischen Heulsuse und Racheengel«, kommt er zum »allgemeinen Rausch«, »in den die Musik die Deuter versetzte«, macht sich ein bisschen über E.T.A. Hoffmanns Vorstellung einer willig verführten Donna Anna lustig, aber: »Es geht uns heute nicht anders, die wir zwanghaft mit psychologischen Kategorien laborieren und in der Musik nach Indizien suchen.« Hildesheimer weiß, wovon er spricht, er hat eine Psychoanalyse hinter sich und wendet die Erfahrungen auf Mozart an. Versuchsweise, essayistisch: »Spielen wir dieses schöne Spiel kurz zuende.«

Gar schöne Spiele spielte Erlkönig Hildesheimer, bis der alte Zuckermozart leblos aus den Armen seiner Bewunderer fiel und ein wahnsinnig interessanter Fremder hinter der Musik erschien. Es war eine Freilegung, deren Wirkung parallel ging mit der Entdeckung der »Klangrede«, des Sprechenden und eben auch Widersprechenden in der ach so schönen »Wiener Klassik«. Von den ihm bekannten Versuchen einer historisch informierten Aufführungspraxis hielt Hildesheimer indessen nichts – im Rückblick hat er so recht wie unrecht. Harnoncourts frühe Aufnahmen halten dem Vergleich mit dem nicht stand, was seine Revolution schließlich bewirkte. Aber der entkleisterte, affektreiche Mozart, der inzwischen auch für moderne Orchester selbstverständlich ist – den kann man schon zwischen und in den Zeilen von Wolfgang Hildesheimer hören.

Jetzt twittern: Wie Wolfang Hildesheimer Wolfang A. Mozart von Marmor und Marzipan befreite. Von Volker Hagedorn in @vanmusik

Natürlich hat ihn faktisch manches überholt. Mozarts letzte Jahre waren nicht tragisch, wie man inzwischen weiß, er sah sich im Gegenteil »vor der Pforte meines Glückes«. Und in Hildesheimers finalen Sätzen (»sterbliche Reste eines unfaßbar großen Geistes«, »unverdientes Geschenk an die Menschheit«) verfiel der Autor selbst dem Pathos, mit dem er aufgeräumt hatte. Wenn schon – den freigelassenen Mozart konnte er damit nicht mehr stoppen. Aber die Freiheit der Perspektive und offenen Form, die Hildesheimer für das Schreiben über Musik erreicht hat, fand kaum Nachfolger. Sein Mozart, bei Suhrkamp immer wieder neu aufgelegt, ist so gesehen das modernste Musikbuch dieser Saison. ¶

…lebt als Buchautor, Journalist und Musiker in Norddeutschland. Er studierte Viola in Hannover, war Feuilletonredakteur in Hannover und Leipzig und ist seit 1996 selbstständig als Autor u.a. für ZEIT und Deutschlandfunk. Im Rowohlt Verlag erschienen von ihm »Bachs Welt« (2016) und »Der Klang von Paris« (2019). Sein neues Buch »Flammen. Eine europäische Musikerzählung 1900–1918« erscheint im April 2022.

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