Im Oktober 2019 haben wir einfach angefangen. Mit einem Porträt der durchaus fortschrittlichen Spätromantikerin Margaret Ruthven Lang (1867–1972), die stolze 104 Jahre alt wurde.

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Klingt nach Debussy – ist aber noch vor dem »Buddha-Tempel-Debussy«, wie wir ihn kennen. Ein bisschen Jugendstil, ein bisschen Impressionismus – und einfach schön, wie beide »Bestandteile des Stücks« (warme Es-Dur-Melodie links und Akkord-Girlanden rechts) am Ende in einer träumerischen Gleichzeitigkeit zusammenkommen.

Auf ihr Porträt folgten 249 weitere: erst biographisch, kurz und bündig, und dann ein YouTube-Link mit einer Musik der jeweiligen Komponistin und ein beschreibender Text – eher emotionalisierend, aber auch einmal analytisch tiefschürfend, dabei: Geschichten erzählend. Im Juli 2023 erschien die letzte VAN-Komponistinnen-Folge, Hildegard von Bingen gewidmet.

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Hildegards O virtus Sapientiae – der Text stammt selbstredend von der Schöpferin der dazugehörigen Töne selbst – feiert die »Kraft der Weisheit« (so die Übersetzung des Titels) in Noten. Die Weisheit, die nicht nur als beschriebene »Bahn« das eigene Leben umkreist (und bereichert), sondern das ganze All erfüllt (und erforscht). Drei Flügel haben diese Weisheit, so heißt es: in der HÖhe, in der Luft flattert der eine, auf der Erde müht sich kreuchend der zweite – und allüberall schwingt der dritte Flügel (als gleichsam auch der Heilige Geist).

Einige Recherchen gestalteten sich durchaus komplex. So weiß ich bis heute nicht, woran die Komponistin Liza Lehmann (1862–1918) gestorben ist. Über Elizabeth Turner (ca. 1700–1756) wissen wir fast gar nichts, außer, dass Händel Abonnent ihrer Musik war. Ebenso wenig Informationen zur Hand hatte ich bei meiner Beschäftigung mit Esmeralda Athanasiu-Gardeev (1834–1917) oder Francesca Campana (ca. 1615–1665). Auch über das frühe Ableben der mexikanischen Komponistin Guadalupe Olmedo (1853–1889) ist mir nichts bekannt. Bei der Komponistin Matilde Capuis (1913–2017) wollte ich es dann wissen. Capuis wurde 104 Jahre alt – und lebte bis 2017! Da musste doch etwas herauszufinden sein! Ich erfuhr, dass eine Urenkelin an einer europäischen Universität gelehrt hat – allerdings längst pensioniert war. Trotzdem kam ein Kontakt zustande. Viel durfte ich aus dem E-Mail-Wechsel für den Matilde Capuis gewidmeten Artikel nicht verwenden. Die Andeutungen gingen in die Richtung: »Sie interessierte sich wirklich ausschließlich für die Musik.« Matilde Capuis schrieb (immerhin!) einmal im Jahr den Verwandten zu Weihnachten eine Grußkarte. Allerdings immer mit dem gleichen Inhalt. Aber das machte meine Oma auch. Und auch die mochte ich sehr.

Einige Monate vor Abschluss der Aritkelserie hatte uns der Aufbau Verlag kontaktiert. Ein Buch – angereichert mit Illustrationen von Chiara Jacobs – sollte entstehen. Also überarbeiteten wir alle Folgen, auch, weil leider ein paar Komponistinnen inzwischen hochbetagt verstorben waren: Viera Janárčeková (1941–2023), Hilary Tann (1947–2023) und Gloria Coates (1938–2023). Das Buch ist jetzt, am 1. November, erschienen

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Das etwa 18-minütige Stück Banyan (crazy wisdom) für Posaune und Klarinette gibt uns erst ein Einsummen beider Instrumente. Beide spielen abwechselnd auf dem gleichen Ton. Dann kommen »Brrrr«-Flatterzungen-Aktionen hinzu. Bald ein stufenloses Absinken. Hinterfragungen der Gegenwart, bei gleichzeitiger Belustigung. Neue Musik kann aufgeregt und zugleich zurückgelehnt sein.

Aber warum überhaupt Komponistinnen? Wenn man mit großer Wahrscheinlichkeitsgarantie Musik hören will, die man noch nicht kennt, so braucht(e) man sich einfach nur auf die »Gruppe« von Komponistinnen konzentrieren. Selbst Elke Heidenreich, die sich schon immer für Komponistinnen interessierte und zur Patin des Buches wurde, kannte vor dem Buch nur 16 der 250 Komponistinnen. Und 16 ist schon sehr gut.

Aufgrund vieler Jahrhunderter Ignorierens, Verhinderns, Umgehens und Beschimpfens von Musik, die von Frauen zu Papier gebracht wurde, bietet die Idee, sich mittels  Komponistinnen-Werken aus der eigenen, vielleicht fad gewordenen Ewig-Gleich-Hör-Filter-Bubble herauszubewegen, einfach die Möglichkeit, unbekannte Musik kennenzulernen. 

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Die Anarcho-Komponistin unter den 250 Porträtierten. Fein und säuberlich lässt Annea Lockwood ein Klavier verbrennen. Ein unerwartet sinnliches Vergnügen. Und keine Angst: Es handelt sich um ein wirklich schrottreifes Klavier.

Nach der Recherche für 250 Porträts lassen sich durchaus einige große Linien erkennen,  bestimmte Fragen leichter beantworten, zum Beispiel: Wann komponierten Frauen – und unter welchen Umständen? Betrachtet man rückschauend die Geschichte des musikalischen Werkeniederschreibens von Komponistinnen, stellt sich die Erkenntnis ein: Es waren zumeist privilegierte Frauen, denen Komponieren überhaupt erlaubt war, ohne dass die Betreffenden, wie nicht selten, ein männliches Pseudonym für die Veröffentlichung von Partituren verwendet mussten. Im Rahmen dieser unglaublich engen schaffensmäßigen Möglichkeitsräume waren es bis ungefähr zum Beginn des 18. Jahrhunderts vor allem Nonnen, Ordensfrauen, die heute als Schöpferinnen von Musik noch bekannt sind und die sich selbst im Kloster gegen wütende, ängstliche Männer – in diesen Fällen beispielsweise konservative Kardinäle – durchsetzten.

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Im Text kommt hier die Zeile vor (auf Deutsch übersetzt) »der du (also Gott) die Hungrigen mit Gütern versorgest, und die Reichen leer ausgehen lässt«. Cozzolani bringt während der Vertonung dieser Zeile eine absichtlich langweilige Wendung – und wiederholt diese vier Mal. Alles weltliche »Reiche« ist für sie – als Nonne – also leer und stumpf. Vier Mal die gleiche Wendung, also nicht drei Mal, was – auch in der Musik, was Wiederholungen und so weiter anbelangt – immer als »göttlich« galt. Materieller Reichtum ist also nicht göttlich. Und das kann man aus dieser Komposition dieser Nonne quasi heraushören. Überhaupt: Was für eine Nonne, die sich mitunter Anfeindungen eines erzkonservativen Kardinals erwehren musste, der die Musik Cozzolanis und ihre musikalische Arbeit in ihrem Mailänder Kloster vermutlich viel zu fortschrittlich fand.

Ungefähr mit Beginn des 18. Jahrhunderts finden sich zunehmend Komponistinnen, die öffentlich auftraten, weil sie mit einem adeligen Hintergrund und/oder größerer Prominenz als Interpretin gesegnet waren. Viele Komponistinnen des 18. und auch noch des 19. Jahrhunderts waren Sängerinnen oder Pianistinnen – und oftmals beides zur gleichen Zeit. Und nur ein gewisser Erfolg als Interpretin erlaubte den Betreffenden gewissermaßen, das ein oder andere Mal eigene Kompositionen auf die Programme von Salonkonzerten und Recitals – und damit schlichtweg eigene Noten aufs Pult – zu setzen.

Im Zuge des 20. Jahrhunderts und der sich bahnbrechenden Frauenbewegung traten immer mehr Komponistinnen in Erscheinung, die sich – mehr oder weniger unabhängig – schöpferisch frei ausleben konnten. Und jetzt, im 21. Jahrhundert? Noch immer poltert es bisweilen (auch gerne ungefragt) aus Männermündern – selbst an deutschen Musikhochschulen – heraus, wenn es um Komponistinnen geht. Frust und Uninformiertheit feiern (langweilige) Partys, die ich – weil: gar nicht eingeladen – gerne auslasse.

Natürlich bilden die in dem entstandenen Buch porträtierten 250 Komponistinnen nur einen kleinen Ausschnitt aus einem reichhaltigen, inhaltlich höchst spannenden und weitestgehend unentdeckten Pool der Musikgeschichte. Aber selbst über viele dieser 250 »Auserwählten« ist teilweise erstaunlich wenig bekannt. Wer also fragen möchte: »Warum fehlt denn Komponistin xy?« – Die Antwort ist: Es gibt sehr viele Komponistinnen, die darauf warten,  entdeckt, aufgeführt – und gefeiert zu werden. Und da ist dieses Buch nur ein schöner – 684 Seiten schwerer – Hinweisstein. ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.

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