Wer war überhaupt Hildegard von Bingen? Hildegard von Bingen wird oft verstanden als »Anfang« des musikalischen Schaffens von Komponistinnen. Der »Anfang« also – aber auch (Gott sei Dank nur hier) das »Ende«. Die bekannteste Komponistin der Welt? – Vielleicht. Die erste bekanntere Frau, von der Musik überliefert ist? – Bei weitem nicht, siehe die aus Byzanz stammende Kassia, die zwischen 810 und 865 lebte – sowie spätere Troubadourinnen weiter nördlich. Das größte Universalgenie der Menschheitsgeschichte? – Sicherlich.
Annette Kreutziger-Herr und Melanie Unseld formulieren es dezidierter, auf die Problematik der »Epochenstellvertretenden« bezugnehmend: »Innerhalb der von männlichen Namen und Männlichkeitsbildern geprägten Vorstellung europäischer Musikgeschichte würde mit Sicherheit auch ein männlicher Name für das Mittelalter stehen und die Musik des Mittelalters im allgemeinen Kontext symbolisieren – wenn es denn einen gäbe.« (Richert Pfau, Marianne und Morent, Stefan Johannes: Hildegard von Bingen. Der Klang des Himmels, Köln, Weimar, Wien 2005). Wenn man aber, heikel und im Grunde unbrauchbar, für die verschiedenen (in ihren fließenden Übergängen meist interessantesten) Epochen der Musikgeschichte Namen von »Hauptvertretern« nennen müsste, so wären das wohl Josquin Desprez für die Renaissance … oder doch Giovanni Pierluigi? Was ist aber mit Orlando di Lasso? – und: Johann Sebastian Bach für die Barock-Epoche? Oder doch (viel eher eigentlich, nicht?) Claudio Monteverdi? Wolfgang Amadeus Mozart oder Joseph Haydn für die Klassik? Was ist mit Ludwig van Beethoven, der mit seiner (romantischen?) Symphonie Nr. 5 E.T.A. Hoffmann derart verdatterte, dass Letzterer (literarisch hochstehend, freilich) von »Geistern« faselte? Franz Schubert oder Robert Schumann für die Romantik? Was ist mit Richard Wagner? Arnold Schönberg für die Moderne? Fragen über Fragen. Aber eine Antwort: Hildegard von Bingen war die Größte. Die Größte des Mittelalters. Mindestens.
Und wie wird man zur Größten? Durch glückliche Umstände und Voraussetzungen: Geboren wurde diese Hildegard von Bingen 1098 in Bermersheim, im heutigen Landkreis Alzey-Worms – als Kind einer Familie des Hochadels. Wie Barbara Stühlmeyer berichtet, seien die Namen von sieben der neun Geschwister Hildegards überliefert. Hildegard war also das zehnte Kind – und entsprechend der biblischen Aufforderung, dass ein jeder seinen zehnten Teil an die Kirche abgeben möge (was eben nicht nur für Geld galt), war es Usus, das zehnte Kind an Institutionen des Glaubens »abzutreten«; in einer Zeit, auch das schildert Stühlmeyer plastisch und informativ, in der man die (»tätige«) abendländische Gesellschaft im Grunde in drei Gruppen aufteilen konnte: in die, die arbeiten – in die, die kämpfen (wozu auch die bloße Verteidigung gehörte) – und in die, die beten. Hildegard von Bingen durchbrach auf eine (einmalige) Weise diese »Arbeitspyramide«. Und machte: alles. Glauben, kämpfen, arbeiten.
Hinzu kommt, wenn man so will, eine andere Schicksalsfügung, die die Welt anlässlich des Betrachtens des Hildegard-Phänomens nach knapp 1.000 Jahren bis heute genüsslich auskostet, wirtschaftlich nutzt, esoterisch aufbereitet (und wiederum bereit zum Verkauf macht): Seit ihrer Kindheit sah Hildegard Lichter, Erscheinungen, Leuchten. Eingebungen, die sie selbst verstörten, die sie später aber von »ganz oben«, gewissermaßen von den höchsten katholischen Würdenträgern ihrer Zeit, als »göttlich« anerkennen ließ. (Ansonsten wäre es ihr wohl nicht gut ergangen.)
Ab 1106 schlug von Bingen – bereits als Kind von den besagten spirituellen Visionen durchströmt – den Weg eines religiösen Lebens ein, unter der Fittiche der sechs Jahre älteren Jutta von Sponheim, die sich ein Jahr zuvor (gegen den Willen ihrer Familie) vom Mainzer Erzbischof Ruthard die Jungfrauenweihe erteilen ließ. Am 1. November 1112 richtete man im Kloster Disiboden (heutiger Landkreis Bad Kreuznach) eine »Frauenklause« ein, also einen religiösen Lebens- und Gebetsraum für Frauen, einen Ort für eine Schwesternsammlung, angelehnt an ein bereits bestehendes Kloster; geleitet von Ordensmännern, denen gleichzeitig der Schutz der gottesfürchtigen Frauen oblag. Die 20-jährige Jutta von Sponheim zog 1112 in diese von ihr nun geleitete »Frauenklause« ein, unter anderem mit der 14-jährigen Hildegard an ihrer Seite. »Drüben«, vom Männerkloster, kam Mönch Volmar als weiterer Mentor Hildegards hinzu. Zwei oder drei Jahre des Lebens, Lernens und Betens vergingen – und 1114 oder 1115 legte Hildegard schließlich vor dem eigens angereisteten Bischof Otto von Bamberg ihr Gelübde (ihre »Profess«) ab.
Von den neun Geschwistern war Hildegards Bruder Hugo von besonderer Bedeutung. Denn dieser wirkte – bis zu seinem Tod im Jahre 1177 – als Domkantor in Mainz. Man vermutet, dass die musikalischen Kompetenzen, die Hildegard später ihr Eigen nannte, auch auf den Unterredungen mit ihrem Bruder fußten. In einer späteren autobiographischen Schrift führt Hildegard aus, dass sie sowohl die göttlichen Visionen als auch den Umgang mit Musik niemals wirklich erlernt habe. Die christlichen Inbilder, die Eingebungen kamen gewissermaßen schon als Kind über sie, ohne die Bibel bereits studiert zu haben. Und so sei es auch mit der Musik geschehen. Bevor sie beispielsweise ihre 77 überlieferten Lieder aufschrieb, ohne Vorwissen, ohne vorheriges Studium, habe sie bereits konkreteste, tiefste Einblicke in die heilige Kunst bekommen. Sie schreibt: »In derselben Vision verstand ich ohne menschliche Belehrung die Schriften der Propheten, der Evangelien und anderer Heiliger und einiger Philosophen und erörterte einiges aus diesen, obgleich ich kaum Kenntnis der Wissenschaft habe, sowie die ungelehrte Frau [Jutta] mich gelehrt hat. Aber auch Gesänge und Melodien zum Lobe Gottes und der Heiligen brachte ich ohne die Belehrung eines Menschen hervor und sang sie, obgleich ich weder Neumen noch Gesang gelernt habe.«
Ein Einschnitt: Am 22. Dezember 1136 war Jutta von Sponheim gestorben. Und Hildegard wurde nun ihre legitime Nachfolgerin als Äbtissin der Nonnen von Kloster Disiboden. Hildegard hatte zu diesem Zeitpunkt das ihr vermittelte Wissen wahrscheinlich wie »verrückt« aufgesogen. Mit dem Status einer »weisen Nonne« gab sie sich aber nicht zufrieden. Im weiteren Verlauf ihres langen Lebens – sie wurde erstaunliche, gesegnete 81 Jahre alt – erarbeitete sie sich das wohl erstaunlichste »Netzwerk« des ganzen europäischen Abendlandes. Nicht nur kümmerte sie sich um den Druck und die Herausgabe ihrer verschriftlichten Visionen, Musiken und medizinischen Ideen; sie traf Bischöfe, Päpste und Kaiser (Barbarossa). Und erreichte (fast) alle ihrer Ziele.
Ab 1141 begann Hildegard, ihre göttlichen Visionen aufzuschreiben. In den nächsten zehn Jahren entstanden die erwähnten 77 Lieder sowie das Mysterienspiel Ordo virtutum, in dem Hildegard ihre spirituellen Grundideen szenisch-musikalisch zusammenfasste. Hier geht es um das große (religiöse) Ganze: Die Verführung Luzifers – die Folgen und die Läuterung, nachdem man ihm (als christlicher Mensch) vorübergehend auf den Leim gegangen ist.
Hildegard gründete Klöster, unternahm für die Zeit außergewöhnlich viele Reisen, besuchte Gelehrte hier wie dort. Und wie mehrere musikbeseelte, musikschaffende Frauen geriet sie ganz am Ende ihres Lebens noch in einen quasi existenziellen Konflikt hinein; in eine große Meinungsverschiedenheit über die liturgische Praxis mit der Mainzer Kirchenbehörde. In ihrem Konvent durfte sie zusammen mit den ihr untergebenen Nonnen nicht mehr das Stundengebet singen und nicht mehr die Eucharistie feiern. Hildegard starb am 17. September 1179 in dem von ihr ins Leben gerufenen Kloster auf dem Rupertsberg in Bingen.
Und so immens wie ihre wirkende Ausstrahlung zu Lebzeiten war, so schnell geriet sie nach ihrem Tod in Vergessenheit; ein durchaus nicht unüblicher Zustand – zumal lange vor der Erfindung des Buchdrucks. In großem Stil interessierte man sich erst wieder Ende des 19. Jahrhunderts für die große Universalgelehrte.
Hildegard von Bingen (1098–1179)
O virtus Sapientie
Barbara Stühlmeyer bemerkt, dass Hildegard von Bingen nicht nur mit religiöser, innerklösterlicher Musik zu tun hatte, sondern sicherlich auch mit außerliturgischer Musik in Berührung kam. Auch die Aufführungsgeschichte ihrer eigenen Musik sei noch im späten 20. Jahrhunderts recht wechselvoll gewesen. So ging die eine Fraktion von Interpretinnen und Interpreten davon aus, dass die in der mittelaltertypischen (Neumen-)Notationsweise überlieferten Noten Hildegards gleichförmig, jeweils gleich lang zu singen seien. Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ging man teilweise (und überzeugend) dazu über, »wichtige« Noten von »unwichtigen« zu unterscheiden; und zwar in der Weise, dass die »unwichtigen« (melismatischen) Teile schneller gesungen werden als die anderen. Ein lebendigeres Klangbild entstand; sprühender, spannender, spirituell erregter.
Hildegards O virtus Sapientie – der Text stammt selbstredend von der Schöpferin der dazugehörigen Töne – feiert die »Kraft der Weisheit« auf (bei Hildegard vier) Notenlinien; die Weisheit, die nicht nur als beschriebene »Bahn« das eigene Leben umkreist (und bereichert), sondern das ganze All erfüllt (und erforscht). Drei Flügel haben diese Weisheit, so heißt es: in der Höhe, in der Luft flattert der eine, auf der Erde müht sich kreuchend der zweite – und allüberall schwingt der dritte Flügel (als gleichsam auch der Heilige Geist).
O virtus Sapientie startet mit einer aufsteigenden, sich selbst aufrichtenden Quinte, senkt sich noch einmal zum Ton drunter, um sich »einzupegeln« – und um den fünften Ton noch intensiver zu spüren. Anschließend schüttet Hildegard von Bingen mit ausführlichen Melismen – alles noch auf dem ersten Worte: »O« – ihre Töne über uns aus, zuvor noch weiter in die Höhe langend. »O« ist am Beginn der »reine« (tonbeseelte) Ausruf, der sich als Aufruf im Raum bewegt (auch, um eventuell Müde aufzuwecken). Bei dem Wort »virtus« (»Kraft«) streift Hildegard den hier tiefsten Ton überhaupt: »kraftstrotzend« sozusagen (aber im besten, positivsten Sinne einer bodigen Erdung). Und mit der »Weisheit« (»Sapientie«) ist es eben so eine Sache: Die will erworben, will erlernt sein. Drum begegnen uns hier die komplexesten Tonfügungen. Hildegard von Bingen »malt« die Worte ins Ohr!
Die erwähnten drei (göttlichen) Flügel der Weisheit transzendieren den Menschen, machen ihn gut, glücklich – und ewig. »Lob sei dir, Weisheit, die du des Lobes würdig bist.« Hildegard von Bingens O virtus Sapientie könnte auch für einen Aufruf, für einen dringlichen Wunsch, für eine Vision stehen: Dass Weisheit, Wissen, Glück im Grunde von einem (institutionell vermittelten) Gott unabhängig sind; dass Weisheit Freiheit bedeutet. ¶
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