Das wird jetzt der heikelste Moment während dieses Mahler-Festivals am Leipziger Gewandhaus, das Trompetensolo zu Beginn der 5. Symphonie. »Nach Art der Militärfanfaren« zu spielen, Anfangston cis. Und wenn jemand denkt: »Wie kann er wissen, dass es der heikelste Moment ist, das Festival ist doch gerade mal zur Hälfte rum, 7 der 10 Symphonien werden erst noch gespielt?«, dann seien folgende Gedanken als Beweismittel angeführt:

Bereits am nur leicht fortgeschrittenen Mittag hatte einer der Mahler-Freaks, die man während eines Festivals so trifft, gesagt: »Ob der Solo-Trompeter nervös ist?« Und da hat ganz sicher nicht nur dieser Konzertbesucher schon vorab mitgefiebert, sondern es haben alle ca. 2.000 Menschen so gedacht, die abends ins Gewandhaus gehen würden, um das Koninklijk Concertgebouworkest – »die Amsterdamer« – zu hören, zu erleben. Denn jeder kennt Mahlers 5., und jeder kennt die Trompetenfanfare am Anfang, und fast jeder weiß, dass sie sehr schwer zu spielen sein muss. In die Stille des Konzertsaals hinein, Fanfarenstöße, präzise und klar; »verflixt schwer«, wie der Dirigent Jonathan Stark in seinem Blog schreibt.

Im so düsteren Saal des Gewandhauses meinte man, diese Anspannung zu spüren; keine heiteren Plaudereien von Polstersitz zu Polstersitz, sondern eine ernste, feierliche Atmosphäre, wozu auch das Motto »Res severa verum gaudium« beitrug, »Wahre Freude ist eine ernste Sache«, heute und hier besonders.

Foto © Felix Zimmermann

In wohl keiner der Mahlerschen Symphonien liegt noch vor dem ersten Schlag des Dirigenten das Ohren- und Augenmerk so sehr auf einer Person, die mit ihren Tönen ganz viel von dem vorgibt, was diese Fünfte ausmacht und weshalb sie immer wieder gespielt und angehört wird. Man kann sich ihr nicht entziehen, Schuld ist diese Trompetenstimme zu Beginn. Tü-tü-tü-tüüüü. Wenn sich da der Spieler verhaut, uff.

Naja, das erste Sforzato, der vierte Ton, die halbe Note nach der Triole, hat ein wenig gezittert – nicht gewackelt, kein Patzer –, aber doch so, dass die Anspannung bei allen und sicher auch beim Solo-Trompeter noch stieg. Aber von diesem Moment an, ab der nächsten Triole, war alles gut. Es wurde sehr gut, es wurde zum Niederknien, und aus der Ferne sah man, dass auf der gegenüberliegenden Seite der Empore auch Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons, der zwei Abende zuvor just an Mahlers Todestag die Zweite mit seinem Orchester auch sehr umjubelt gegeben hatte, mit freudiger Entschiedenheit – so hätte eine Mahlersche Spielanweisung lauten können – applaudierte.

Die Interpretation des Concertgebouw-Orchesters unter Myung-whun Chung wirkte handgemacht, und das ist sehr positiv gemeint: echt und gar nicht clean, worunter am Abend zuvor die Interpretation der Vierten mit den Münchner Philharmonikern unter Tugan Sokhiev ein wenig gelitten hatte. Der fehlte das Diabolische, das Spitze, zumal im zweiten Satz, dem Scherzo mit der um einen Ton höher gestimmten Geige. »Sehr zufahrend (wie eine Fidel)«, so wollte es Mahler, aber die Konzertmeisterin hat es zu schön gespielt. Das Lied von der Erde nach der Pause war dann tief bewegend.

Der Kritiker der Leipziger Volkszeitung lobte nach der Fünften insbesondere den Concertgebouw-Solotrompeter Miro Petkov als »atemberaubend vielfarbig«, »die grandios satten und völlig ungefährdeten Hörner, die staunenswert beweglichen Posaunen bis zur üppigen Tuba«. Der eine spanische Kollege – es waren mehrere da, Spanien scheint ein Mahler-Land zu sein – war sprachlos, genauer: Er sagte nur einen kurzen Satz: »Ese fue el climax.« Dass das hier bereits der Höhepunkt war, dessen war er sich sicher, obwohl ja erst drei Symphonien gespielt waren. Besser, großartiger würde es nicht werden können.

Das Mahler-Festival  in Leipzig am Gewandhaus hätte eigentlich schon 2021 stattfinden sollen, zum 110. Todestag des Komponisten, als Wiederholung des ersten Festivals zehn Jahre zuvor, damals war Riccardo Chailly noch als Chef in Leipzig. Alles war geplant für 2021, Spitzenorchester spielen alle Symphonien, loten den Stand der Mahler-Interpretation heute aus, wie man so schön sagt. Aber Corona kam dazwischen, das Festival musste verlegt werden.

Nun also, mit leicht veränderter Besetzung: die Wiener und Berliner Philharmoniker nicht mehr dabei, London Symphony auch nicht, Mariss Jansons, der das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks anleiten sollte, ist inzwischen verstorben. Dennoch: Ein exquisites Tableau an Orchestern haben sie nach Leipzig geholt, das offenbar von Spitzenorchestern auf Tourneen zumeist ausgelassen wird:

Das Concertgebouworkest mit der Fünften unter Myung-Whun Chung; die Vierte und Das Lied von der Erde mit den Münchner Philharmonikern, Tugan Sokhiev, Christiane Karg, Andreas Schager und Ekaterina Gubanova; Daniel Harding mit dem BR-Symphonieorchester und der Siebten, die Zehnte mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra unter Robert Treviño an Stelle der erkrankten Mirga Gražinytė-Tyla, Thielemann und die Staatskapelle aus Dresden mit der Dritten, Iván Fischer und das Budapest Festival Orchester und die Neunte, die Erste mit dem Gustav-Mahler-Jugendorchester und Daniele Gatti, die Sechste schließlich mit der Tschechischen Philharmonie und Semyon Bychkov, das Gewandhausorchester selbst mit der Zweiten und der Achten, jeweils mit Andris Nelsons. Drumherum ein Begleitprogramm, das Tiefbohrungen in die Mahlersche Welt erlaubt; darunter auch ein berührender Abend zu den von Friedrich Rückert geschriebenen und von Mahler vertonten Kindertotenliedern am Schauspielhaus. O-Töne von betroffenen Eltern aus dem Kinderhospiz »Bärenherz« in Markkleeberg bei Leipzig holten die Rückertsche Totenklage ins Heute. »Oft denk’ ich, sie sind nur ausgegangen, …«

»Der Tod singt immer mit in den Sinfonien Gustav Mahlers«, schreibt der Kritiker der LVZ über die Neunte mit Fischer. Und auch die Fünfte beginnt mit einem Trauermarsch. Der, der den Ton dafür vorgegeben hatte, stand plötzlich – noch im Frack, die Fliege locker um den Hals baumelnd – die Trompetentasche unterm Arm, inmitten der Zuhörer, die gerade erst aus dem Saal gekommen waren. Miro Petkov, der Solotrompeter des Concertgebouworkest. Hatte er sich verirrt?

Foto © Felix Zimmermann

Nein, das war geplant, er solle da gleich irgendwas erzählen, sagte er. Auch die Organisatoren werden geahnt haben, dass es sich lohnen würde, Petkov dort auf die Barlach-Ebene im oberen Foyer des Gewandhauses zu bitten, wo nach den Konzerten die »Mahler-Lounge« stattfindet, eine kleine Talkrunde. Sein Erscheinen hier machte den Auftritt des Orchesters mit ihm noch größer, weil er eine Geschichten mitbrachte, die erzählenswert ist und einen Menschen hinter diesem Wunder erkennen läßt. Petkov, 1989 geboren im bulgarischen Varna in ein Elternhaus, aus dem – zumindest hierzulande – nicht unbedingt Orchestermusikerkarrieren erwachsen.

Die Mutter, erzählt er, putzte im Dorf, der Vater fuhr einen Betonmischer. Hörbares, auch sichtbares Staunen der Anwesenden. Sowas kennen sie nicht, Klassik-Musiker stammen zumeist aus bürgerlichen Häusern. Der 11-jährige Miro wollte Trompete spielen, fing damit an, landete schon nach einem Monat auf der Dobri Hristov National Academy of the Arts in seiner Heimatstadt, setzte später das Studium in Detmold an der Hochschule für Musik fort.

Detmold, interessant, zwei Abende zuvor bei der Mahler-Lounge – diesmal im »Schumann-Eck«, was ein bisschen klingt wie eine schummrige Eckkneipe, aber eine Art Flur mit Aufenthaltsqualität auf der rückwärtigen Seite des Gewandhauses ist – zwei Abende zuvor also hatte die Mezzosopranistin Gerhild Romberger, die Urlicht-Sängerin aus der Zweiten unter Nelsons von dieser Stadt im Lippischen geschwärmt. Dort hat sie studiert, dort ist sie Professorin, dort lebt sie und kann sich wohl keinen schöneren Ort vorstellen.

Petkov wohnt dort nicht mehr, aber auch er lobt die Stadt: »Es gab dort nur zwei Kneipen, man konnte dort nichts machen, außer zu üben.« Heißt: »Ohne Detmold wäre ich nicht hier.«

ANZEIGE

Die andere Geschichte, die er erzählt, wundert ihn selbst noch viel mehr: Das Concertgebouworkest habe die Fünfte zuletzt Weihnachten gespielt und vor dem Auftritt beim Festival nur einmal geprobt. Er selbst konnte drei Monate nicht Trompete spielen und hat eine Woche die Solo-Partien geübt, voller Nervosität, wie er sagt, womit auch die mitfühlende Frage des Konzertgängers am Nachmittag beantwortet wurde. Ja, er war nervös. Die weiteren Umstände dieses Ausflugs nach Leipzig dürften auch nicht beruhigend gewesen sein: Weil es am Amsterdamer Flughafen keine Chartermaschinen gab, fuhren sie mit Bussen zwei Stunden nach Groningen und flogen von dort mit zwei Propellermaschinen nach Leipzig. Okay, über die Reisetätigkeiten großer Orchester und ihre Verkehrsmittel denken wir ein anderes Mal vertiefend nach, hier war es nun mal so. Aber vor allem: »Propellermaschinen« – wie der Pressechef des Orchesters das sagt, klingt es, als sei das wirklich ein Abenteuer gewesen.

Vielleicht aber waren das genau die Umstände, die dieses Konzert so besonders gemacht haben. Alles etwas heikel, alles etwas holprig, und dann haben sie mit viel Wagemut alles reingeworfen. Musik entsteht aus dem Moment heraus, und an diesem Abend passte alles. Perfekt, makellos, aber nicht im Sinne von clean.

Leipzig ist eine Mahler-Stadt, weil er knapp zwei Jahre – 22 Monate – dort lebte. Allerdings waren da so viele und viele auch länger – Bach, Wagner, Mendelssohn-Bartholdy, Schumann, Die Prinzen –, dass man während des Festivals den Eindruck hat, die Beziehung Mahler und Leipzig müsse ein bisschen getunt werden. Das wirkte dann manchmal so, als seien diese knapp zwei Jahre die wichtigste Epoche im Leben des Dirigenten-Komponisten gewesen. Vielleicht ein wenig übertrieben, aber prägend dürfte die Zeit schon gewesen sein. Als Zweiter Kapellmeister am Stadttheater war er der Mann im Schatten des damals schon bedeutenden Arthur Nikisch, dem Ersten Kapellmeister. Die Zeit ist gekennzeichnet von einer latenten Rivalität, »wir gehen aneinander wortlos vorüber«, schrieb Mahler. Im Schatten seiner Tätigkeit als Dirigent wird Mahler zum Komponisten, seine Ausarbeitung von Carl Maria von Webers Skizze zur Oper Die drei Pintos wird bei der Uraufführung am 20. Januar 1888 bejubelt, Mahler schreibt seinen Eltern, er sei nun »ein berühmter Mann«. An seinem früheren Wohnhaus, einem klassizistischen Kasten in der Gustav-Adolf-Straße 12 steht auf einer Tafel: »Hier schrieb er seine Erste Symphonie.«

Mahlers Wohnhaus in Leipzig in der Gustav-Adolf-Straße 12. Der Komponist lebte hier von 1887 bis 1888 und schuf Teile seiner ersten und zweiten Sinfonie. © H.-P.HaackCC BY 3.0, via Wikimedia Commons

Ein eigens für das Festival konzipierter Stadtrundgang »Mahler in Leipzig« führt an diesem Haus vorbei. Die Führung dauert zwei Stunden;  Immer wieder kommen wir an Orte, die »der Mahler« auch schon gekannt hat – oder auch »die Marion«, also die Frau vom Enkel von Carl Maria von Weber, für den Mahler Die drei Pintos bearbeitet hat. Marion war Mahlers Liebschaft in Leipzig, man kommt ihnen allen hier gefühlt sehr nahe. Am Augustusplatz unweit vom heutigen Gewandhaus, stand Mahlers Lieblingscafé, das »Français«, heute ist da ein Vapiano und man fragt sich: Wo soll, bei all den sich ausbreitenden systemgastronomischen Betrieben, noch ein sensibler Künstler wie Mahler sitzen und aus dem, was ihm durch den Kopf geht, große Werke schaffen? Da ist etwas zu Ende gegangen. Wagners Geburtshaus am Brühl steht auch nicht mehr.

Vieles greift in diesen Tagen ineinander in Leipzig. Die Stadt hat fast 600.000 Einwohner, und ist doch so überschaubar, dass man immer wieder die gleichen Leute sieht, Mahleristen unter sich. Man ist allerdings auch in einem kleinen Gebiet unterwegs; grob gesagt zwischen Gustav-Adolf-Straße 12, Mahlers Wohnhaus, als Ort zum Huldigen, und dem Gewandhaus als Ort des unmittelbaren Erlebens.

Der, der am Tag zuvor bei der Vierten mit den Münchnern im Trachtenjanker im Zuschauerraum saß, sitzt nun im Festsaal des Alten Rathauses im buntkarierten Kurzarmhemd und hört – nein, jetzt ist er eingenickt – also hört im Moment nicht zu, was der Musikwissenschaftler Walter Werbeck über »Mahler und die Moderne« berichtet. Man sah Gerhild Romberger auf dem Weg zur Probe der Zweiten ins Gewandhaus durch die Grimmaische Straße flanieren und dann ein paar Tage später Andreas Schager, den Tenor aus dem Lied der Erde, wie er sich ein Sakko kaufte. Und immer wieder tauchten die violetten, kugeligen Köpfe des Zierlauchs – Allium – in der Innenstadt auf, diese langstieligen Schnittblumen, die gerade in Mode sind und die jeder Vortragende und alle Musikerinnen und Musiker der Kammerkonzerte im Schlussapplaus überreicht bekamen.

Abschluss eines Kammermusikabends mit Zierlauch: Am 20. Mai 2023 spielten Frank-Michael Erben (Violine), Yulianna Avdeeva (Klavier), Anton Jivaev (Viola) und Arne-Christian Pelz (Violoncello) Werke von Mahler, Schnittke und Brahms • Foto © Christian Rothe

Große Stärke dieses Festivals überhaupt sind die vielen Verknüpfungen: Am Vormittag des einen Tages die Vierte in der Kammermusikfassung von Klaus Simon, tags darauf die Vierte mit den Münchnern in Groß. Ganz anders hört man sie dann, nach dieser Kammermusikfassung als Destillat, transparent und angeschärft. Andersrum funktionierte es aber auch: Am einen Abend die Zweite im vollen Ornat mit Nelsons, spätabends um elf – nach der Vierten – mit den Münchnern noch schnell zur etwas abseitig gelegenen Philippuskirche, um dort die Zweite erneut zu hören, nun aber in der Kammermusikfassung von Bruno Walter für zwei Klaviere, Soli, Chor und Flügelhorn/Trompete. Sagenhaftes Spiel der Pianisten, die hier ja quasi den Part eines großen Orchesters übernehmen, toller Chor, wunderbare Solistinnen und aus der Ferne das Flügelhorn. Interessant ist diese Version, weil Bruno Walter enger Mahler-Mitarbeiter war und entsprechend nah dran; in Walters Manuskript finden sich Anmerkungen und Korrekturen von Mahler selbst. Verdiente Zierlauche auch hier wieder, spätnachts in der Philippuskirche.

Nachtkonzert mit Mahlers 2. Sinfonie (Bearbeitung nach Bruno Walter für zwei Klaviere, Soli, Chor und Flügelhorn/Trompete) in der Leipziger Philippuskirche • Foto © Christian Rothe

Eine andere Begleitung bekam die Fünfte: Zwei Tage vor dem Konzert mit dem Concertgebouw ermöglichte ein Vortrag des Leipziger Bach-Forschers Peter Wollny einen Einblick in Mahlers Handexemplar der alten Bach-Ausgabe, in Leipzig erschienen zwischen 1851 und 1900. 59 Bände mit Notizen Mahlers hat das Bach-Archiv vor zwei Jahren aus Privatbesitz erworben. Andächtig stand man dann also vor den Büchern, die wohl neben den Werken Kants und Goethes im Komponierhäuschen in Maiernigg lagen, als Mahler dort die Fünfte komponierte. Mahler-Exegeten führen den stilistischen Wandel von der Vierten zur Fünften auf die Auseinandersetzung Mahlers mit Bach zurück, polyphone Satztechniken, kontrapunktische Entwicklungen, fugenartige Abschnitte im Schlusssatz.

Mahler auf engstem Raum in kurzer Zeit. Und beim Frühstück am Abreisetag in einem Straßencafé nahe des Schauspielhauses sieht man Menschen mit Geigenkästen auf dem Rücken gen Gewandhaus radeln. Aha, da ist gleich die Achte mit Nelsons, die man leider verpassen wird. Und schon beneidet man den Schirmmützenträger aus Hannover wieder, der noch bleibt und alle Symphonien hören wird. Immerhin stehen zu Hause bei der Ankunft langstielige Zierlauche in der Vase. Als wäre man doch mehr Teil des Festivals gewesen, als nur Zuhörer und Zuschauer. ¶

Felix Zimmermann ist Redakteur der wochentaz in Berlin und lebt in Oldenburg. Montags hat er seit dem Sommer Trompetenunterricht. Sein Ziel: das Posthornsolo aus Mahlers 3. Symphonie spielen können.