Es gibt in der Klassikwelt ein Ausspracheproblem. Schritt für Schritt wollen wir dem in VAN begegnen: Welche Betonung wann? Gerolltes oder geschütteltes »R«? Korrekter kehliger Klicklaut? Nach Mitsuko Uchida, Vito Žuraj, Jakub Hrůša und Maria João Pires ist heute erstmals ein Orchester an der Reihe. Ihr wisst schon. Dieses tolle Orchester aus Amsterdam.
Die meisten Orchester haben als Variante einen internationalen Namen, mit dem man auf Tour gehen kann. Die »Berliner Philharmoniker« müssten erstens den Namen »Berliner Philharmoniker:innen« tragen. Zweitens heißen sie auf Tour »Berlin Philharmonics«. Das Konzerthausorchester Berlin – früher »Berliner Sinfonie-Orchester« – tritt inzwischen international offenbar auch unter dem Namen »Konzerthausorchester Berlin« auf. Die seit fünfzehn Jahren nicht mehr subventionierten, damals von der Politik sträflich alleingelassenen Berliner Symphoniker (die jüngst, durch das Wiederaufleben eines Tagesspiegel-Artikels von 2009 anlässlich des Todes von Diego Maradona mit den Berliner Philharmonikern verwechselt wurden, siehe hier) nennen sich international »Berlin Symphony Orchestra«. Der engagierte – 2017 verstorbene – ehemalige Intendant der Berliner Symphoniker, Jochen Thärichen, verriet mir vor einigen Jahren, sein Orchester sei international seit Ende der 1960er Jahre zunächst mit dem Namen »Symphonisches Orchester Berlin« zu Gastspielen geflogen; dieser Name habe aber zu der Kalamität geführt, dass das Orchester im Ausland mit »SOB« abgekürzt wurde – und, wie wir wissen, versteht man in der »Welt der Klassik« nicht immer allzu viel Spaß. Denn »SOB« steht vulgärsprachlich im Englischen für… Nun ja. (Zudem ist zu berücksichtigen, dass die Berliner Symphoniker, welche – meiner Meinung nach, ich wiederhole mich – »Berliner Symphoniker:innen« heißen sollten, einst aus der Fusion von »Berliner Symphonischem Orchester« und »Deutschem Symphonieorchester« hervorgegangen waren. Letzteres ist freilich nicht mit dem bis heute bestehenden »Deutschen Symphonie-Orchester Berlin« zu verwechseln, das zunächst »RIAS-Symphonie-Orchester« hieß, dann zum »Radio-Symphonie-Orchester Berlin« wurde, um sich ab 1993 eben »Deutsches Symphonie-Orchester Berlin« zu nennen, welches bis heute ein Teil der »Rundfunk-Orchester und -Chöre gGmbH« ist, unter anderem zusammen mit dem »Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin«, das 1925 als »Berliner Funk-Orchester« entstand.)
Wir wollen heute aber dem Royal Concertgebouw Orchestra aus Amsterdam (nicht etwa: »Royal Concertgebouw Orchestra Amsterdam«!) huldigen – und klären, wie man den Namen im deutschsprachigen Bereich aussprechen sollte. Nämlich genau so, wie es sich die Marketingabteilung des Hauses wünscht. International gilt: »Royal Concertgebouw Orchestra«. Punkt. Ende. Tot kijk!
Ja, gut. Wir neigen dazu, uns besonders international und verständig zu geben. Deshalb frug ich einfach beim Royal Concertgebouw Orchestra nach, ob man dort für uns die korrekte einheimische, also niederländische Aussprache des Orchesters aufnehmen könne:
Der musikalische Klang vom Royal Concertgebouw Orchestra gilt als legendär. Auch die Akustik des Saals – dem Concertgebouw in – ja, richtig –: Amsterdam. Dieses viele Rot jenes 1888 eingeweihten großen Raums mit 1974 Plätzen. Diese fetten roten Kordeln, die im Concertgebouw den Bühnenrand markieren oder bestimmte Bereiche zugangsbeschränken… »Die roten Kordeln klingen natürlich immer mit!« – schrieb mir eine befreundete Kollegin. Ich weiß nicht, was sie damit meint. Aber es klingt schön.
Was ist jetzt aber so »besonders« an dem Klang vom Royal Concertgebouw Orchestra? Manche rühmen die »goldene Streicherkultur« und die »diskrete Intensität der Violinen«, andere den »vollen, runden Klang«, der »den großartigen Dirigenten der vergangenen Jahre« (in diesem Falle sind wohl Riccardo Chailly – Chefdirigent von 1988 bis 2004 – und Mariss Jansons – 2004 bis 2015 – gemeint) zu verdanken wäre. Wiederum andere hören »überwältigende und stürmische Interpretationen«, die »dabei aber stets kontrolliert« blieben. »Kraftvoll und kultiviert«, »golden« (again) geradezu sei der Klang der Blechbläser, »ausgesprochen individuell« der der Holzbläser. Doch hören wir hinein!
Der »goldene Klang der Streicher« stellt sich zu Beginn der großartigen Aufnahme von Mahlers Erster mit Mariss Jansons am Pult der Amsterdamer:innen aus dem Jahr 2007 »silbern« dar. Vergleicht man diese Einspielung – die live war/ist! – mit anderen, klingen die gleißend hohen Geigen des Mahlerschen »Naturlauts« aus den F-Löchern der royalen Geigen am farbigsten, auch am »schönsten«, am feinsten. Andere Orchester machen hier eher den Eindruck eines metallenen Reibens, des fast gekratzten Festfrierens von zu hoch geflogenen Zugvögeln. Bei Jansons und dem Royal Concertgebouw Orchestra ist der Klang weder hässlich noch zu schön – und schon gar nicht zu laut.
Darunter liegen Kontrabässe, die – wiederum im Gegensatz zur aufnehmenden Konkurrenz – deutlich die differenzierte Mahlersche Dynamikanweisung umsetzen: »Pianissimo« – derweil alle anderen »Piano Pianissimo« zu spielen haben. Der heikle, fragile, herrlich unangenehme Beginn von Mahlers »Titan« braucht den Oliver Kahn (1860–1911) in uns. Und den bringen die Amsterdamer:innen mit. Das hat Substanz in den Bässen – und sanfte Radikalität, die aber tatsächlich ganz unkäsig edel schimmert, in den Violinen.
Die Kolleg:innen haben Recht. Der Klang der Amsterdamer Holzbläser ist: individuell. Mutig, solistisch; mit viel Spaß und Lebensfreude am Start. Die Holzbläser vom Royal Concertgebouw Orchestra gehen aus sich heraus, aber verraten dabei niemals ihre Nebensitzer:innen, wie an dieser imitatorischen Stelle aus dem Finale von Mahlers Fünfter (mit Riccardo Chailly, 1998) gut zu hören ist. Bei dem oberen Zielton des Fagotts entsteht sogar (womöglich ist auch eine der Geiger:innen irgendwo leicht mit dem Bogen gegengedittscht) ein Nebengeräusch, das wahrscheinlich vom Fagott selber kommt. Risiko, ja. Aus Lust am Schwein sein. Doch die anderen Tiere sollen auch mit auf die Weide (sprich: Klarinette und Oboe mit ihrem darauffolgenden Solo, das ebenfalls fein knackt). Besonders brillant dann die anschließende Holzbläser-Gemeinsamkeit; das ist erstens wahnsinnig gut zusammen – und zweitens klanglich so prickelnd und attraktiv, dass man sich einfach nur freut.
Es scheint, das Royal Concertgebouw Orchestra sei vor allem ein Klangkörper für die totale infantil-tödliche symphonische Individualisierung (sprich: Mahler) sowie für die spannungsvolle Bändigung des dahinfließenden, immer nur halberotischen Symphonie-Askese-Schinkens (gemeint ist, logo: Bruckner). Im ersten Satz von Bruckners Siebter lauern gefährliche (aber geile) Blechbläser-Auferstehungen, die mich nicht kaltlassen, mich aber auch nicht zu sehr spotzig anblasen dürfen (denn sonst wird es, und das ist Bruckner nie: komisch). Bernard Haitink führt in seiner Einspielung von 1978 die Blechbläser aus einer dieser risikoreichen Schlummerhöhlen heraus; und zwar mächtig, wuppig, an der Fortissimo-Grenze; doch eben nicht unfreiwillig too much.
Ich fasse zusammen: Vielleicht (aber nur vielleicht) besteht die Attraktivität des Klangs vom Royal Concertgebouw Orchestra aus dem Gemisch von Mut zur Gruppe (in allen Gruppen) und der Freude an der herausposaunenden Radikalität orchestraler Emotionen. Hinzu kommt ein einfach gut klingender Saal, in dem so etwas wie eine »goldene Klangkultur« prima wachsen und gedeihen kann. Über Jahrzehnte. ¶