Wenn von Diversität in der Klassik die Rede ist, dann geht es oft um ethnische Herkunft, Gender oder Alter. Noch weniger divers ist allerdings die sozioökonomische Herkunft, wie aktuelle Studien belegen.
Kaum ein Monat vergeht, in dem uns nicht eine neue Studie vor Augen führt, wie desaströs es um das Thema Bildungsgerechtigkeit in Deutschland bestellt ist. Gestern war es der ifo-Chancenmonitor. »Die entscheidenden Faktoren für die Bildungschancen von Kindern in Deutschland sind Bildung und Einkommen der Eltern«, fasste Ludger Wößmann, Leiter der Studie und des ifo-Zentrums für Bildungsökonomik, die Ergebnisse zusammen. Nur 21 Prozent der Kinder, deren Eltern beide kein Abitur haben und zusammen weniger als 2.600 Euro netto im Monat verdienen, besuchen demnach das Gymnasium. Bei Kindern, deren Eltern Abitur und ein Haushaltseinkommen von mehr als 5.500 Euro netto haben, sind es 80 Prozent. Die ungleichen Chancen beim Schulbesuch beeinflussen wiederum massiv den weiteren Lebensweg der Kinder, da das Abitur alle weiterführenden Bildungswege öffnet und somit über Berufsaussichten entscheidet. Die Studienautorinnen verweisen zudem auf Studien, die einen Zusammenhang zwischen höherer Bildung und späterem Einkommen, Lebenszufriedenheit und erwarteter Lebensdauer herstellen.

Die soziale Ungleichheit des Bildungssystems setzt sich in der musikalischen Bildung fort. Schon 2017 hatte eine Studie der Bertelsmann Stiftung gezeigt: Je höher der Bildungsstatus und das Einkommen der Eltern, desto eher sind Jugendliche musikalisch aktiv. Hat beispielsweise der Vater Abitur, verdoppelt sich die Wahrscheinlichkeit, dass auch seine Kinder Musik machen. Genau wie der Besuch des Gymnasiums – wie im ifo-Chancenmonitor ersichtlich – in beträchtlichem Maße vom Schulabschluss und Einkommen der Eltern abhängt, so besteht auch ein Zusammenhang zwischen der Schulform, die Jugendliche besuchen, und ihrer musikalischen Aktivität. Bei Jugendlichen, die nicht aufs Gymnasium gehen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie Musik machen, um 50 Prozent geringer als bei Gymnasiast:innen. Letztere starten im Vergleich zu anderen Schüler:innen als Kind im Schnitt früher mit Musik (8 Jahre im Gegensatz zu 10 Jahren), engagieren sich häufiger im Chor und Orchester der Schule (33 im Gegensatz zu 16 Prozent) und erhalten häufiger bezahlten Musikunterricht (28 im Gegensatz zu 10 Prozent).

Dass die Schere insbesondere im Bereich der klassischen Instrumental- und Gesangsausbildung noch weiter auseinandergeht, ist wenig überraschend, wenn man die finanziellen und zeitlichen Ressourcen berücksichtigt, die dafür vonseiten der Eltern aufgebracht werden müssen. Während 33 Prozent der Jugendlichen aus einkommensstärkeren Haushalten (über 30.000 Euro Netto im Jahr) bezahlten Gesangs- oder Instrumentalunterricht erhalten, sind es bei Altersgenoss:innen aus Haushalten mit niedrigem Einkommen (unter 15.000 Euro Netto im Jahr) nur 8 Prozent.

In einer ebenfalls gestern vorgelegten Studie des Musikinformationszentrums (miz) gab jede:r zweite Berufsmusizierende an, dass es ohne die finanzielle Unterstützung der Eltern nicht möglich gewesen wäre, Berufsmusiker:in zu werden. 65 Prozent berichten, während ihrer Ausbildung finanzielle Unterstützungen vonseiten der Eltern erhalten zu haben. Diese Zahlen liegen vermutlich weitaus höher, wenn man – anders als die miz-Studie – die klassische Musik und Kirchenmusik isoliert von anderen Musikrichtungen betrachtet. Denn hier ist der Einfluss des Elternhauses noch in einer anderen Hinsicht signifikant größer als bei anderen Musikgenres: Fast 70 Prozent der in diesen beiden Bereichen tätigen Berufsmusiker:innen geben an, dass auch ihre Eltern Musik gemacht haben, davon überdurchschnittlich viele beruflich. Der intergenerationale (Teufels-)Kreis schließt sich dann, wenn man berücksichtigt, dass viele Eltern wiederum nur deshalb Musik machen, weil sie selbst aus überdurchschnittlichen Einkommens- und Bildungsverhältnissen stammen. Hier spielen vermutlich auch die immer noch vorhandenen bildungsbürgerlichen Distinktionsmerkmale der »Klassik« eine Rolle – eine »instrumentale Musikausbildung« der Kinder gehört ab einem gewissen Einkommensniveau und Sozialstatus zum guten Ton und zu einer »gelingenden Erziehung«.
Die Pfadabhängigkeit verstärkt sich weiter im Bereich der Begabungs- und Elitenförderung. 2019 hatte eine Studie der Universität Paderborn gezeigt, dass 80 Prozent der Teilnehmer:innen am Wettbewerb »Jugend musiziert« später einen Hochschulabschluss gemacht haben (gegenüber weniger als 24 Prozent der Gesamtbevölkerung). Das liegt wohl eher nicht daran, dass ihnen die Musik auf wunderliche Weise besonders vorteilhafte Bildungschancen eröffnet hätte, wie die Studie zu suggerieren scheint, sondern dass die Teilnahme an »Jugend musiziert« – und die vorausgehende frühe instrumentale Förderung – durch ein bestimmtes sozioökonomisches Milieu ermöglicht wurde, das dann wiederum auch Einfluss auf die spätere Hochschulbildung hatte.
Wenn man alle Studien zusammensetzt, ergibt sich für die soziale Durchlässigkeit insbesondere in der klassischen Instrumentalausbildung ein verheerender Befund: Je höher Einkommen und Bildung der Eltern, desto wahrscheinlicher ist es, dass ein Kind ein Instrument erlernt, irgendwann einmal auf der Hochschule und dann auf der Konzertbühne landet. Die Klassik als in sich geschlossenes, homogenes sozioökonomisches und kulturelles Berufsfeld, das sich stets selbst reproduziert. »Quereinsteigenden« Musiker:innen, die aus einem klassikfernen Milieu kommen, fällt es – so berichten sie in VAN – schwer, in dieser Welt Fuß zu fassen, weil sie selbst ohne die Codes, den Habitus und die Förderprivilegien aufgewachsen sind.
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Die Vielfalt musikalischer Praxis ist groß. Eine gelungene Teilhabe an musikalischer Bildung bedeutet nicht, dass alle ein klassisches Instrument lernen oder im Chor singen müssen. Aber sie bedeutet, dass alle Kinder und Jugendlichen die Möglichkeit haben, sich einen eigenen musikalischen Weg suchen zu können, dass im Kontakt mit musikalischen Angeboten Interessen geweckt und Begabungen entdeckt werden.
In der klassischen Instrumentalausbildung findet ähnlich wie im Leistungssport ein früher Selektionsprozess statt. Wer erst in der Jugend anfängt, ein Instrument zu lernen, dem ist in den meisten Fällen eine berufliche Laufbahn versperrt, egal wie begabt er oder sie ist. Wer diesen Ausschnitt musikalischer Bildung im Wesentlichen vom Einkommens- und Bildungsniveau der Eltern determinieren lässt, verwehrt nicht nur Teilhabe, er lässt auch einen großen Teil von Talenten unentdeckt und unentwickelt.
Was also tun? Um faire Chancen für alle Kinder zu wahren, käme es zunächst einmal auf eine flächendeckende musikalische Grundversorgung in den Bildungseinrichtungen an. Nur dass allein an deutschen Grundschulen 23.000 ausgebildete Musiklehrer:innen fehlen (Stand 2020) – Tendenz steigend. Musik wird zu selten unterrichtet und zu oft von nicht dafür ausgebildeteten Lehrkräften. Dabei wäre gerade die Grundschule der Ort, an dem einerseits bereits mit der Ausbildung begonnen werden müsste, sollte eine Profi-Karriere in der klassischen Musik das Ziel sein, und an dem andererseits alle Kinder vor der Selektion nach Schulformen erreicht werden können.
»Einem ganzheitlichen schulischen Bildungs- und Erziehungsauftrag, der neben fachlicher Bildung auch die Persönlichkeitsbildung umfasst, kann der aktuelle Musikunterricht zu großen Teilen nicht mehr entsprechen«, stellte der Deutsche Musikrat gerade erst in einer Stellungnahme fest. Von seinen Forderungen – unter anderem eine bessere musikalische Qualifizierung von Erzieher:innen und Lehrer:innen, mehr Stundenkontingente für Musikunterricht und eine größere Attraktivität des (Musik-)Pädagogikstudiums – ist die Realität allerdings leider weit entfernt: Das Musikpädagogik-Studium ist, gerade mit dem Ziel Grundschullehramt, unattraktiv, weil Musik hier nur als drittes Fach neben Deutsch und Mathematik – im Studium auf sehr hohem Niveau – belegt werden kann. Wer die entsprechenden, anspruchsvollen Klausuren in Analysis und Linearer Algebra nicht besteht, kann die Ausbildung zur Grundschul-Musiklehrkraft nicht weiter fortsetzen. Der Zugang zu einem Studium dieser Fächer wird außerdem an den meisten Universitäten durch einen Numerus Clausus erschwert. Und nicht nur der Personalmangel gefährdet den Musikunterricht: Auch die (coronabedingten) Defizite der Schüler:innen in den »Hauptfächern« Deutsch und Mathematik beziehungsweise der hier vielfach diagnostizierte Nachholbedarf befeuern immer wieder die Forderung nach der Ausweitung dieser Fächer in den Stundentafeln – zu Ungunsten von Fächern wie zum Beispiel Musik.
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Eine größere Diversität in den sozialen, kulturellen und ökonomischen Backgrounds ihrer Protagonist:innen könnte der Lebendigkeit und Attraktivität der klassischen Musik ganz gut zu Gesicht stehen. Anders als in den meisten anderen Berufsfeldern gibt es in der Klassik wenig Aufsteigergeschichten. »Ich glaube, das hat eine recht abstoßende Wirkung auf Menschen, die eben nicht diesem Bildungsbürgermilieu entstammen«, sagte der Dirigent Kevin John Edusei einmal im VAN-Interview.
Die Missstände in der musikalischen Bildung bedeuten nicht, dass die »Musikkultur« stirbt, wie es manchmal kulturpessimistisch dröhnt, das beweist die Lebendigkeit vieler musikalischer Jugend- und Subkulturen. Musikalische Bildung drückt sich nicht nur in Kenntnis von Notation und tradierter Musik aus. Aber dass viele Kinder aufgrund ihrer Herkunft keine echte Chance auf eine klassische Musiker:innenlaufbahnen haben – wie auch auf eine Vielzahl anderer Berufswege –, bleibt ein ethisches, soziales und ökonomisches Problem und ein Armutszeugnis für eines der wohlhabendsten Länder der Welt. ¶