Im September gab der lettische Dirigent Andris Nelsons bekannt, dass er neben seiner Position als musikalischer Leiter des Boston Symphony Orchestra ab 2017 auch Gewandhauskapellmeister in Leipzig sein wird. Für stolze Bostoner wie mich war es schwer, da nicht ein bisschen gekränkt zu sein. Lloyd Schwartz ist Musikkritiker in Boston; 37 Jahre lang war er Musikredakteur bei der alternativen Zeitung »Boston Phoenix«, 1994 gewann er den Pulitzer Prize for Criticism. Er ist heute Senior Music Editor bei »New York Arts« und der »Berkshire Review for the Arts« Wir haben ihn angerufen und gefragt, was es mit Nelsons auf sich hat.

VAN: Andris Nelsons war medial sehr präsent in letzter Zeit. Hast du ihn bereits im Konzert gesehen, bevor er musikalischer Leiter des Boston Symphony Orchestra wurde? 

Lloyd Schwartz: Das erste Mal habe ich ihn vor einigen Jahren beim Tanglewood Festival gehört, als Teil eines Gala-Programms, über das man danach viel gesprochen hat. Er hat damals Ravels La Valse dirigiert. 

Wie war dein Eindruck? 

Es war eine sehr interessante Darbietung, ganz anders, als alles, was ich bis dato gehört hatte. Sehr detailliert, sich ständig ändernd. Ich fand es faszinierend, aber viele Leute, die ich kenne, vor allem aus dem Dunstkreis der Boston Symphony-Gemeinde, waren nicht so begeistert. Die fanden es zerfranst, merkwürdig, ihnen fehlte das große Ganze. Damals suchte man gerade einen Nachfolger für James Levine. Mein persönlicher Eindruck – der oft nicht übereinstimmt mit dem meiner Kollegen und anderer Musikliebhaber – war aber sehr positiv. 

Da dachte einer ein bisschen quer. Out of the box, ich mag diesen Ausdruck nicht (lacht), aber in diesem Fall passt er. Ich war neugierig, und mit dieser Vorstellung wurde er für mich zu einem Kandidaten für die Position der Musikalischen Leitung, auch wenn er nicht meine Nummer Eins von der Liste verdrängte: Riccardo Chailly. 

Wurde Chailly denn für die Stelle in Betracht gezogen?

Es war ziemlich klar, dass das BSO keinen Musikdirektor einstellen würde, der noch nie mit dem Orchester gespielt hatte. Chaillys erste zwei Konzerte mit dem Orchester waren schon angesetzt, aber dann musste er sie absagen. Ich glaube, er hatte etwas mit dem Herzen, und man hatte ihm von Transatlantikflügen abgeraten. Da wusste ich, das war’s mit Chailly in Boston (lacht). Man wollte James Levine aufgrund seines Gesundheitszustandes loswerden, da würde man ja keinen neuen mit gesundheitlichen Problemen einstellen, der das Orchester zudem noch nie dirigiert hatte. 

Wie hast du Nelsons dann in der Folge erlebt, nach jenem Tanglewood-Konzert?

Es gab danach ein paar Konzerte, manche besser, andere schlechter. Was bei der La Valse-Interpretation noch eine Stärke war, wirkte bei anderen Stücken manieriert, wie Mikromanagement. Mir schien, als läge da ein Problem in der grundlegenden Auffassung von Rhythmus. Die großen Musiker haben so einen nach vorne gerichteten Impuls; diese verführerische Qualität, den Zuhörer für das zu interessieren, was er im nächsten Moment hören wird. Und selbst wenn Nelsons so aussah, als würde er die Spannung steigern, als würde er – im wahrsten Sinne des Wortes – auf dem Dirigentenpult davon galoppieren, das fehlte mir. 

Hast du konkrete Beispiele? 

Vor kurzem hat er Prokofjews Filmmusik zu Alexander Newski dirigiert. Darin gibt es diese Szene, in der die deutschen Soldaten über das Eis galoppieren – und Nelsons ist galoppiert. Er hüpfte auf und ab, als würde er auf einem Spielzeugpferd reiten, und nichts passierte. Wenn man die Augen schloss, hörte sich das Orchester einfach überaus quadratisch an.  

In einer der zurückliegenden Spielzeiten dirigierte er Le Sacre du Printemps. Es war perfekt, alles total auf den Punkt; keine einzige technische Panne. Aber es war so langweilig. Gehen wir 100 Jahre zurück: Wenn Nelsons die Premiere von Le Sacre du Printemps dirigiert hätte, wäre es danach nicht zu den bekannten Tumulten gekommen – weil alle einfach nur gelangweilt gewesen wären!

Letzte Woche hast du mir von einer sehr guten Elektra geschrieben, die du mit ihm gesehen hast. Kannst du das ein bisschen ausführen?

Für mich war das wie ein großer Test. Wenn er das nicht hinbekommt, dann wäre es ein großes Scheitern gewesen. Aber er hat es hinbekommen, und wie! Das Orchester hat wunderschön gespielt, transparent, und das bei der schwierigen Partitur. Diese Woche bin ich ihm freundlicher gestimmt als je zuvor.

Kann man Nelsons mit dem vorherigen musikalischen Leiter des BSO, James Levine, vergleichen? 

Meiner Meinung nach war Levine der erste richtig gute Chefdirigent des BSO seit Kussewizki. Es gibt den Versuch, seine Leistungen zu schmälern. Levine hat sich zum Beispiel immer gesträubt, Schostakowitsch oder Bruckner zu dirigieren: Er sagte immer, er hätte nicht viel Sympathie für diese Komponisten, die Gastdirigenten sollten sich ihrer annehmen. In einigen Kritiken war also zu lesen, das Orchester habe Schostakowitsch oder Bruckner vernachlässigt, weil Levine sie nicht mochte. Dabei haben sie natürlich unterschlagen, dass zu Levines Zeiten einige Schostakowitsch-Sinfonien großartig gespielt wurden, dirigiert von Gastdirigenten. Ich muss den musikalischen Leiter nicht Werke aufführen hören, die ihn nicht interessieren. 

Kurz vor Bekanntgabe der Leipzig-Neuigkeit, vermeldete das BSO stolz, dass Schostakowitschs Sinfonien unter Nelsons’ Leitung bei der Deutschen Grammophon eingespielt würden. Das galt als großer Coup! Es gab viel Presse; das Ganze war offensichtlich ein konzertierter Versuch, Levines Image zu schwächen. 

Lass mich von meinem einzigen direkten Zusammentreffen mit Nelsons erzählen. Das war bei der Pressekonferenz, auf der verkündet wurde, dass er neuer musikalischer Leiter werden würde. Alle waren ganz aufgeregt, und meine Frage an ihn war (ich hatte ihn davor ja nur ein paar Mal am Pult erlebt), ob er die ersten und zweiten Geigen antiphonisch anordnen würde, wie Levine es gemacht hatte. Er sagte, nur wenn die Musik es wirklich erfordern würde. Und er hat es nie gemacht. 

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Man kannte Levine dafür, dass er sich auf dem Podest wenig bewegte. Nelsons hat einen dramatischeren Dirigierstil.

Es ist fast ein Markenzeichen von Nelsons, dass er mit einer Hand dirigiert, während die andere Hand auf dem Geländer hinter ihm liegt. Wäre es vielleicht besser, wenn er mit beiden Händen dirigieren würde (lacht)? Ist ein Dirigent nicht dafür da? Wir haben doch diese Fähigkeit mit den Händen zwei Dinge auf einmal zu tun.

Ich glaube, ich bin da auch ein etwas gebranntes Kind wegen Seiji Ozawa. Er machte einen großartigen Eindruck auf dem Podest, aber was das Wesen der Musik, die er präsentierte, unter der Oberfläche war, hat er nie verstanden. Fast nie. Und jetzt sehe ich eben diesen kräftigen jungen Dirigenten auf dem Podest in all diesen Drehungen. Das gefällt den Leuten im Publikum, aber scheint irgendwie nicht in einer Verbindung mit dem zu stehen, was das Wichtige an der Musik ist. Ich mache mir Sorgen, mich damit für die nächsten sechs oder sieben Jahre abfinden zu müssen.

Ist es der richtige Zeitpunkt für ihn, jetzt auch noch in Leipzig anzufangen?

… und dann Leipzig! Ich war geschockt. Es wurde natürlich bereits spekuliert, ob Nelsons von den Berliner Philharmonikern umworben gewesen war. In einem bestimmten Interview sagte er – kurz nachdem er den Vertrag mit dem BSO geschlossen hatte – sinngemäß, dass er sich noch nicht reif für Berlin fühlte.

Au!

… und da reagierten wir in Boston eben teilweise mit der Haltung: ›Interessant, du meinst also, du kannst in Boston dirigieren, der Künstlerische Leiter sein, aber für Berlin bist du nicht gut genug?‹ Das kam nicht gut an. Er erklärte damals, falsch zitiert worden zu sein.

Es hat einiges ausgelöst um das BSO herum, als sie Nelsons unter Vertrag genommen haben und dabei hat auch Levine noch einige Querschüsse abbekommen: Nach sechs Jahren sollten wir endlich wieder einen Dirigenten bekommen, der in Boston lebt – mit seiner Familie! – der sich Boston und dem Boston Symphony Orchestra ganz widmen wird. Er hat den Eröffnungsball bei einem Baseball-Spiel der Boston Red Sox geworfen. Das wird unser neuer Bostoner Dirigent!

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Und dann plötzlich Leipzig! Es hieß, er habe schon länger mit dem Gewandhausorchester verhandelt. Ich glaube nicht, dass man beim BSO davon wusste. Und jetzt sagen sie: Na ja, er wird es einfach zusammenziehen – anstatt Gastdirigent bei zehn Orchestern in ganz Europa zu sein, wird er sich dort ganz einem Orchester widmen, das ist effizienter.

… klingt ein wenig so, als wolle man es nach außen schönreden. 

So klingt es zumindest für mich. Aber was sollen sie auch anderes tun? Ich kann ihnen das nicht vorwerfen, weil es auch nicht leicht zu akzeptieren ist: dass jemand, dessen Vertrag gerade verlängert wurde, der Erste Dirigent bei einem großen europäischen Orchester wird. An mehreren Orten Gastdirigent zu sein, ist etwas anderes, man steht dann immer noch für seine home base; und plötzlich hast du zwei home bases; und dafür haben die Leute Levine angegriffen. Und heißt das jetzt automatisch, dass Nelsons es ablehnt, wenn man ihm anbietet, einmal die Berliner Philharmoniker zu dirigieren? Es wird interessant sein, zu sehen, ob er dann Nein sagt, ich wäre sehr überrascht. ¶

... ist seit 2015 Redakteur bei VAN. Sein erstes Buch, The Life and Music of Gérard Grisey: Delirium and Form, erschien 2023. Seine Texte wurden in der New York Times und anderen Medien veröffentlicht.