»Also, Gustavo, erzähl: Wie ist das Orchester? Wie läuft der Schumann? Sind sie motiviert? Wie steht es um die Disziplin? Und dann würde ich noch gerne wissen …« So überhäufte mich Mariss Jansons neulich im Wiener Musikverein direkt nach einer Probe mit »seinem« Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks mit Fragen. Die Unterhaltung, die folgte, sollte unsere letzte gewesen sein.

Mit Mariss führte man nie einfach normale Gespräche. Seine Leidenschaft und Neugierde brachten ihn dazu, Fragen über Fragen zu stellen. Das konnte manchmal fast etwas frustrierend sein, denn eigentlich war ich es doch, der von ihm so viel wissen, so viel lernen wollte. Neben ihm war ich oft etwas schüchtern, überließ es ihm, die Unterhaltung zu lenken. Ich liebte es trotzdem, ihn im Gespräch mit mir oder anderen in Action zu sehen – genauso während der Proben, im Konzert oder bei Treffen mit Solist*innen. Seine Fragen, Kommentare und Hinweise waren immer so auf den Punkt, so intelligent.

Ich erinnere mich noch gut, wie ich als Kind mit meinem Vater ein Konzert im Fernsehen sah (damals waren Übertragungen ausländischer Orchester im spanischen Fernsehen noch eine Seltenheit) und auf dem Bildschirm die Worte »Leningrader Philharmonie«, »Sacre du printemps« und »Mariss Jansons« las. Dieser Name blieb bei mir hängen, genau wie die Person: Seine Präsenz, sein Ausdruck und sein Dirigat zogen mich an wie ein starker Magnet. Ich liebte es, ihm zuzusehen.

Zehn Jahre später bekam ich dann die unglaubliche Chance, im Rahmen meines Schlagzeugstudiums mit dem Concertgebouworkest zusammenzuarbeiten und ein Traum wurde wahr: Wir spielten Schostakowitschs Siebte unter Mariss Jansons. Ich traf ihn also persönlich – und konnte meine Augen keine Sekunde von ihm abwenden: Sein Dirigat war so elegant, seine Probenarbeit so gut organisiert und detailreich, seine Art, die Musiker*innen anzusprechen so extrem höflich … Dann kam das Konzert und ich konnte es kaum glauben, dass dort dieselbe Person am Pult stand. Er strahlte so eine Energie und Leidenschaft aus, dass selbst ich, der so weit weg von ihm saß, fast Angst bekam – Angst, den wundervollen Klang des Orchesters zu ruinieren, Angst, diesen Mann, den ich so bewunderte, zu enttäuschen. Seine Präsenz transportierte eine Energie, wie ich sie nie zuvor erlebt habe und mit den Emotionen, die sie hervorrief, musste ich erst umzugehen lernen. In den Proben arbeitete Jansons unglaublich detailliert: Wann genau muss eine Hornistin atmen? Wie viele Zentimeter muss die Tür geöffnet werden, damit das Fernensemble die beste Wirkung erzielt? Welche Schlägel soll der Schlagzeuger für die Basstrommel nutzen? Im Konzert schien er dann all diese Details zu vergessen und sich ganz den tiefen Emotionen hinzugeben.

Noch näher lernten wir uns dann kennen, als ich Schlagzeuger des Concertgebouworkest wurde und er mein Chefdirigent. Die Proben und Konzerte mit ihm waren für mich die beste musikalische Ausbildung, die ich mir wünschen kann, gleichzeitig erlebte ich dort einige der emotionalsten Momente meines Lebens. Egal in welchen Sälen: Seine Proben waren jeden Tag aufs Neue interessant, er nutzte immer und überall die Gelegenheit, wirklich Musik zu machen und zu genießen, er motivierte und inspirierte uns alle. Mein Leben war ein besseres an seiner Seite – herausfordernd, ja, aber auch wunderbar erhebend. Für die Zeit, die ich mit ihm hatte, bin ich unglaublich dankbar.

Zu Anfang war er auf persönlicher Ebene nicht so leicht zugänglich, aber wenn er sich einem erstmal geöffnet hatte, war man wirklich wie ein Teil seiner Familie. Als sein Assistent nah mit ihm zusammenarbeiten zu können, seine Großzügigkeit und seine Unterstützung zu erfahren, war eins der größten Geschenke meines Lebens. Und dabei einmal mehr zu erleben, wie wichtig die Musik ihm war – sein Lebensmittelpunkt, sein Gott. Eine typische Mariss-Frage war: »Willst du es bequem haben oder willst du Musik machen?«

Er war ein großartiger Mensch, der Unsicherheiten, Zweifel, Zerbrechlichkeit kannte – und keine Angst hatte, sie zu zeigen oder über sich selbst zu lachen. Ich habe das Gefühl, dass wirklich alle ihn liebten: Musiker*innen, Orchester, Kolleg*innen, das Publikum – auf der ganzen Welt. Er wird vielen schmerzlich fehlen und gleichzeitig ein großartiges Vorbild, eine Referenz für kommende Generationen sein.

Liebster Mariss, ruhe in Frieden. ¶


Gustavo Gimeno ist seit 2015 Chefdirigent des Orchestre Philharmonique du Luxembourg und seit 2020 Musikdirektor beim Toronto Symphony Orchestra.

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