Während der Grundschulzeit war meine Lieblingsradiosendung an verregneten Novembernachmittagen die »Schlagerrallye« mit Wolfgang Roth. Die Sendung lief immer samstags von halb zwei bis drei auf WDR1. In der Schlagerrallye konnten die Hörer durch Anrufe ihre Hitparade selbst zusammenstellen. Jede Woche gab es fünf Neuvorstellungen und fünfzehn platzierte Songs. Einige waren so beliebt, dass sie Woche für Woche wieder gewählt wurden. Mike Oldfields Moonlight Shadow zum Beispiel, das die ewige Bestenliste anführt, überdauerte 74 Woche in den Top 15. Beim Hören der Schlagerrallye empfand man eine Art Komplizenschaft mit denen, die zur selben Zeit am Radio saßen und abstimmten, und haderte mit deren Musikgeschmack, wenn die eigenen Favoriten nicht wiedergewählt wurden. Dazu gehörte bei mir so ziemlich alles von den Pet Shop Boys und Depeche Mode. 

In die Poesiebücher, die auf dem Pausenhof die Runde machten, trug ich allerdings unter »Lieblingsmusik« stets »Beethoven 7. Sinfonie« ein. Was im Nachhinein spleenig klingt, erzeugte damals weitestgehend Achselzucken: Die einen hörten eben Steppenwolf, die anderen Elvis Presley, mein bester Freund schwörte auf Modern Talking. Alles schwamm sorglos auf dem großen See kindlicher Toleranz umher. 

In meiner Erinnerung fängt die wunderbare, aufreibende Welt der musikalischen Distinktion erst ein paar Jahre später an: Man hörte zunächst noch etwas schüchtern bei den Älteren mit, um sich von dort langsam vorzuarbeiten. Bis dahin aber glich man einer Leerkassette, die von den Sounds der Umgebung bespielt wurde. Bei mir war das immer vor allem »klassische« Musik. Wenn im Auto meiner Eltern aus Versehen die Frequenz von WDR 3 verrutschte, fuhr man rechts ran und drehte auf 97.0 zurück. Später war das Anlass für Auseinandersetzungen, aber als Neunjähriger auf der Rückbank des Golf II die natürlichste Sache der Welt. Meine eigentliche Hitparade waren Bach, Händel, Haydn, Mozart, Schumann. Unangefochten an der Spitze stand aber Beethovens 7. Sinfonie. Schuld daran war eine lange Autofahrt in den Alpenurlaub. Vorne lief die Karajan-Aufnahme in Dauerschleife, hinten saß ich eingepfercht zwischen Koffern, und über Gebirgsmassive, Höhen und Täler legte sich Opus 92 in A-Dur. 


Hotel New Otani Tokio, Oktober 2015, 35. Stock

30 Jahre später stehe ich im 35. Stock am Hotelfenster des Hotels New Otani in Tokio. Die Siebte läuft diesmal nicht auf Kassette, sondern in meinem Kopf, nicht vor Bergpanorama, sondern der Christbaumbeleuchtung des nächtlichen Tokio, auf das sich die Rhythmen der Sinfonie legen wie ein Graffiti. Ich bin mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin (DSO) und seinem Chefdirigenten Tugan Sokhiev unterwegs durch Südkorea und Japan. 102 Personen, 13 Tage, 22.500 zurückgelegte Kilometer, 74 Reisestunden, 8 Konzerte in 5 Städten und 2 Ländern, 8 unterschiedliche Programme, 14.000 Zuschauer, 55 Instrumentenkisten, 8 Proben, 3 Solisten, 1 freier Tag. Und viele Nächte, an denen man im schalldichten Hotelzimmer auf das Rauschen einer Stadt schaut und immer nur Beethoven hört.

Zwei Stunden zuvor hat das DSO die 7. Sinfonie im Tokioer Konzertsaal Bunka Kaikan gespielt, das erste von sechs Konzerten in Japan, und es schien, als wolle sich die Musik über das vor ihr sitzende in Reih und Glied lustig machen: Warum stillsitzen, wenn im ersten Satz der punktierte 6/8 Takt wie ein Virus in die Musik einfällt und sich darin ausbreitet wie ein ansteckendes Delirium. Wenn sich in der Coda des vierten Satzes die Streicher gegenseitig zur Ekstase pushen, während darunter die ostinaten Bässe wühlen. Wenn entschleunigt wird, auf der Insel einer Fermate oder Melodie, nur, um anschließend noch polternder Fahrt aufzunehmen. Wenn es in einem beginnt wie kochendes Wasser zu glucksen und man anfangen will zu laufen, weil man nicht weiß, wohin mit sich. Die Siebte ist Zeugin für die Kraft des Rhythmus, zu der alle Ausdrucksformen körperlicher Entgrenzung besser passen als die hermetischen Rituale des Konzertsaals. 

»Bacchanalien« nennt Tugan Sokhiev die Sinfonie, eine »Apotheose des Tanzes« nannte sie Wagner, der den Erinnerungen seines Sohnes Siegfried zufolge das Scherzo der Sinfonie in seinem letzten Venedig-Winter im Palazzo Vendramin-Calergi zu Liszts Klavierspiel getanzt haben soll. Carl Maria von Weber sah Beethoven fällig für die Irrenanstalt. Etwas bis dato, und danach vielleicht bis Strawinski unerhört-ungehörtes. Dabei fühlt sich Beethoven in diesem Außer-sich-sein der Musik einmal ganz bei sich an, nicht im Kampf gegen das Schicksal, sondern in einer Euphorie, am Leben zu sein. Kein Dirigent hat dies besser verkörpert als Carlos Kleiber, wenn er sich lächelnd, mit glühenden Augen und losgelösten Armen in den letzten Satz schmiss wie auf eine schwarze Piste in Schussfahrt, ein losgelassenes Pferd im Galopp, das man gerade noch im Zaum halten kann, aber hey, welch ein Spaß! Und jedes Mal schien Beethovens Apotheose auch bei Kleiber die Umwölkung der eigenen Seele zu vertreiben.


Tiefenschärfe

Sokhiev nimmt die rhythmischen Zellen der Sinfonie in der Einspielprobe im Bunka Kaikan auseinander – nur Streicher, dann erste und zweite Geigen, dann im halben Tempo – und setzt sie wieder zusammen. Wie ein präzis getakteter Zwölfzylinder zieht die Musik danach noch transparenter durch den leeren Saal.

»Ich mag es nicht, wenn Beethoven oberflächlich präsentiert wird, auf eine leichte ›demokratische‹ Art.«, erzählt Sokhiev später im Dirigentenzimmer, in das er sich nach Probe und Konzert schnell zurückzieht. »An Beethovens Musik ist nichts demokratisch. In seinen Partituren schreibt er crescendo, forte und dann sofort wieder piano, es gibt nicht viel Zeit für eine Abkühlung, es ist extrem, fast wie ein japanischer Samurai, und das sagt eine Menge aus.«

Dabei ist der Beethoven von DSO und Sokhiev keiner der Extreme, keiner der Geschwindigkeitsrekorde, effekthascherischen Kontraste oder manierierten Ornamente, keiner, der unbedingt etwas beweisen muss. Es geht nicht darum, Momente zu beschwören, sondern daraus die Fliehkraft für eine Spannungskurve zu ziehen. Sokhiev mag es Linien zu halten, und hasst es, wenn schnell abphrasiert wird, was den Holzbläsern oft einen langen Atem abverlangt. Die Musik gewinnt daraus einen organischen Fluss, eine »Sharpness«, wie er es nennt. »Es ist doch kein Rokoko oder Renaissance. Beethoven hatte einen scharfen Verstand, und diese Schärfe ist in allem, im Charakter, im Klang, in der Dynamik, und gleichzeitig ist es sehr tief.« 


»Er ist gut drauf gerade«

Mit der Musik ist es wie mit Menschen. Einige kann man gut um sich haben, andere nur in Dosierungen. Einige nerven mit ihrer Besserwisserei, andere mit ständigem Jammern oder mit penetranter guter Laune. Ohne manche kann man nicht leben. So wie das DSO Beethoven spielt, hat man ihn auch nach zwei Wochen sehr gern. Auch deshalb, weil die Arbeit an den drei Sinfonien im Gepäck – neben Beethovens Siebter die Eroica und Brahms Erste, ein langer work in progress ist. Fast drei Wochen, von den ersten Proben in Berlin bis zum letzten Konzert in der Suntory Hall, wird daran gefeilt. Auch Sokhiev hält die Spannung, setzt immer wieder neue Akzente, die Atmosphäre in den Proben ist ernsthaft, konzentriert, verbindlich, keine Jokes, keine Ausbrüche, keine Undiszipliniertheiten. 

»Es belebt sehr, dass er in der Probe Sachen, die er vom Konzert abgespeichert hat, reinbringt, und es dann im Konzert auch entsprechend anders macht,« sagt eine Musikerin. Anders und irgendwie besser. Was für Beethoven im Kleinen, gilt auch für das DSO im Großen: Es ist in den letzten drei Jahren mit Tugan Sokhiev besser geworden. Vielleicht gibt es keine größere Motivation für eine Zusammenarbeit, als das Bewusstsein eines solchen gemeinsamen musikalischen Wachsens. Das Orchester vertraut den Augen und Händen des Dirigenten, und der weiß, dass er sich zurücknehmen kann, weil seine Impulse sofort umgesetzt werden. 

»Die wenigen großen Dirigenten, die wissen, wie wenig man machen muss, um die Leute zum Zuhören zu bewegen und die Ohren zu öffnen, die sind nie überbewertet.« sagte Tabea Zimmermann neulich im Gespräch mit VAN. Sokhiev selbst formulierte es im Tagesspiegel-Interview einmal so: »Ich finde, im Konzert sollte der Dirigent möglichst unsichtbar sein. Denn was macht er? Er hilft dem Orchester, die musikalische Botschaft zu vermitteln. Dafür muss er nicht das optische Zentrum des Abends sein (…) Die allerwichtigste Fähigkeit des Dirigenten besteht in meinen Augen darin, dass er weiß, wann die Musiker ihn brauchen, wann er helfend eingreifen muss. Bei heiklen Übergängen beispielsweise, oder wenn sich abrupt das Tempo ändert. Dann gibt es wiederum Momente, da spielt ein Orchester besser, wenn ich mich als Dirigent zurückhalte.«

»Er kann alles zeigen.« sagt ein Musiker des DSO. »Er ist einfach so ein guter Dirigent, dass man im Konzert mit ihm immer wieder motiviert ist. Und im Moment ist er auch gut drauf, voller Energie, fordert uns, ist aber auch zufrieden und strahlt ein Vertrauen aus. Es ist eine sehr gute Atmosphäre.« 


»Nice to see you, let’s make music«

Das war vielleicht nicht selbstverständlich. Es ist die letzte große Tour des DSO mit Sokhiev als Chefdirigenten. Im Oktober 2014 wurde verkündet, dass er seinen Vertrag beim DSO nicht über die Spielzeit 2015/2016 hinaus verlängern werde, »um sich mehr auf seine Arbeit beim Bolschoi-Theater zu konzentrieren«, wie es offiziell hieß. Dort, in Moskau, ist er seit dem Januar 2014 Musikdirektor. Gleichzeitig behält er seine andere Chefdirigentenposition beim Orchestre National du Capitole de Toulouse. »Klar war das verletzend«, sagt eine Musikerin. »Wir sind ja alle nur Menschen.«

YouTube video

Als er das erste Mal nach der Absage einer Vertragsverlängerung vor das Orchester trat, gab es keine Ansprache, nur ein »Nice to see you, let’s make music«. Einige Musiker/innen hätten sich etwas mehr Kommunikation gewünscht, vielleicht Zuneigung. Auch das Management des Orchesters hat es nicht leicht mit ihm, er sieht sich als Dirigent, nicht als Vermittler oder Kommunikator. Empfänge sind ihm ein Graus, Interviews mit Journalist/innen oder Gespräche mit Honoratioren auch. Wenn es nicht um Musik geht, gleichen seine Statements oft denen von Diplomaten beim Botschaftsempfang: »Schön hier zu sein, alles gut.« Es liegt nich
t daran, dass er nicht kommunizieren kann. Aber greifbar und nahbar wird er nur in der Arbeit an Musik, mit Musiker/innen, wie zum Beispiel bei den Dirigierworkshops des DSO (Youtube-Link). Vielleicht geht das heute nicht mehr, andererseits wirkt es zwischen all den smarten Maestro- und Marketingtalenten wohltuend sympathisch.

»Dirigenten müssen sich mit Gesten ausdrücken können, nicht mit Worten«, zitiert er seinen St. Petersburger Lehrer Ilja Mussin. Sokhiev ist zwar erst 38, aber in dieser Hinsicht alte Schule. Hier der Dirigent, dort das Orchester. Er reist in Asien nicht mit dem Orchester, man sieht ihn eigentlich nur bei der Probe und im Konzert. 

Zwischen dem DSO und seinem Chefdirigenten geht es nicht kumpelig zu. Es ist eine ganz auf die Musik fokussierte Arbeitsbeziehung. Vielleicht liegt hierin aber auch eine Garantie. »Ich kann ihn auch einfach nicht mehr sehen,« sagen Orchestermusiker oft über ihre Chefdirigenten. Immer wieder dieselben Gesten, dieselben Grimassen, dieselben Showeffekte, dieselben Allüren. Sokhiev hingegen scheint nicht der Typ, der Musiker/innen und Zuhörer/innen schnell auf die Nerven geht, bei dem sich nach kurzer Zeit Abnutzungseffekte einstellen. Er ist kein Hansdampf, kein Gernegroß, kein Schwätzer, kein Grinsekopf, niemand, der sich verzettelt, wie einige andere talentierte Dirigenten seiner Generation. Orchester und Zuschauer nimmt er eher mit sanfter aber verbindlicher Bestimmtheit ein. Gleichzeitig verfügt er über genug Handwerk und Ideen, um nicht irgendwann der Hohlheit verdächtig zu werden. Er weiß, wie gut er ist, muss keine Bedürftigkeit mit Egomanie kompensieren. All das zahlt ein auf den Respekt. »Beide Seiten genießen den Endspurt.«, sagt ein Musiker.

In einer neuen Beziehung sucht man oft das, was der vorherigen fehlte. Sokhievs Nachfolger Robin Ticciati hat letzte Woche seinen Vertrag ab der Saison 2017/18 unterzeichnet, eine Woche nach der Rückkehr aus Japan. »Ein Chef zum Verlieben«, titelte der Tagesspiegel: »Es dauert keine drei Minuten, und er hat die Sympathie aller Anwesenden gewonnen. Robin Ticciati lässt seinen offenen, freundlichen Blick über die Reihen im rappelvollen Saal schweifen.« 


3. November, Suntory Hall Tokio, das letzte Konzert der Tour

Der Saal ist ähnlich wie die Berliner Philharmonie zeltartig gebaut, mit einer mittigen Bühne. Vor der Pause erspähe ich zwei leere Plätze auf dem Rang im Rücken des Orchesters. In der Pause setze ich mich um. Eine japanische Besucherin hatte dieselbe Idee, wir sitzen nun nebeneinander und kommen ins Gespräch. Sie arbeitet beim TÜV Rheinland und hat sie alle gesehen und gehört, die Größen des Klassikbetriebs, deren Schwarzweißfotographien im Foyer der Halle hängen wie eine Ahnengalerie.

Brahms‘ Erste wird nach der Pause dann zum Schlusspunkt und Höhepunkt der Tour. Ein perfekter musikalischer Moment in der Balance zwischen Anspannung und Losgelöstheit. Die Coda des letzten Satzes wird bis zur scheinbaren Endlosigkeit ausgekostet. Danach noch als Zugabe Griegs Last Spring und die Ouvertüre zu Figaros Hochzeit, dann ist auch diese Asientour zu Ende. Tugan Sokhiev gibt in den Applaus ein »Thank you« an das Orchester, von dem man auch bei diesem letzten Konzert das Gefühl hatte, es wolle seinem Chefdirigenten zeigen: Es war ein Fehler, dass du gehst. ¶

... ist Herausgeber von VAN. Er studierte Development Studies, Ethnologie und Asienwissenschaften in Berlin, Seoul, Edinburgh und an der London School of Economics und arbeitete im Anschluss zehn Jahre als Berater in Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. 2014 gründete er mit Ingmar Bornholz den VAN Verlag, wo er auch als Geschäftsführer fungiert. hartmut@van-verlag.com