Als die Wiener Philharmoniker im Oktober letzten Jahres für zwei Konzerte nach Hongkong fuhren, sollte zuhause niemand davon etwas erfahren: Das Gastspiel tauchte weder auf der Website noch den Social-Media-Kanälen des Orchesters auf. Man wolle es angesichts der politischen Situation »nicht an die große Glocke hängen«, teilte damals die Pressesprecherin mit. Anders nun bei den Lokalrivalen: Die Wiener Symphoniker brachen Ende Mai nach China auf, mit insgesamt sieben Konzerten in Beijing, Shanghai, Shenyang und Tianjin, und berichteten darüber, wie man es von Orchestern auf Asientournee gewohnt ist. Unter dem Hashtag #SYMPHONIKERONTOUR finden sich die handelsüblichen Reisebilder: begeistertes Publikum bei den Konzerten, begeisterte Orchestermitglieder auf der Chinesischen Mauer, begeisterter Dirigent Ádám Fischer in der Verbotenen Stadt. Schöne neue Welt. 

Ein paar Tage vorher erreiche ich Fischer auf dem Weg zum Flughafen in einem Wiener Café. Dafür, dass es seine erste China-Reise sein wird, klingt er am Telefon ziemlich zerknirscht. Er sei zunächst für ein Konzert mit den Symphonikern im Wiener Musikverein engagiert worden, mit der Option, das Programm auch auf Tournee anzubieten. »Ursprünglich sollte es nach Skandinavien gehen.« Warum daraus nun China geworden sei, wisse er auch nicht. »Wenn man mich gefragt hätte, was ich davon halte, bin ich mir nicht sicher, was ich geantwortet hätte.«

Als sich die Bundesregierung letzte Woche mit den chinesischen Kolleg:innen zu den 7. deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen traf, waren Atmosphäre und Begleitumstände deutlich andere als 2011, als man erstmals zusammenkam. Im Mittelpunkt stand damals der Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen, »De-Risking« und »Decoupling« waren weit weg, politische Differenzen wurden mit dem Hinweis auf »Wandel durch Handel« beiseite gewischt. Zwar ist die Volksrepublik noch immer der größte Warenhandelspartner der Bundesrepublik, aber das Bild ist ambivalenter geworden. China sei »Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale«, heißt es in der gerade verabschiedeten Nationalen Sicherheitsstrategie der Bundesregierung. Ja, was denn nun?

Auch in der Klassikwelt ist diese neue Ambivalenz zu spüren. Einst war China die »Zukunft« einer kriselnden Branche, die auf neue Absatzmärkte hoffte. Für Solist:innen und internationale Orchester wurde das Land zu einem attraktiven Gastspielort. Aber Business as usual ist spätestens nach der »Zeitenwende« auch mit China schwierig geworden. Von Musiker:innen anderer Orchester habe es auch Kritik an der China-Reise gegeben, berichtet Fischer. Einige hätten ihm gesagt, dass sie selbst auf so eine Tour wohl nicht mitgefahren wären. »Ein Stadttheater würde bei einem Gastspiel in China heute Fragen stellen«, erzählt mir Bernhard Helmich, Generalintendant am Theater Bonn. »Ich weiß nicht, wie viele Mitarbeiter ich überhaupt in ein Flugzeug bekommen würde.«

Orchester sind da weniger zimperlich. Wegen der Pandemie und der chinesischen Null-Covid-Strategie waren Reisen nach China in den letzten drei Jahren (fast) unmöglich. Jetzt läuft das Tournee-Geschäft wieder an. Für dieses Jahr hat der Veranstalter Wu Promotions, der das staatliche Monopol auf die Durchführung internationaler Gastspiele in China hält, noch Auftritte der Wiener Philharmoniker, der Sächsischen Staatskapelle Dresden, der Warschauer Philharmoniker und des Budapest Festival Orchestra angekündigt. Nach dem Mariinsky Orchestra im März touren aktuell die Sankt Petersburger Philharmoniker durchs Land. Im Herbst folgen Teodor Currentzis’ MusicAeterna und das Tschaikowsky-Symphonieorchester des Moskauer Rundfunks. China bleibt fürs erste der einzige Ort, wo sich sowohl russische als auch europäische Orchester die Klinke in die Hand geben. »Für viele Orchester sind China-Tourneen ein Business, denen scheinen die Umstände egal«, so Intendant Helmich. »Das ist wie bei einem Autohersteller, da bricht man die Geschäftsbeziehungen mit China auch nicht einfach ab.«

Im Zuge des Ukraine-Krieges wird die alte Frage wiederentdeckt, wie sehr man sich Diktaturen und denen, die mit ihnen paktieren, annähern darf. Schon Yehudi Menuhin wurde – insbesondere von vielen Jüdinnen und Juden – dafür angefeindet, dass er 1947 nach Deutschland ging, um mit Wilhelm Furtwängler aufzutreten, dessen ideologische Schnittmenge mit den Nazis für viele allzu groß war. 

Während man vor dem Angriff auf die Ukraine bei russischen Künstler:innen und Institutionen über politische Gesinnungen und Verstrickungen nonchalant hinwegsah, demonstrierte man nach dem 24. Februar 2022 plötzlich Haltung: Fast sämtliche Kulturkooperationen mit staatlichen Institutionen wurden ausgesetzt, russische Künstler:innen sollen sich öffentlich gegen den Krieg positionieren, um weiterhin hierzulande auftreten zu dürfen, Künstler:innen, die Konzerte in Russland spielen, müssen sich dafür rechtfertigen. In absehbarer Zeit werde er nicht in Russland dirigieren, sagte Dirigent Kirill Petrenko gerade beim Pressegespräch zur Saisonvorstellung der Berliner Philharmoniker. An China-Gastspielen wird aber vorerst festgehalten. Die geplante Shanghai-Residenz der Berliner Philharmoniker, die wegen Corona verschoben werden musste, soll im Juni 2024 nachgeholt werden. 

Berliner Philharmoniker-Intendantin Andrea Zietzschmann mit Cai Qi, dem Parteisekretär der Kommunistischen Partei Chinas für die Hauptstadt Peking, Gastdirigent Gustavo Dudamel und Pianist Lang Lang bei einem Empfang während der China-Tournee 2018 • Foto © Stephan Rabold

Von »roten Linien« ist derzeit oft die Rede, wenn man sich mit Orchesterdirektor:innen oder Intendant:innen über Russland und China unterhält. Wo aber verlaufen sie? Ist ein Land, das ein anderes völkerrechtswidrig angreift, anders zu bewerten als eines, das im Innern Genozid begeht und mit einem Angriffskrieg unverhohlen droht? Ist Diktatur gleich Diktatur? Und was passiert, wenn eine »rote Linie« überschritten ist? Oder sollte es überhaupt keine geben, weil Kunst anders funktionieren muss als Realpolitik, weil sie dafür da ist, den Kontakt aufrecht zu erhalten, für die Menschen zu spielen, nicht für das Regime?

Ádám Fischer hat sich entschieden, es so zu sehen. »Vielleicht mache ich mir da aber auch etwas vor«, sagt er. Aber er erinnere sich, was es für seine Familie und ihn in Ungarn bedeutet habe, als in den Sechzigerjahren auch Künstler aus dem Westen nach Budapest gekommen seien, wo man ansonsten hermetisch abgeschnitten gewesen sei. »Meine Einstellung ist, dass wir für die Menschen Musik machen. Aber man darf sich nicht korrumpieren lassen.«

Das ist allerdings so eine Sache. Künstler:innen und Orchester, die nach China fahren, müssen sich darüber im Klaren sein, dass sie mit ihren Auftritten nicht Sand, sondern Öl im Getriebe der Macht sind. Das Gastspiel der Wiener Philharmoniker wurde von der Hongkonger Kulturverwaltung in der South China Morning Post als »eine der wichtigsten Veranstaltungen anlässlich des 25. Jahrestages der Gründung der Sonderverwaltungsszone« geframet. Wenn selbst die kulturellen Aushängeschilder des Westens zu den offiziellen Feierlichkeiten anreisen, so der Subtext, dann kann es ja mit der Kritik am Vorgehen der chinesischen Zentralregierung in Hongkong nicht weit hergeholt sein.

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Während für westliche Künstler und Orchester Auftritte in China in erster Linie eine als »Kulturaustausch« getarnte Geschäfts- und Marketingmaßnahme sind, nutzen chinesische Staatsmedien die Gastspiele zur Inszenierung von China als globaler (Kultur-)Macht, der es an keinem kulturellen und materiellen Highend-Produkt mangelt. Das Ministerium für Kultur und Tourismus (MCT) habe angekündigt, nach der Pandemie wieder »Anträge für internationale kommerzielle Aufführungen in China annehmen zu wollen«, hieß es Ende März in der Global Times, dem englischsprachigen Ableger des Parteiorgans Renmin Ribao. »Dies zeigt, dass China sich dem internationalen Kulturaustausch und der Versorgung der Bevölkerung mit verschiedenen kulturellen Produkten verschrieben hat, was dem globalen Kulturmarkt sicherlich neuen Schwung verleihen wird.«

Screenshot via www.globaltimes.cn

Weniger gnädig klingt es in chinesischen Medien, wenn es darum geht, Gastspiele russischer Künstler:innen in den Kontext der geopolitischen Staatsdoktrin zu stellen. Anlässlich des jüngsten Auftritts von Valery Gergiev mit dem Mariinsky Orchestra im März 2023 ist in der Global Times zu lesen, dass dessen »Canceln« in den USA und Europa »weltweite Empörung unter Musikliebhabern ausgelöst hat, die den Westen dafür verurteilten, dass er seinen Gefühlen gegenüber unschuldigen Menschen aus Russland freien Lauf lässt«. Der Westen nutze seine eigene Doppelmoral, »um antirussische Gefühle gegenüber unschuldigen russischen Musikern zu schüren und sie zu zwingen, ihr Mutterland zu verurteilen«, hieß es schon im März 2022 in einem Kommentar. Es sei »brutal und barbarisch«, jemanden aufzufordern, »sein eigenes Mutterland und seine Regierung öffentlich zu verurteilen«, ist an anderer Stelle zu lesen. Westliche Medien und Politiker würden eine anti-russische Stimmung schüren und hätten deshalb kein Interesse daran, ihr Publikum über die »Zurückhaltung zu informieren, die die russischen Truppen beim Vorgehen in der Ukraine an den Tag legen.« 

Die Ankündigung vom Auftritt Gergievs fiel zeitlich zusammen mit dem Treffen von Wladimir Putin und Xi Jinping in Moskau und der Verabschiedung einer »Strategischen Partnerschaft für eine neue Ära«. Dass dabei auch »Soft Power«-Faktoren ihren Beitrag leisten, weiß niemand besser als Gergiev, der in Putins Oligarchie seit jeher so etwas wie der kulturelle Arm ist: Zu Beginn der vier ausverkauften Konzerte in China spielten er und sein Orchester die Ode to the Red Flag (1965), ein Lied, das die Machtübernahme der Kommunistischen Partei in China feiert.

YouTube Video

Bei Gastspielen westlicher Orchester muss die Politik hingegen draußen bleiben. Dafür wird von chinesischer Seite schon im Vorfeld Sorge getragen. Zwei deutsche Orchestermanager bestätigen gegenüber VAN, dass man sich bei Gastspielen in China vertraglich verpflichtet habe, sich nicht oder nur neutral zu politischen und religiösen Fragen zu äußern. Programme müssten vorher »abgenommen« und religiöse Werke wie das Deutsche Requiem von Brahms offiziell genehmigt werden, was bei den betreffenden Orchester in einem Fall nicht erfolgt sei. (Bei Gastspielen westlicher Theatergruppen in China müssen die Stücktexte ebenfalls vorher übersetzt und vorgelegt werden. Die Inszenierung kollidiert dann unter Umständen trotzdem mit der chinesischen Zensur, wie 2018 beim abgebrochenen Gastspiel der Berliner Schaubühne.) »Es ist ziemlich sicher, dass China keine Künstler einladen wird, die sich gegen den Ukraine-Krieg aussprechen oder Aufführungen mit Antikriegsthemen veranstalten«, wird Zhang Xin, Professor für internationale Beziehungen an der Shanghaier East China Normal University, in der South China Morning Post zitiert

Wer sich einer Diktatur nähert, der gibt auch die Kontrolle aus der Hand. Oder er diktiert seine eigenen Bedingungen: Yehudi Menuhin trat 1950 während der Apartheid in Südafrika auf – unter dem Vorbehalt, dort auch Konzerte für Schwarze Afrikaner spielen zu dürfen, was er dann auch trotz Strafandrohung tat. Aber welcher Künstler, welches Orchester würde sich heute so etwas trauen? 

Der einfachste Weg wäre, entweder Scheuklappen aufzusetzen oder den Austausch ganz einzustellen. So wird man allerdings auch der Komplexität der Wirklichkeit am wenigsten gerecht. Wer die Trennung von Kunst und Politik propagiert,bleibt naiv gegenüber Instrumentalisierungen der Macht. Wer lupenreine Gesinnung zur Bedingung macht, muss sich fragen, wer es bei genauerem Hinsehen überhaupt noch über die Latte schafft. Was ist mit Auftritten in der Türkei, den Vereinigten Arabischen Emiraten – oder in Ungarn? Dort sei es in vielerlei Hinsicht ähnlich schlimm wie in China, meint Ádám Fischer. Er streite sich oft mit seinem Freund András Schiff darüber, ob man dort auftreten solle oder nicht. 

Es gelte, so formulierte es Außenministerin Annalena Baerbock letzte Woche bei der Vorstellung der Nationalen Sicherheitsstrategie, »aus dem Schwarz-Weiß-Denken ein bisschen auszubrechen, weil die Welt nun einmal so ist, wie sie ist. Sie ist megakomplex, und auf manche Dinge gibt es eben keine einfachen Antworten.« Wenn selbst einige Politiker:innen verstanden haben, dass man angesichts dieser Komplexität nicht schnelle Gewissheit vortäuschen muss, dann wäre das auch von Kulturinstitutionen nicht zu viel verlangt. Denn wo, wenn nicht in der Kunst, sind Ambivalenz und Ambiguität zuhause? Eine richtige Debatte darüber, was Kulturaustausch – nicht nur mit China – kann und bringen soll, findet aber bisher nirgends statt. »Von VW erwartet man, dass sie sich kritisch mit den Arbeitsbedingungen in Xinjiang auseinandersetzen, Bundeskanzler Scholz muss einen Fragenkatalog zur Menschenrechtslage in China beantworten, aber einige Orchester machen einfach weiter mit dem Tagesgeschäft«, meint Intendant Helmich. Wenn man heute nach China fahren wolle, bräuchte es andere Formate, in die auch das Publikum eingebunden sei, Workshops, dialogische Veranstaltungen, ein Begleitprogramm, vielleicht Gegenbesuche. Irgendeine Form der Kommunikation. »Aber ich habe heute gar keine Hoffnung mehr, dass ein Gastspiel in China jenseits des Geschäfts eine aufklärerische, informative Wirkung haben könnte.«

Ihn habe beeindruckt, dass die Leute zu ihm gesagt hätten, wie glücklich sie wären, dass wir gekommen seien, erzählt mir Ádám Fischer zwei Wochen nach seiner Rückkehr aus China. »Ich will mir einbilden, dass das der Sinn der Kunst ist, die Leute für kurze Zeit glücklich und vergessen zu machen, was um sie herum passiert.« Gleichzeitig sei er sich bewusst darüber, dass ihm in China jede Menge »potemkinscher Dörfer« vorgesetzt worden seien. Schon vor seiner Reise nach China habe er geplant, den Menschenrechtspreis der Tonhalle Düsseldorf nächstes Jahr einer Person oder Institution zu verleihen, die für die Rechte der Tibeter oder Uiguren kämpfen. Sein erster China-Besuch könnte damit auch sein letzter gewesen sein: Eine »Einmischung in innere Angelegenheiten« vergisst und verzeiht das chinesische Regime selten. Bei den Wiener Philharmonikern setzt man deshalb lieber weiterhin auf Leisetreterei: Ende Oktober fährt man wieder nach China, Südkorea und Japan. Die Auftritte in China sucht man im offiziellen Konzertkalender allerdings vergebens. ¶

... ist Herausgeber von VAN. Er studierte Development Studies, Ethnologie und Asienwissenschaften in Berlin, Seoul, Edinburgh und an der London School of Economics und arbeitete im Anschluss zehn Jahre als Berater in Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. 2014 gründete er mit Ingmar Bornholz den VAN Verlag, wo er auch als Geschäftsführer fungiert. hartmut@van-verlag.com

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